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Westfälisches Volksblatt / Westfalen-Blatt , 09.03.2005 :

Stadtgespräch / 40 Jahre am "Katzentisch" (110. Folge) / Was C. A. Linse 1945 träumte

Im "Stadtgespräch" am 23. Februar wurde über den Besuch eines hohen Parteimannes bei Erzbischof Lorenz Jaeger Mitte Januar berichtet. Der Unbekannte sagte neun Wochen vorher den verheerenden Bombenangriff am 27. März 1945 und Erdkämpfe im Raum Paderborn voraus. Vor dem Teutoburger Wald und dem Eggegebirge sollte der Ring um die "Waffenschmiede Deutschlands", das Ruhrgebiet, geschlossen werden. Wer war dieser Zivilist, über dessen Begegnung der damalige Generalvikar Friedrich Maria Rintelen berichtete? Wahrscheinlich ein hoher Funktionär der NSDAP-Gauleitung in Münster. Josef Kivelitz, bis 1933 und nach 1945 Mitglied des Rates der Stadt Paderborn, schildert in seinen Erinnerungen "Zwischen Kaiserreich und Wirtschaftswunder" den Auftritt eines geheimnisvollen Unbekannten während des Angriffs von 120 Bombern der achten amerikanischen Luftflotte auf den Paderborner Bahnhof. Der Mann habe während der zehn Minuten des Angriffs im Luftschutzkeller des Ausbesserungswerkes an der WollmarktstraBe zwischen den Eisenbahnern gestanden und plötzlich seine Taschenuhr gezogen und erklärt: "Es ist bald vorüber, noch drei, noch zwei, noch eineinhalb Minuten ... " Kivelitz: "Wir waren erstaunt, dass der Angriff wirklich vorüber war. Keiner kannte den Fremden, wir haben ihn nie wieder gesehen." Kivelitz starb 1993 im Alter von 91 Jahren.

Nach dem ersten Bombenangriff im letzten Kriegs-Vierteljahr wurde im Südviertel über einen Mann gesprochen, der mehrfach Bombardierungen vorausgesagt hatte, die zum Glück nicht immer eintrafen. Aber schon auf Gerüchte hin flüchteten die genervten Paderborner ins Umland.

54 Jahre nach den schweren Bombenangriffen lüftete der damals 69-jahrige Helmut Linse dieses "Geheimnis". Sein Vater, der Kaufmann Carl Adalbert Linse (Jahrgang 1893), sei stets vorsichtig gewesen und habe nur von "Träumen über dies und jenes" erzählt. Auch die "Angriff-Vorhersage" alliierte Bomber im Frühjhar 1945 mit der Massenflucht der noch in der Stadt Lebenden klärte Linse-Sohn Helmut auf: "Dieser angebliche Bombenangriff-Termin kam im Luftschutzkeller der Brauerei an der Borchener StraBe unter die Leute und wurde von einem hohen Nazi inszeniert. Der wollte meinen Vater endgültig für lange Zeit ins Gefängnis bringen. "

Davor rettete ihn das Bombardement am 27. März 1945. Carl Adalbert Linse, der 1972 im Alter von 79 Jahren gestorben ist, machte auch nach Kriegsende von sich reden. Er hatte vor dem Krieg eine Erfindung gemacht und diese als Gebrauchtsmuster gesichert: Industrie-Glaskonserven, die maschinell zu schließen waren. Dieses Patent setzte er als "Linseglas" mit Blechdeckel zum Abfüllen von Marmelade ein. Die Besatzungsmacht hatte ihm erhalten gebliebene Räume in der früheren Heeresbackerei an der Ecke Ferdinand-/SchulstraBe zur Verfügung gestellt.

Konkurrent von Linse war in der Nachkriegszeit eine kleine Firma namens Stute in der Pipinstraße. Sie stellte auch Marmelade, Apfelmus und Saft her. Linse gab die süße Kocherei bald auf, aus Stute wurde inzwischen Europas größter Saft- und Konfitürenproduzent.

Im Jahre 1949 wurde erstmals errechnet, welchen Schaden die Bombenangriffe vier Jahre zuvor in Paderborn angerichtet hatten: 100 Millionen Goldmark, davon 60 Millionen fur Gebäude. Linse trat 1950 als "Paderborner Gandhi" auf. Er wollte sich dafür einsetzen, dass neben den Flüchtlingen und Vertriebenen auch die Fliegergeschädigten entschädigt wurden. Mehr über seine "Hungertour" durch deutsche Lande in einem späteren "Stadtgespräch".


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