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Neue Westfälische , 14.06.2013 :

Zschäpe-Briefe in Bielefeld nur durch Zufall entdeckt / Behörden streiten um Schuld / Mehr als zwei Dutzend Schreiben an Neonazi

Von Hubertus Gärtner

Bielefeld. Die Briefkontakte zwischen der Hauptangeklagten im Münchner NSU-Prozess, Beate Zschäpe, und dem aus Dortmund stammenden Neonazi Robin Sch. (29) hatten ein viel größeres Ausmaß, als bislang bekannt geworden ist. Sie sind nach Informationen dieser Zeitung auch nur durch einen Zufall in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne aufgefallen.

"Das Ganze wird ein parlamentarisches Nachspiel haben", sagte der FDP-Landtagsabgeordnete Kai Abruszat. Auch die CDU fordert Aufklärung. "Der Vorgang ist bemerkenswert und wirft Fragen auf." Man erwarte im "im nächsten Rechtsausschuss einen Bericht des Justizministers dazu", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Peter Biesenbach. "Besonders interessiert uns die Frage, ob der Briefverkehr überwacht wurde und seit wann."

Alle Behörden hüllen sich in Schweigen. Die Briefkontrolle bei Gefangenen sei "eine Angelegenheit der Justiz", sagte ein Sprecher des NRW-Innenministeriums, das für den Verfassungsschutz zuständig ist. Ein Sprecher des NRW-Justizministeriums verwies auf die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe. Deren Arbeit wolle man "nicht kommentieren", sagte er.

Zu Briefwechseln von Untersuchungsgefangenen könne man wegen des Persönlichkeitsschutzes "grundsätzlich nichts sagen", betonte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft. Die Karlsruher Behörde war damit beauftragt, die Briefkontakte der mutmaßlichen NSU-Terroristin zu kontrollieren. Nur in außergewöhnlichen Fällen, etwa wenn darin zu Straftaten aufgerufen wird, darf die Post von Untersuchungshäftlingen aufgehalten werden. Nach Medienberichten war Zschäpe zunächst in der JVA Köln in U-Haft. Dann wurde sie nach München verlegt.

Wie diese Zeitung aus Sicherheitskreisen erfuhr, hat der Dortmunder Neonazi Robin Sch. (29) in den letzten Monaten mehr als zwei Dutzend Briefe und Postkarten von Beate Zschäpe erhalten. Sch. war am 26. Februar von der Justizvollzugsanstalt in Geldern (JVA) in die JVA Bielefeld-Senne in den offenen Vollzug verlegt worden. Wie berichtet, hatte der Neonazi im Februar 2007 in Dortmund bei einem Raubüberfall einen Tunesier (60) niedergeschossen. Er wurde deshalb zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Vor Gericht hatte Sch. sein Opfer noch als "Eselstreiber" verhöhnt.

Die Vollstreckungsbehörden in NRW glaubten, dass der Neonazi geläutert sei. Das war aber wohl ein Irrtum. Am 8. März entdeckte eine aufmerksame Mitarbeiterin der Poststelle in der JVA-Senne zufällig einen Brief, der den Absender von Beate Zschäpe trug und an Robin Sch. adressiert war. In der JVA Senne findet eine Postkontrolle nach Angaben eines Sprechers "nur in Ausnahmefällen" statt, weil sich die meisten Gefangenen tagsüber ohnehin frei bewegen können. Der erste entdeckte Zschäpe-Brief brachte Ermittlungen ins Rollen. Danach wurden auch Schreiben von Robin Sch. an Zschäpe entdeckt. Der Neonazi soll in den Briefen die NSU-Mordserie mit ideologischen Gründen gerechtfertigt haben.

Die JVA Senne hatte die Dortmunder Polizei und den NRW-Verfassungsschutz informiert. Die NRW-Behörden sind verärgert, weil die Bundesanwaltschaft Informationen nicht weitergegeben habe. Offizielle Stellungnahmen gab es dazu aber nicht.

Info / Aussage verweigert

Beate Zschäpe (Jahrgang 1975) wuchs in Jena auf.

Anfang 1998 tauchte sie mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ab.

Seit dem 8. November 2011 befindet sich Zschäpe in Untersuchungshaft. Am 8. November 2012 erhob die Bundesanwaltschaft Anklage.

Im NSU-Prozess verweigert Beate Zschäpe nach wie vor die Aussage.

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Neue Westfälische, 13.06.2013:

Zschäpe-Briefe an Häftling in Bielefeld abgefangen / Postüberwachung bei mutmaßlicher Rechtsterroristin offenbar lückenhaft

Von Hubertus Gärtner

Bielefeld. Zwischen der Hauptangeklagten im Münchner NSU-Prozess, Beate Zschäpe, und einem Neonazi, der in einem Bielefelder Gefängnis sitzt, hat es in den vergangenen Monaten einen umfangreichen Briefwechsel mit gegenseitigen Durchhalteparolen gegeben. Wie aus Sicherheitskreisen zu erfahren war, wurden mehrere Schriftstücke gefunden. Wegen der neuerlichen Überwachungspannen gibt es nun Streit und Vorwürfe auf höchster Ebene.

Das NRW-Justizministerium hüllte sich zu dem Fall in Schweigen. "Auch für Beate Zschäpe gilt das Postgeheimnis" - mehr wollte ein Sprecher auf Anfrage nicht sagen. Nach Recherchen dieser Zeitung hat Zschäpe über einen längeren Zeitraum aus der Untersuchungshaft heraus Briefkontakt mit Robin Sch. (29) unterhalten. In der rechtsradikalen Szene ist Sch. kein Unbekannter. Er hat bereits ein schweres Verbrechen begangen. Am 2. Februar 2007 hatte er mit einem gleichgesinnten Komplizen, der seinerzeit vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz als V-Mann geführt wurde, in Dortmund einen Supermarkt überfallen und dabei um ein Haar einen Tunesier (60) erschossen. Das Opfer wurde von drei Kugeln getroffen, sein Überleben grenzte an ein Wunder.

Einige Monate später wurde Robin Sch. wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vom Dortmunder Landgericht zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Einen großen Teil seiner Haftzeit verbüßte der Neonazi in den Justizvollzugsanstalten (JVAs) Hagen und Geldern. Vor einigen Monaten wurde er in die JVA Bielefeld-Senne verlegt, wo er sich derzeit im offenen Vollzug befindet.

Zwischen Robin Sch. und Beate Zschäpe soll es zu einem regen brieflichen Austausch gekommen sein, der möglicherweise schon begann, als Sch. noch in Geldern einsaß. In der JVA Bielefeld-Senne wurde unter anderen ein 30 Seiten langes Schreiben von Zschäpe abgefangen, in dem die mutmaßliche Topterroristin persönliche Sachverhalte beschreibt und ihre Zweifel an einem fairen Prozess gegen sie äußert. Auch der Bundesinnenminister wird darin von Zschäpe kritisiert. Robin Sch. soll Zschäpe in weiteren Briefen seine Solidarität bekundet und sie zum Durchhalten aufgefordert haben.

Uwe Nelle-Cornelsen, Leiter der JVA Bielefeld-Senne, wollte sich zu dem Sachverhalt auf Anfrage nicht äußern. Er verwies auf das NRW-Justizministerium. Wie aus anderen Quellen zu erfahren war, haben die Briefe zwischen Zschäpe und Robin Sch. bereits zu heftigem Streit zwischen Verfassungsschützern und der Bundesanwaltschaft geführt. Die Bundesanwaltschaft ist für die Postüberwachung bei Zschäpe zuständig. Möglicherweise hat die Behörde versagt. Denkbar ist allerdings auch, dass der Verfassungsschutz alte Kontakte zwischen der rechtsradikalen Szene in Dortmund und dem NSU übersehen hat. Dann wäre das braune Terror-Netzwerk noch größer als bisher angenommen.

Info / Gute Quote in OWL

Wurden im Jahr 2011 in OWL noch 399 politisch motivierte Straftaten registriert, so sank ihre Zahl 2012 auf 326.

Das entspricht einem Rückgang um 18,3 Prozent, weit über dem Landesdurchschnitt (5,4 Prozent).

Die Aufklärungsquote ist von 27,8 Prozent auf 35,6 Prozent gestiegen.

Bildunterschrift: Sucht Kontakt: Die NSU-Terroristin Beate Zschäpe.

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Neue Westfälische, 11. April 2013:

NRW überprüft Gefängnisse / Verdacht auf Neonazi-Netzwerk

Düsseldorf (dpa/gär). Die Justiz in Nordrhein-Westfalen prüft, ob das in Hessen aufgeflogene rechtsradikale Netzwerk auch in NRW-Gefängnissen aktiv ist. An alle Gefängnisse und Staatsanwaltschaften des Landes seien Fragen dazu herausgegangen, sagte ein Sprecher des NRW-Justizministeriums in Düsseldorf. Einen Hinweis aus Hessen auf ein strukturelles Problem in NRW gebe es bislang nicht.

Ein besonderes Augenmerk hat die NRW-Justiz auf etwaige Kontakte des Netzwerks zur mutmaßlichen NSU-Terroristin Beate Zschäpe. "Wir prüfen derzeit, ob jemand aus diesem Umfeld während ihrer U-Haftzeit in Köln Kontakt zu ihr aufgenommen haben könnte", sagte Justizsprecher Peter Marchlewski.

Zschäpes Name und die Anschrift der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf standen auf einer Liste, die in der Zelle eines Neonazis im Gefängnis Hünfeld, einer teilprivatisierten Haftanstalt in Osthessen, gefunden wurde. Das berichtete Hessens Justizminister Jörg-Uwe Hahn im Justizausschuss des Wiesbadener Landtags. Es gab zunächst keine Angaben dazu, ob tatsächlich Post an Zschäpe gegangen ist. Zschäpe hatte in Köln-Ossendorf eingesessen, bevor sie in die Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim verlegt wurde.

Offene rechtsextreme Strukturen seien in den 37 NRW-Gefängnissen nicht bekannt, sagte Marchlewski. "Wir haben einen sehr multikulturellen Strafvollzug mit 110 verschiedenen Nationalitäten." Ein solches Engagement könne für rechtsradikale Gefangene daher schnell gefährlich werden. Diese Einschätzung teilt auch Robert Dammann, Leiter der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld-Brackwede, wo etwa 480 Gefangene im geschlossenen Vollzug untergebracht sind. Einige davon hätten einen rechtsradikalen Hintergrund. Es gebe aber "keine Anhaltspunkte" dafür, dass diese aus der Haftanstalt heraus ein Netzwerk aufgebaut hätten oder sich an einem solchen aktiv beteiligen würden.

Wie bei anderen Häftlingen im geschlossenen Vollzug werde auch bei solchen mit rechter Gesinnung der Briefverkehr überwacht. "Jeder Brief, den sie von draußen erhalten, wird von uns ebenfalls gelesen", sagte Dammann. Auch bei genehmigten Telefonkontakten sei stets ein JVA-Mitarbeiter zugegen. Manchmal gelinge es jedoch, Handys in ihre Zellen zu schmuggeln. Häftlingen mit rechter Gesinnung "weht bei uns starker Wind entgegen. Sie halten sich daher mit ihrer Meinung zurück", sagte Friedrich Waldmann, Leiter der JVA Herford, wo etwa 250 zumeist jugendliche Täter untergebracht sind.

Der hessische Justizminister Jörg-Uwe Hahn hatte bestätigt, dass in den letzten Wochen Gefängniszellen durchsucht und Post überprüft worden waren. Es habe eine verschlüsselte Kommunikation in der Post von Gefangenen gegeben, um Kontakt von hessischen Justizvollzugsanstalten in Gefängnisse anderer Bundesländer aufzunehmen. Dabei gehe es um Personen, die dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet werden könnten.

Die Bundesregierung hatte 2011 den rechtsextremen Gefangenen-Hilfsverein HNG mit 600 Mitgliedern verboten. Er war von NRW aus gesteuert worden und hatte inhaftierte Rechtsextremisten finanziell und ideell unterstützt. Die HNG war auch in einigen Haftanstalten in OWL aktiv. Geprüft wird nun auch, ob die Aktivitäten fortgeführt wurden.

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redok, 5. September 2007:

Neonazi-V-Mann als Anstifter von Gewaltverbrechen?

Dortmund. Ein Neonazi aus der Dortmunder Rechtsaußen-Szene soll einen Kumpanen zu einem Überfall auf einen Supermarkt angestiftet und ihm dafür eine Waffe besorgt haben. Der Fall beschäftigt mittlerweile die Landespolitik, denn der vermutliche Anstifter und Waffenlieferant war V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes.

An einem Freitag Abend im Februar schließt das Verkaufspersonal den Plus-Markt in Dortmund-Brechten. Um 20 Uhr ist der letzte Kunde noch an der Kasse; eine Verkäuferin öffnet dem 59-jährigen Mustapha R. die Tür. Da drängt sich von außen ein maskierter Mann dazwischen, stößt Mustapha R. mit vorgehaltener Waffe zurück in den Laden und fordert Geld. Doch das Personal flüchtet in einen Hinterraum - hier ist nichts mehr zu holen. Der schlaksige Räuber zieht Mustapha R. vor die Tür und fordert dessen Bargeld. Vier Euro hat Mustapha R. noch in der Geldbörse, aus der ein Schlüssel zu Boden fällt. Der Räuber schaut herunter, Mustapha R. handelt: er reißt dem Täter Maske und Mütze vom Kopf. Schüsse fallen, drei Kugeln treffen Mustapha R. ins Bein, die vierte durchschlägt seinen Arm und die Lunge, verfehlt nur um Millimeter eine Hauptschlagader. Der Täter flüchtet, lässt seine Mütze liegen Mit einer Notoperation wird das Leben des aus Tunesien stammenden Mustapha R. gerettet. Schon am Wochenende wird der 22-jährige Robin Sch. als Tatverdächtiger verhaftet.

Sechs Monate später beginnt vor dem Schwurgericht der Prozess. Der Angeklagte schweigt zu den Vorwürfen, obwohl Zeugenaussagen wie auch DNA-Spuren an der Mütze ihn schwer belasten. Seiner Freundin hatte er am 2. Februar eine SMS geschickt: "Sage bitte niemanden etwas, wenn du morgen die Zeitung liest." In der Untersuchungshaft hatte er in einem Kassiber sein Opfer als "Eselstreiber" verhöhnt, während des Prozesses findet er kein Wort der Entschuldigung.

Dann findet der Verteidiger des mittlerweile 23-Jährigen, der Dortmunder Szene-Anwalt André Picker, jedoch Brisantes in den Ermittlungsakten: sein Mandant wurde von der Bielefelder Polizei abgehört. Der Telefon-Lauschangriff galt dem "besten Freund" von Robin Sch., dem 27-jährigen Sebastian Seemann aus Lünen, wegen des Verdachts des Rauschgifthandels.

Die lauschenden Polizisten aus Ostwestfalen erwartete eine Überraschung, denn Seemann telefonierte nicht nur mit einschlägiger Kundschaft, sondern auch mit dem nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz. Der Geheimdienst hatte Seemann bereits vor einiger Zeit als V-Mann angeheuert, denn der beschäftigte sich nicht nur mit Rauschgift, Waffenhandel und Zuhälterei, sondern gehörte auch der Neonazi-Szene im Raum Dortmund an - ebenso wie der jüngere Robin Sch.

Geständnis und Beschuldigung

Der Räuber fühlte sich verraten und verkauft vom vermeintlichen Freund und brach sein Schweigen vor Gericht. Er gestand die Tat, schob aber die Hauptschuld auf den Spitzel: "Er hat mir damals die Waffe in die Hand gedrückt und mich losgeschickt." Sein Kumpel Sebastian brauchte dringend Geld, und da sei er eben losgezogen. Tatsächlich soll Robin Sch. als Kurier für den Rauschgifthändler Sebastian Seemann bei einem Kokain-Deal mit Russlanddeutschen in Ostwestfalen um 17.000 Euro geprellt worden sein. Dieses Geld sollte Robin Sch. seinem "Freund" nun zurückzahlen. Mit seiner politischen Gesinnung habe das nichts zu tun, beteuerte Robin Sch.

Eben jene Zugehörigkeit zur Neonazi-Szene hatte Robin Sch. selbst schon für einen Geheimdienst interessant gemacht: Während seiner Bundeswehr-Zeit wollte ihn der Militärische Abschirmdienst (MAD) rekrutieren, um seine Brechtener Kumpane um die Nazi-Rockband Oidoxie zu bespitzeln. Das habe er jedoch abgelehnt und sich "für die Freundschaft entschieden", ebenso wie bei dem Supermarkt-Überfall für seinen Kameraden Sebastian.

Am 28. August sprach das Gericht das Urteil: Acht Jahre Haft wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung für Robin Sch. Im Gerichtssaal saßen einige Zuhörer aus der Nazi-Szene, die offenbar einen Auftritt des Spitzels Sebastian Seemann erwarteten. Doch der saß selbst schon seit zwei Wochen hinter Gittern: wegen seiner Rauschgiftgeschäfte war er von einem Sondereinsatzkommando festgenommen worden, in seiner Wohnung soll ein großes Arsenal scharfer Waffen gefunden worden sein.

Nazi-Rockkonzerte und Waffenhandel

Sebastian Seemann, der seit etwa drei Jahren als V-Mann für den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz tätig ist, war vor allem in der "erlebnisorientierten" und gewaltbereiten Neonazi-Szene zu Hause. Nahe bei Dortmund betrieb er in Lünen eine Szenekneipe namens "Störtebeker". Sein Strafregister umfasst um die 20 Einträge: Verstöße gegen das Waffengesetz, Körperverletzung, Nötigung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Handel mit Betäubungsmitteln.

In den vergangenen Jahren hatte Seemann (E-Mail-Adresse: "seemann88") die jährlichen "Gedenkkonzerte" zu Ehren des verstorbenen Gründers des internationalen Nazi-Skinhead-Netzwerkes "Blood and Honour" (B & H), Ian Stuart Donaldson, in Flandern mitorganisiert. Eine Zeitlang soll Seemann sogar im Raum Antwerpen gewohnt haben. Diese Treffen von Mitgliedern und Anhängern der in Deutschland illegalen Vereinigung werden von Neonazis aus Nordrhein-Westfalen gerne besucht, denn dort ist B & H nicht verboten und der Weg nach Belgien ist nicht weit. Beim Konzert am 14.10.2006 sollen nach Schätzungen niederländischer Antifa-Aktivisten 90 Prozent der Besucher aus Deutschland gekommen sein, daneben Besucher aus den Niederlanden, der Slowakei, der Schweiz, England und Russland. Ein weiterer Mitorganisator der "Gedenkkonzerte" ist der ebenfalls im Raum Dortmund ansässige Carsten Köppe, der früher Anführer der "Kameradschaft Dortmund / Witten" war und als Hintermann des Dortmunder Neonazi-Ladengeschäfts "Donnerschlag" (zuvor: "Buy or Die") gilt. Köppe ist unter anderem wegen Körperverletzung und Volksverhetzung vorbestraft.

Ständiger Gast bei diesen Konzerten war die Nazi-Rockband Oidoxie um den Sänger Marko Gottschalk aus Dortmund-Brechten. Obwohl Seemann zum nahen Umfeld der Band gehörte, fielen die "Musiker" vorgeblich aus allen Wolken, als Seemanns V-Mann-Tätigkeit bekannt wurde: Die Information habe sie "wie ein Messerstich ins Herz getroffen da Seemann mehr als 10 Jahre unser Kamerad und Freund gewesen ist!", jammerte die Band. Die Neonazis vom Dortmunder "Nationalen Widerstand" verschickten eine steckbriefartige "Warnung" vor dem "Verräter", in der sie bemängelten: "Das er schon vor einigen Monaten "unpolitische Waffenhändler" ans Messer geliefert hat um seine Haut zu retten (er saß zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis), war eigentlich überall in der Bewegung bekannt." Dieser "Verrat" habe jedoch keinerlei Konsequenzen im Seemann-Freundeskreis gehabt, obwohl sich "politische Aktivisten" schon vor Monaten von seiner Person und seinem Umfeld distanziert hätten.

Die ge- und enttäuschten Nazi-Kameraden ließen ihrem Frust freie Bahn. Seemann sei doch wohl kein richtiger Neonazi gewesen, denn von den Konzert-Erlösen sei kaum etwas zur Unterstützung der "politisch aktiven Strukturen" gekommen. Darüber hinaus seien die Konzerte in Flandern "zufällig" genau an den Tagen organisiert worden, an denen "nationale Veranstaltungen" in Dortmund stattfanden - die dadurch unliebsame Konkurrenz bekamen. Seit Jahren habe er nicht nur "unpolitischen" Kunden wie etwa aus Kreisen des Rocker-Netzwerks "Bandidos" Waffen verkauft, sondern auch "Kameraden" scharfe Waffen und Sprengstoff angeboten. Auch seien von den Waffen-Razzien in Belgien, die durch Seemanns Angaben gegenüber den Behörden ausgelöst worden waren, "Kameraden von Blood & Honour" betroffen gewesen. Im September 2006 waren bei Razzien in Belgien Waffen- und Sprengstofflager entdeckt und insgesamt 19 Neonazis festgenommen worden.

Auch andere "Kameraden" legten nach. So wussten einige zu berichten, dass Seemann beim letztjährigen "Konzert" in Flandern einen Besucher und "Konkurrenten" fast zu Tode geprügelt hatte.

Vorwurf an Verfassungsschutz

Mittlerweile ermittelt nicht nur die Bielefelder Staatsanwaltschaft wegen Rauschgifthandels gegen Seemann, sondern auch die Dortmunder wegen seiner angeblichen Anstiftung zu dem Supermarkt-Überfall.

Auf den NRW-Verfassungsschutz kamen nach den Enthüllungen im Dortmunder Prozess unangenehme Fragen zu. Der Geheimdienst darf seine Spitzel keineswegs Straftaten begehen lassen, auch wenn "szenetypisches Verhalten" üblich ist und toleriert wird, um die Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Er darf seine V-Leute auch nicht vor Strafverfolgung schützen, indem er sie etwa vor laufenden Ermittlungen der Polizei warnt.

Eben dies wird dem Verfassungsschutz vorgeworfen. Er solle "vorsichtiger" sein, habe der Verfassungsschutz seinem Spitzel gesagt. Damit soll er Seemann vor polizeilicher Verfolgung gewarnt und so die Strafverfolgung behindert haben, um ihn als Quelle in der Neonazi-Szene zu schützen. Der Vorwurf wurde vom NRW-Innenministerium umgehend zurückgewiesen: "Der Verfassungsschutz verhindert auf keinen Fall die Strafverfolgung von V-Leuten", sagte ein Sprecher. Im Falle einer schweren Straftat werde die Zusammenarbeit beendet.

Am Dienstag tagte bereits das achtköpfige Parlamentarische Kontrollgremium (PKG) des Landtags, das den Verfassungsschutz kontrollieren soll. Ergebnisse der geheimen Sitzung wurden nicht bekannt; am 12. September soll sich der Innenausschuss des Landtags mit dem Fall befassen. Mittlerweile hat sich der Konflikt zwischen Verfassungsschutz und Polizei noch weiter zugespitzt, denn ein Bielefelder Polizeibeamter hat Strafanzeige wegen Strafvereitelung im Amt gegen Verfassungsschutz-Beamte erstattet. Diese Ermittlung wird von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf geführt, dem Dienstsitz des Verfassungsschutzes.

Laut dem in Neonazi-Verfahren einschlägig erfahrenen Dortmunder Anwalt André Picker sind nun Racheakte gegen Sebastian Seemann zu befürchten, der in Bielefeld-Brackwede in Untersuchungshaft sitzt. Tatsächlich ist es kaum miss zu verstehen, wenn etwa die Dortmunder Neonazis tönen: "Sebastian Seemann ist ein Verräter und muss dementsprechend behandelt werden."

Bildunterschrift: V-Mann Seemann: Pose eines Neonazi-Waffenhändlers.


hubertus.gaertner@neue-westfaelische.de

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