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Lippische Landes-Zeitung , 27.07.2018 :

Jüdische Gemeinde ist voll integriert

Jüdisches Leben in Lage (2): In diesem Teil der Serie geht es auch um Frauen, die große Hilfsbereitschaft zeigten / War Mitte des 19. Jahrhunderts ein Nachbar erkrankt, kochten sie für ihn und übernahmen Nachtwachen

Von Cordula Gröne

Lage. Das früheste schriftliche Dokument über einen Bewohner jüdischen Glaubens in Lage stammt aus dem Jahr 1679. Ambsel Moyses erhält vom lippischen Grafen einen Geleitbrief (Schutzbrief). Dieser berechtigt für eine bestimmte Zeit dazu, in Lage zu wohnen und Handel zu treiben.

Die Berechtigungsscheine müssen immer wieder neu beantragt und bezahlt werden, schreibt Martin Hankemeier in seinem Buch "Zur Geschichte der Juden in Lage". 1697 leben nach Angaben der Stadt Lage drei jüdische Familien hier.

Im Jahr 1810 werden die Juden per Gesetz gezwungen, Familiennamen anzunehmen. Sie arbeiten damals meist als Handwerker wie der Seifensieder Pinchas Grünewald oder der Sattler Burghardt und fristen so ein ärmliches Dasein. Ende 1846 hatte Lage 1.675 Einwohner in 357 Haushalten, davon waren 64 jüdische Bürger.

Die jüdischen Familien - beispielsweise die Obermeiers, Werthauers, Vogelsteins - sind in das kulturelle und gesellschaftliche Leben Lages voll integriert. Sie sind Mitglieder in Vereinen und engagieren sich sozial. "War jemand in der Nachbarschaft krank, so kochten die jüdischen Frauen Diät, brachten das Essen ans Krankenbett und übernahmen die Nachtwachen", heißt es in der Broschüre der Stadt zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde. Zeitzeugen berichten von der großen Hilfsbereitschaft der jüdischen Familien.

Bereits 1802 gründet sich ein jüdischer Wohltätigkeitsverein. "Die Juden waren angesehene und wichtige Mitglieder in den örtlichen Vereinen", schreibt Hankemeier in seinem Buch. So ist der jüdische Lehrer Jacob Simonsohn 1862 Mitbegründer des Turnvereins (TV) Lage. Der Kaufmann Heinemann Vogelstein engagiert sich im Vorstand der Turngemeinde Lage (TG). David Rosenthal gehört der Freiwilligen Feuerwehr an.

Im Ersten Weltkrieg kämpfen Juden für ihre deutsche Heimat, mehrere erhalten für ihre Tapferkeit das Eiserne Kreuz. Erwähnt sind auf der Ehrentafel der Gefallenen im heutigen Friedenspark Leopold Nußbaum und Dietrich Werthauer. Zu Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen seien die Juden genauso eingeladen worden wie Bürger anderen Glaubens, schrieb Hugo Rosenthal in seinen Lebenserinnerungen. Manche Gebräuche seien den anderen jedoch fremd gewesen.

Schlimm wurde es für die Lagenser jüdischen Glaubens während der Zeit des Nationalsozialismus. "Die SA marschierte an den jüdischen Häusern vorbei und sang Hass-Gesänge. Einige warfen dicke Steine in die Fenster, Kinder spuckten jüdische Kinder an. Jugendliche wurden auf der Straße verprügelt. Klassenkameraden demütigten ihre jüdischen Mitschüler, so dass diese immer stiller und in sich gekehrter wurden, bis schließlich bei einigen Kindern nervöse Störungen festgestellt wurden", schreibt Martin Hankemeier.

Die jüdischen Geschäftsinhaber werden gezwungen, selbst Schilder zu schreiben: "Deutsche, kauft bei Deutschen und nicht bei Juden. - Ich bin ein Jude." Die SA bewacht die Geschäfte. 1935 wird der jüdische Friedhof verwüstet und die Synagoge, obwohl nicht mehr benutzt, demoliert. Als erfreulich notiert Martin Hankemeier, dass es in der Lagenser Bevölkerung auch Widerstand gegen die Verfolgung der Juden gibt. Kontakte zu Nachbarn werden heimlich aufrechterhalten. Herr Vogt von der Polizei führte den Haftbefehl gegen einen der Söhne Vorreuter nicht aus. Der Arzt Dr. Gerhard verhinderte die Deportation von Max Vorreuter, weiß Hankemeier. Eine Lagenserin versteckte einen Juden in ihrem Keller, wurde aber von einer Nachbarin verraten und bestraft.

Opfer der Juden-Verfolgung

Folgende jüdische Mitbürger starben durch Verfolgung während der Zeit des Nationalsozialismus - meist in einem Konzentrationslager zwischen 1941 und 1943: Bertha Obermeier, Bernhard Werthauer, Emma Hekster, Jeanette Jakobs, Dina Zilversmit, Rosalie Rosenthal und Alma Rosenthal, Hermann Behr, Heinemann Bloch, Julius Bloch, Erna Gradenwitz, Johanna Löwenthal, Anna Löwenthal, Heinemann Meier, Antonie Meyer, Bertha Riesenfeld, Alma Rosenthal, Alex Salomons, Rosa Samenfeld, Selma Schönenberg, Theodor Steinheim, Therese Steinheim sowie Erna Treidel.

Im nächsten Teil der Serie geht es um den jüdischen Friedhof in der Flurstraße.

Bildunterschrift: Aus dem Alltag: Eine Volksschulklasse mit ihrer Lehrerin Fräulein Niederquell um 1928. Dietrich Werthauer befindet sich in der hinteren Reihe links.

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Lippische Landes-Zeitung, 21./22.07.2018:

Der schwierige Prozess der Erinnerung

Jüdisches Leben in Lage (1): Juden waren im 19. Jahrhundert voll in das gesellschaftliche Leben der Stadt integriert / Ein Wandel zeichnet sich nach 1900 ab / Pfarrer i. R. Martin Hankemeier hat die wechselvolle Geschichte dokumentiert

Von Cordula Gröne

Lage. Mehrere Jahrhunderte lang lebten Juden friedlich in Lage, bis die Nationalsozialisten ihre Hetze begannen. Die Geschichte jüdischen Lebens ist Teil der Stadtgeschichte - und auch noch in der aktuellen Politik lebendig. In einer neuen Serie wird die LZ auf die Anfänge schauen, die Entwicklung aufzeigen und Schicksalen ein Gesicht geben. Aber auch der Bogen zum Heute wird geschlagen. Eine zentrale Frage lautet: Weshalb ist die Erinnerungskultur schwierig?

Im Jahr 1697 lebten etwa 17 Menschen mit jüdischer Konfession in Lage. Die Zahl stieg auf 57 im Jahr 1872 an und ging nach 1900 stark zurück, bis die Nazis allen die Luft zum Atmen nahmen, einige auswanderten oder sie aber in Konzentrationslagern umkamen. Die jüdischen Bürger errichteten zwei Synagogen, eine Schule mit einer Mikwe, dem rituellen Tauchbad, und schufen sich einen Friedhof. Noch erhalten sind der jüdische Friedhof an der Flurstraße und einige ehemalige jüdische Wohnhäuser.

Martin Hankemeier, der 23 Jahre als Pastor in der Marktkirche und in Hagen gewirkt hatte, erlebte seit 1977, dass seine Gemeindemitglieder ihm von den jüdischen Familien Lages erzählten. Die Blockade des Schweigens lockerte sich gut 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die US-Serie "Holocaust", die 1979 ausgestrahlt wurde, unterstützte die Bereitschaft, offen über diesen Abschnitt der Vergangenheit Lages zu sprechen. Hankemeier bat die Menschen, ausführlich über ihre Erlebnisse zu berichten und veröffentlichte diese in den Gemeindebriefen der reformierten und lutherischen Kirchengemeinden Lages 1981 und 1982.

"Ich fand, dass das viel zu wenig ist", erzählt der 80-Jährige im LZ-Gespräch. Er versuchte, an Adressen von jüdischen Überlebenden zu kommen und bat diese, ihre Zeit in Lage und ihren Lebenslauf zu schildern. "Manche haben gern erzählt, manche gar nicht", so der Detmolder. Er ist heute noch berührt, wenn er an die jahrelangen Kontakte und Begegnungen mit früheren jüdischen Bürgern denkt. "Diese waren hoch erfreut, dass man sich für sie interessiert." Er und seine inzwischen verstorbene Frau trafen sich beispielsweise mit der Familie Hammerschlag in Bad Gastein, wo diese urlaubten. Er stellte auch Kontakte der früheren Bürger untereinander her, so dass diese sich gegenseitig besuchten. Martin Hankemeier suchte in Archiven nach Namen von Ermordeten. Im Detmolder Staatsarchiv fand er ein Dokument der frühen Juden-Erfassung. Die jüdischen Mitbürger sollten sich bei den Standesämtern melden. Die Daten nutzte die Staatsmacht später zur Verfolgung. Nun suchte Hankemeier weiter ähnliche Schreiben im Staatsarchiv Detmold und im Stadtarchiv Lage. Da die Absender ihre Adresse angegeben hatten und die verheirateten Frauen ihre Familiennamen, konnte der Pastor bei den Stadtverwaltungen, Standesämtern und Archiven nachfragen, wo die Juden geblieben sind.

Aus den Berichten und Recherchen verfasste er die Materialsammlung "Zur Geschichte der Juden in Lage". Ihm ging es darum, eine Dokumentation für die Nachwelt zu erstellen. Er konnte auch eine Liste der Ermordeten anfertigen und erhielt Angaben über die Sterbeorte. Auf Wunsch der überlebenden Juden und mit Unterstützung des inzwischen verstorbenen Lagenser Heimatforschers Walter Pfaff setzte sich Hankemeier für die Errichtung einer Erinnerungstafel ein. Er wollte die Gedenktafel auf dem jüdischen Friedhof auch als Ermutigung für ein positives Zusammenleben von Juden und Andersgläubigen verstanden wissen. Der Widerstand dagegen war jedoch zunächst groß. Der damalige Pastor war erschrocken über antisemitische Äußerungen - aber später auch erfreut, dass einige seiner damaligen Gegner ihre Ansichten im Nachhinein geändert und sein Engagement als sehr positiv angesehen haben.

Im Jahr 1984 kam es zur Aufstellung von zwei Gedenktafeln auf dem jüdischen Friedhof. Zwei, weil es über die Formulierung des Gedenkens zu einem schweren Konflikt zwischen der Stadt und einer Gruppe engagierter Christen kam. Im vergangenen Jahr wurden beide Tafeln gestohlen, vermutlich wegen des Bronzegehalts. Die Politik entschied, dass eine neue in Edelstahl angeschafft wird - diesmal eine gemeinsame Tafel von der Stadt und engagierten Christen in Lippe. Sie hat ihren Platz auf einem Findling gefunden. An jedem 9. November, dem Tag des Judenpogroms, findet auf dem Friedhof eine Gedenkfeier statt.

Im Jahr 2007 wurde die Gedenkstele im Friedenspark Lage eingeweiht - von Bürgermeister Christian Liebrecht und Vertretern der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe. Martin Hankemeier ist ein engagiertes Mitglied dieses Vereins. Unterstützung fand er bei weiteren Pastoren aus Lage. Die Gedenkstele erinnert an die Verfolgung der Juden während der NS-Zeit. Sie wurde aus 1.500 Ziegeln in zwölf verschiedenen Formen und Größen gemauert, die im Ziegeleimuseum hergestellt und in Oldenburg gebrannt wurden. Sie ist ein Werk von Professor Axel Seyler und erinnert an die Rauchwolke über einem Krematorium eines NS-Konzentrationslagers. In der Rauchwolke sind die Formen eines Menschen angedeutet. Die Kosten in Höhe von 100.000 Euro wurden allein durch Spenden und von Sponsoren aufgebracht.

Straßennamen

Anfang der 90er-Jahre hatte Martin Hankemeier an die Stadt einen Antrag gestellt, Straßen nach berühmten jüdischen Bürgern Lages zu benennen. Damals wurde vorgeschlagen, zwei Tweten auf dem Gelände des damaligen City-Centers nach Heinemann Vogelstein sowie Hugo und Karl Rosenthal zu benennen. Das Gelände befand sich jedoch noch nicht im Besitz der Stadt. In diesem Jahr wurde das Thema nach einem Antrag von Claus-Hinrich Graß, Mitglied in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe, erneut in der Politik beraten. Bislang ist noch nichts umgesetzt worden.

Bildunterschrift: Erinnerung an die Vergangenheit Lages: 2007 wurde die Gedenkstele im Friedenspark Lage eingeweiht. Sie wurde aus 1.500 Ziegeln in zwölf verschiedenen Formen und Größen gemauert und erinnert an die Verfolgung der Juden während der NS-Zeit.

Bildunterschrift: Autor: Der ehemalige Lagenser Pastor Martin Hankemeier (80) schrieb ein Buch über die Juden in Lage.

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Lippische Landes-Zeitung, 16.03.2018:

Jüdische Bürger als Namensgeber

Lage (co). Die Straßen eines neuen Wohngebietes sollen nach früheren jüdischen Bürgern Lages benannt werden. Dafür hat sich der Ausschuss für Kultur und Tourismus einstimmig ausgesprochen.

Claus-Hinrich Graß, Mitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe, hatte bei der Stadt an seinen Antrag vom März 2015 erinnert. Eine Erinnerung an bedeutende jüdische Mitbürger in Form einer Namensgebung für Straßen, Tweten oder Plätze habe bislang nicht stattgefunden, andernorts schon. Die Baumaßnahmen für das neue Rathaus seien abgeschlossen. Graß schlug deshalb vor, die neue Zuwegung von der Rhienstraße zum Parkplatz am Drawen Hof nach dem Rabbiner Heinemann Vogelstein oder den Brüdern Hugo und Karl Rosenthal zu benennen.

Klaus Landrock, Fachgruppenleiter für Schule, Kultur, Tourismus und Sport, erklärte im Ausschuss, dass die kleine Twete eigentlich nicht ausreiche, um der Bedeutung der Persönlichkeiten gerecht zu werden. Er schlug vor, zwei Straßen in einem der neuen Baugebiete nach den früheren Lagensern zu benennen. Ausschussvorsitzender Hans-Martin Kaup (SPD) sah das genauso. Zustimmung kam auch von den anderen Parteien.

Graß, der zusammen mit Pastor im Ruhestand Martin Hankemeier in die Sitzung gekommen war, zeigte sich begeistert über den Vorschlag. "Die Stadt Lage kann stolz auf die Menschen sein", sagte er. Die drei hätten dem liberalen Judentum angehört und seien Reformpädagogen gewesen. Der Rat entscheidet darüber abschließend am 8. Mai.

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Lippische Landes-Zeitung, 01.03.2018:

Straßen sollen nach Juden benannt werden

Antrag: Der Haupt- und Finanzausschuss unterstützt den Vorschlag von Claus-Hinrich Graß

Lage (be). Straßen und Tweten in zukünftigen Neubaugebieten sollen nach den Namen von ehemals jüdischen Mitbürgern benannt werden. Diese Entscheidung traf jetzt einstimmig der Haupt- und Finanzausschuss in jüngster Sitzung.

Grundlage ist ein Antrag von Claus-Hinrich Graß, Mitglied in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe. Bereits 2015 und 2016 hatte er sich dafür eingesetzt, Zuwegungen nach den Namen bedeutender Juden aus Lage zu benennen. Dazu gehören der international bekannt gewordene Rabbiner Heinemann Vogelstein sowie die Brüder Hugo und Karl Rosenthal. Graß schlägt nun für eine Benennung die neue Zuwegung von der Rhienstraße zum Parkplatz am Lagenser Forum am Drawen Hof vor. Anlieger brauchten hier keine Adressenänderung zu befürchten, außerdem hätten die genannten Personen nicht weit von hier gewohnt. Ende 2015 beschäftigte sich der Kulturausschuss bereits schon einmal mit diesem Thema, wie Fachbereichsleiter Allgemeine Verwaltung und Ordnung, Frank Rayczik, berichtete. Zwar fasste das Gremium einen einstimmigen Beschluss, doch konnte dieser bisher nicht umgesetzt werden, weil die für die Benennung vorgesehenen Planstraßen nicht verwirklicht wurden.

Kulturausschussvorsitzender Hans-Martin Kaup (SPD) will den Antragsteller Claus-Hinrich Graß zur nächsten Sitzung des Gremiums einladen. Dort soll er seinen Vorschlag noch einmal erläutern. Es sei ärgerlich, so Kaup, dass Graß bisher keine Antwort der Stadt erhalten habe, wieweit sein Antrag gediehen sei. Frank Drexhage von den Grünen setzt sich dafür ein, die Straßenschilder mit Hinweistafeln zu versehen, damit erkennbar sei, um welche jüdischen Persönlichkeiten es sich handle.

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Lippische Landes-Zeitung, 13./14.05.2017:

Leserbriefe / Nur ein Metallklau?

Zur Berichterstattung "Beutezug auf jüdischem Friedhof", LZ vom 28. April, äußert sich diese Leserin.

Mit Erschrecken habe ich am Freitag, 28. April, die Meldung in der Lippischen Landes-Zeitung vom Diebstahl der beiden Gedenktafeln am jüdischen Friedhof in Lage gelesen.

Dass sowohl die Stadt wie auch die Polizei nur einen Metalldiebstahl vermuten, ohne nach einem politischen Hintergrund zu fragen, hat mich ebenso erschreckt wie die Tatsache als solche.

Gertrud Wagner, Detmold

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Lippische Landes-Zeitung, 31.12.2016:

Das war 2016 - in Lippe / Einer der letzten großen NS-Prozesse

Auschwitz-Prozess: 20 Tage verhandelt das Landgericht Detmold gegen den ehemaligen SS-Mann Reinhold Hanning aus Lage / Im Juni wird der 94-Jährige zu fünf Jahren Haft verurteilt - wegen Beihilfe zu zigtausendfachem Mord

Von Silke Buhrmester

Detmold. Es ist das größte Verfahren in der Geschichte des hiesigen Landgerichts: Am 11. Februar beginnt der Detmolder Auschwitz-Prozess gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Reinhold Hanning aus Lage. Der Vorwurf lautet: Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Menschen während seines Dienstes als KZ-Wachmann in den Jahren 1943/44.

Das öffentliche Interesse an dem Prozess ist groß, zudem muss Platz für zahlreiche Nebenkläger - jüdische Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz, deren Angehörige und Rechtsanwälte - gefunden werden. Deshalb richtet sich das Gericht unter Vorsitz von Anke Grudda im Saal der Industrie- und Handelskammer ein. Vor dem Gebäude bilden sich in den ersten Tagen lange Schlangen - nicht jeder bekommt einen der begehrten Plätze.

Pro Tag ist der Angeklagte nur zwei Stunden verhandlungsfähig, sagt ein Gutachten. Als er endlich sein Schweigen bricht, sagt er nicht viel. Er gibt zu und bedauert, als Wachmann in Auschwitz gewesen zu sein und bei der SS mitgemacht zu haben. Man habe den Menschen Hanning im Prozess jedoch nicht kennengelernt, wird Richterin Grudda später in der Urteilsbegründung sagen. Die Opfer dagegen, sie sprechen. Es sind zahlreiche Juden aus den USA, Kanada, Ungarn und Deutschland, die selbst die Hölle von Auschwitz durchlebten und überlebten, aber ihre Familien im Gas verloren. Reinhard Hanning hört die grausamen Details über das Leben, besser das Dahinvegetieren, in dem Vernichtungslager. Neben den Zeitzeugen kommen Sachverständige zu Wort - Beamte des Landeskriminalamtes, die in Auschwitz ermittelt haben, Sachverständige, die über die grausame Wirkweise des Giftgases Zyklon B, den langsamen Tod durch Verhungern und katastrophale hygienische Zustände, Schwerstarbeit und Misshandlungen referieren, und Experten, die die Rangordnung der SS-Wachmannschaften und deren Aufgaben erläutern.

Der Prozess zieht sich bis zum 17. Juni hin. Dann spricht die Kammer im Foyer des Landgerichts das Urteil: fünf Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 170.000 Menschen im KZ Auschwitz. Für die Nebenkläger ist das Urteil und die Begründung Balsam. Sie betonen immer wieder, dass es ihnen nicht darum gehe, dass der 94-Jährige ins Gefängnis müsse, sondern um Gerechtigkeit, die Anerkennung der Schuld jener SS-Männer durch ein deutsches Gericht. Reinhold Hanning bleibt auf freiem Fuß, das Urteil ist nicht rechtskräftig: Sowohl die Verteidigung als auch einige Nebenklägervertreter legen Revision ein. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes steht aus.

Videos von dem Prozess finden sich unter LZ.de/video.

Bildunterschrift: Zusammentreffen im Gericht: Der Angeklagte Reinhold Hanning wird im Rollstuhl von Wachtmeister Reinhard Kleesiek in den Saal geschoben (kleines Bild). In der ersten Reihe sitzen die Nebenkläger (von links) Irene Weiß, begleitet von ihrer Tochter , Max Eisen und Bill Glied. Sie durchlebten die Hölle von Auschwitz, ihre Familien wurden im KZ ermordet. In Detmold sagten sie als Zeugen aus.

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Claus-Hinrich Graß, 01.03.2015:

( ... )

An den Rat der Stadt Lage

( ... )

Betr.: Bürgerantrag

zur Benennung von Straßen, Plätzen oder Tweten mit Namen ehemals jüdischer Bürger Lages

Sehr geehrte Damen und Herren!

Anfang der 90-Jahre stellte Pastor Martin Hankemeier den Antrag an die Stadt Lage, Straßen nach international berühmten jüdischen Bürgern Lages zu benennen. Seitens der Stadt Lage wurde vorgeschlagen und später beschlossen, zwei Tweten auf dem Gelände des City-Centers, zum einen nach dem international renommierten Reformrabbiner Heinemann Vogelstein und zum zweiten nach Hugo und Karl Rosenthal, zu benennen. Allerdings hatte zur damaligen Zeit die Stadt Lage keine Verfügungsgewalt, weil das Gelände des City-Centers sich nicht im Besitz der Stadt Lage befand. Diese Gelegenheit ist nun gekommen, da sich die Besitzverhältnisse zugunsten der Stadt Lage geändert haben.

Vornehmlich die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und auch der Naturwissenschaftliche und Historische Verein und ebenso Herr Pastor Martin Hankemeier und ich halten es für dringend erforderlich, international renommierte Persönlichkeiten Lages mit der Benennung einer Straße, eines Platzes oder einer Twete zu würdigen und damit den Beschluss der Stadt Lage zu realisieren.

Bedeutende jüdische Personen aus Lage:

Rabbiner Heinemann Vogelstein, geb. 1841 in Lage (Schulstraße 9, später 17), international bedeutende Persönlichkeit des liberalen Judentums (nachzulesen u.a. bei Wikipedia und im Buch von Martin Hankemeier: "Zur Geschichte der Juden in Lage", Panu Derech Band 12, Hrsg. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe e.V., Seiten 139, 143 ff.).

Hugo Rosenthal, geb. 1887 in Lage, bedeutender Reformpädagoge, arbeitete im Geiste Martin Bubers und leitete das Jüdische Landschulheim Herrlingen bei Ulm (nachzulesen u.a. bei Wikipedia und im Buch von Martin Hankemeier: "Zur Geschichte der Juden in Lage", Panu Derech Band 12, Hrsg. Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Lippe e.V., Seite 20).

Karl Rosenthal, geb. 1885 in Lage, wurde ein namhafter Rabbiner des Reformjudentums und war zuletzt an einer Reformsynagoge in Wilmington / USA tätig.

Hochachtungsvoll

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Lippische Landes-Zeitung, 14./15.11.2009:

"Synagoge wurde nicht angesteckt"

Zeitzeuge Gustav Glitt kritisiert Aussagen während der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht

Von Wolfgang Becker

"In Lage hat am 9. November 1938 die Synagoge nicht gebrannt." Dies behauptet kein Ewig-Gestriger, sondern Gustav Glitt (79), ein Zeitzeuge und Mitarbeiter des Arbeitskreises Stadtgeschichte.

Lage. Glitt, früheres SPD-Ratsmitglied und Mitglied im Lippischen Heimatbund, verwundert, dass immer wieder behauptet werde, das jüdische Gotteshaus sei in der Reichspogromnacht von Nazi-Schergen angezündet worden. Auch bei den jüngsten Feierlichkeiten auf dem jüdischen Friedhof an der Flurstraße habe es bei einigen offiziellen Teilnehmern offensichtliche Lücken in den Geschichtskenntnissen gegeben. Dies habe er Gesprächen und Redebeiträgen entnommen. "Dabei hat auch Martin Hankemeier in seinen Publikationen zum Thema `Juden in Lage` immer wieder darauf hingewiesen, dass damals die Synagoge in der Friedrichstraße nicht angesteckt wurde", so der 79-Jährige. "Bei diesen Tatsachen gilt es zu bleiben."

Hankemeier, sonst immer Redner bei der Gedenkfeier, war bei der jüngsten verhindert und konnte insofern nicht das schiefe Bild gerade rücken. "Ich kam im Oktober 1938 als Schuljunge auf dem Nachhauseweg durch die Friedrichstraße und sah, dass ein großer Holzstapel vor der Synagoge in Flammen stand", erinnert sich Gustav Glitt, der ein Buch über die Geschichte der Juden in Lage geschrieben hat. Ihm ist es zu verdanken, dass die wenigen verbliebenen Spuren jüdischen Lebens in der Stadt erkennbar bleiben. Mittlerweile sind auf seine Initiative hin Stelen vor jüdischen Häusern aufgestellt worden. Einmal im Jahr unternimmt er Führungen zu diesen Orten, erzählt das, was er bei seinen Recherchen im Stadt- und im Staatsarchiv herausgefunden hat. In der so genannten Reichspogromnacht wurden auch in Lage Verbrechen an Juden begangen. Die Familie Werthauer wurde überfallen, ihr Haus in der Hellmeyerstraße verwüstet.

Im Herbst 1938 hatten Arbeiter den Auftrag, die von der Stadt gekaufte Synagoge abzubrechen. Sie war bereits drei Jahre zuvor von SA-Männern geschändet worden. Die Thorarolle, auf der die fünf Bücher Mose in hebräischer Schrift stehen, war vorher in Sicherheit gebracht worden. Weil die für einen Gottesdienst erforderlichen zwölf Männer nicht mehr zusammengebracht werden konnten, hatte sich die Jüdische Gemeinde nach Detmold hin orientiert. Vor der Synagoge lagerte Holz vom Dachstuhl, das die Arbeiter verbrannten. Das Gotteshaus wurde abgetragen und verschwand aus dem Stadtbild. Einzig die Verzierungen des Portals sind noch erhalten. Sie sind auf dem jüdischen Friedhof aufgestellt worden.

Für zukünftige Gedenkfeiern wünscht sich Gustav Glitt, dass die Geschichte so erzählt wird, wie sie wirklich war: "Eine Klitterung verbietet sich."

Bildunterschrift: 1938 abgerissen: Gustav Glitt vom Arbeitskreis Stadtgeschichte des Lagenser Heimatbundes mit einem Bild aus seinem Buch "Stadtrundgang - Geschichte der Juden in Lage", das die 1874 eingeweihte Synagoge an der Friedrichstraße zeigt.

Bildunterschrift: Längst verschwunden: So sah die 1874 eingeweihte Synagoge aus, die vor ihrem Abriss geschändet worden war.

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Lippische Landes-Zeitung, 12.10.2007:

Würdevoll und unübersehbar

Gedenkstele für Lages Juden kurz vor Vollendung

Lage (be). Täglich macht sich Professor Axel Seyler von seinem Haus in Blomberg-Dalborn aus auf den Weg nach Lage. Sein Ziel ist die Baustelle im Friedenspark. Dort entsteht nach seinen Plänen die Stele zum Gedenken an die ermordeten Juden der Stadt. Nur noch wenige Arbeiten sind bis zur Vollendung erforderlich. Im Rahmen einer Feierstunde findet am Sonntag, 21. Oktober, um 17 Uhr die Einweihung statt.

Während Bildhauer Prof. Seyler mit Hammer und Meißel letzte Feinheiten an dem Kunstwerk herausmodelliert, verlegen Mitarbeiter des Bauhofs davor Pflastersteine. Die Stadt war es auch, die sich bereit erklärte, Fundament und Betonkern für die 3,50 Meter hohe Stele herzustellen. Seine beeindruckende Form und Präsenz erhält das Denkmal aber durch das vorgesetzte Ziegelmauerwerk, das Beschäftigte der "euwatec" aus Detmold anbrachten. Die Steine entstammen nicht der Fließbandproduktion, sondern sind einzeln für die Stele in einer Oldenburger Ziegelei angefertigt worden. Einige sind rund, andere quadratisch, wieder andere geschwungen.

Durch die Verwendung der verschiedenen Formate gelingt es, das auszudrücken, was sich Prof. Seyler vorgestellt hat: Aus dem Boden erweitert sich die Gedenkstätte von einem quadratischen konkaven Grundmaß über ein Fünfeck schließlich zu einem Sechseck in Anlehnung an den jüdischen Davidstern. "Auf diese Weise will ich die Geschichte des Judentums in Zahlen ausdrücken", unterstreicht der Bildhauer. Einzelheiten zu dieser Thematik möchte er Interessierten im Anschluss an die Feierstunde beim Empfang in der evangelisch-methodistischen Kirche an der Hochbrücke erläutern.

Ein großes Lob für die gelungene handwerkliche Ausführung spricht Prof. Seyler den Beschäftigten der "euwatec" aus. "Es ging oft bei der Passgenauigkeit um Millimeter. Trotz der nicht geraden leichten Aufgabe waren die Leute immer mit Begeisterung dabei", sagt der Künstler. "Das, was wir hier entstehen sehen, ist kein Bauwerk, sondern ein Kunstwerk", blickt Gerd Hillebrenner mit Bewunderung auf die Stele. Um die Würde dieses Ortes zu unterstreichen, wird die Umgebung gepflastert - mit historischen Steinen aus lippischen Sandstein, die einst in der Rhienstraße verlegt waren.

Dafür, dass Lage um dieses einzigartige Kunstobjekt bereichert wird, sorgte Pfarrer i.R. Martin Hankemeier. Er hatte die Idee zum Bau, nahm mit Prof. Seyler Kontakt auf und wurde nie müde, zu Spenden für die Finanzierung aufzurufen. Noch frei ist die Stelle für die Tafel vor der Gedenkstätte. Auf ihr sollen die Namen der 21 Lagenser Bürger angebracht werden, die als Juden während der NS-Gewaltherrschaft ermordet worden sind.

Bildunterschrift: Der Künstler und sein Werk: Prof. Axel Seyler vor der Gedenkstele, die nach seinen Plänen entstand.

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Lippische Landes-Zeitung, 04.12.2006:

Jüdische Stadtgeschichte bewahrt

Pastor Martin Hankemeier erhielt für seine Verdienste den August-Kluckhohn-Preis

Lage (mib). Dr. Hans Jacobs und Burkhard Meier haben ihn schon bekommen, am Samstag durfte als Dritter im Bunde Pastor i. R. Martin Hankemeier den August-Kluckhohn-Preis im Rahmen eines Festaktes im Rathaus entgegennehmen. Der Stiftungsrat würdigte damit das unablässige Engagement Hankemeiers zur Aufarbeitung der Geschichte der Juden in Lage.

"Der Name Martin Hankemeier ist mit der Stadt fest verbunden. Neben seiner Arbeit als Pfarrer sind insbesondere auch seine Veröffentlichungen zur Geschichte der jüdischen Familien in Lage wertvoll und anerkannt", unterstrich Bürgermeister und Stiftungsratsvorsitzender Christian Liebrecht, bevor Dr. Rudolf Hüls in seiner Laudatio detailliert auf die Biografie und Verdienste des Ausgezeichneten einging.

Von 1967 bis 1990 war Hankemeier Pfarrer in Lage (Marktkirche) und auch für Hagen zuständig. Mit Erhard Kirchhof und Walter Pfaff brachte er 1988 den Bildband "Aus Hagens vergangenen Tagen" heraus, veröffentlichte im Kirchenblatt "Unsere Gemeinde" unter anderem Beiträge zur Marktkirche und begab sich mit Pfaff auf die Spuren des Judentums in Lage.

Hankemeiers größtes Werk, man könne fast von Lebenswerk sprechen, sei die Veröffentlichung seines Buches "Zur Geschichte der Juden in Lage", das 2003 in zweiter Auflage erschienen ist - eine nahezu erschöpfende Dokumentation und wertvolle Arbeit, so Hüls, bei der Hankemeier akribisch Informationen aus dem Detmolder Staatsarchiv und der Stadt Lage zusammengetragen und durch Interviews mit Zeitzeugen ergänzt hat. Auch von den betroffenen jüdischen Familien bekam er wertvolles Material und viele Fotos. Dieses Buch, so erinnerte Hüls, ist auch die Basis für den Rundgang zur jüdischen Stadtgeschichte.

"Brauchen das Geld dringend für die Stele"
Pastor Hankemeier

Derzeit setzt sich Pastor Hankemeier intensiv für die Stele ein, die an die von den Nazis ermordeten Lagenser Juden erinnern und laut Information des Geehrten im August nächsten Jahres aufgestellt werden soll. 22 Namen stehen bis heute fest.

"Ich bin der Dritte in einer hoffentlich langen Liste von Preisträgern", erklärte Hankemeier, der sich herzlich für seine Auszeichnung mit dem mit 2000 Euro dotierten August-Kluckhohn-Preis bedankte. "Das Geld brauchen wir dringend für die Stele", meinte er. Nun fehlten nur noch 20 Prozent zur Kostendeckung.

Sichtlich gerührt und tief bewegt berichtete er von der starken Verbundenheit, die nach Amerika geflohene Juden noch heute mit Lage zeigten - trotz Vertreibung, Demütigung und Lebensbedrohung seien sie am Geschehen in ihrer alten Heimatstadt immer noch sehr interessiert. Manche sprächen sogar von "Homecoming" (Zurückfinden in die Heimat). "Ich denke, etwas Schöneres gibt es nicht. Es ist wie ein Gottesgeschenk", sagte Pastor Hankemeier und forderte alle auf mitzuhelfen, die Geschichte der ehemals hier lebenden Juden zu bewahren. "Sie ist wirklich ein Stück Lage."

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Lippische Landes-Zeitung, 26./27.08.2006:

Deportation der jüdischen Nachbarn miterlebt

Zeitzeugin berichtete über das Schicksal von Nazi-Opfern

Lage-Kachtenhausen (ld). Das Schicksal ehemaliger jüdischer Mitbürger aus Lage und Kachtenhausen stand im Mittelpunkt eines Gemeindeabends der evangelisch-reformierten Johannesgemeinde. Die Zeitzeugin Anneliese Grabe sprach über die Geschwister Antonie Meier, geborene Rosenthal, und Selma Schönenberg. Beide wurden 1942 nach Auschwitz deportiert. Niemand aus dem Transportzug überlebte.

Anneliese Grabe hat Antonie Meier sehr gut gekannt und beschrieb sie als "eine ausgesprochen nette, stets freundliche und gutmütige Frau, die ihren Nachbarn immer hilfreich zur Seite stand". Deshalb sei sie auch von keinem Kachtenhausener gedemütigt oder drangsaliert worden. Auch hätten jüdische Freunde sich bei ihr einigermaßen sicher gefühlt. Am 30. Juni 1942 wurden Antonie Meier und ihre Schwester aus ihrem Haus abgeholt und nach Auschwitz deportiert. Anneliese Grabe wird diesen schrecklichen Tag nie vergessen. Als Fotos der Geschwister gezeigt wurden, kamen ihr die Tränen. Auch den anderen Gästen verlangte dieser Abend emotional einiges ab.

"Meine Gemeindemitglieder sind seit Anfang der 70er Jahre aus eigenem Antrieb zu mir gekommen, um mit mir über die Lagenser Juden zu sprechen", berichtete Pfarrer i.R. Martin Hankemeier, der die Erzählungen der Zeitzeugin aus ihren schriftlich festgehaltenen Erinnerungen ergänzte.

Schon bald habe er so viele Informationen besessen, dass er die Spurensuche nach Überlebenden aufnahm. Und er fand sie weltweit verstreut, zum Beispiel in London, Melbourne oder Israel. Um die schrecklichen Ereignisse der Nazi-Gewaltherrschaft nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, fasste er sie in einem Buch zusammen.

Pfarrer Dirk Gerstendorf hatte zu der Gesprächsrunde eingeladen und zu Beginn erzählt, wie die jüdischen Menschen in der Gemeinde gelebt haben. Er unterstrich die Notwendigkeit, die von Pastor Hankemeier initiierte Gedenkstele im Friedenspark aufzustellen. Auf einer Tafel sollen, wie berichtet, die Namen, Lebensdaten und Sterbeorte der 21 bisher bekannten ermordeten jüdischen Mitbürger stehen.

Gerstendorf dankte Anneliese Grabe für ihre Ausführungen und Pastor Martin Hankemeier sowie Pfarrer Johannes Godduhn für die Teilnahme an diesem Informationsabend. Beide haben sich intensiv mit dem Thema befasst.

Häuser mit Parolen beschmiert

Wie die aktuellen Ereignisse in Waddenhausen zeigen, gibt es auch heute noch eine "braune Szene" in Lage: Vor wenigen Tagen schmierten dort einige Unbelehrbare Nazi-Parolen an die Häuser. Um so wichtiger ist es, die Aufklärungsarbeit fortzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Gräueltaten der Vergangenheit nicht in Vergessenheit geraten, damit sich so etwas niemals wiederholen kann. Die Stele, für die Pastor Hankemeier um weitere Spenden bittet, ist ein Beitrag dazu. Ihm ist besonders wichtig, dass die Namen der ermordeten Juden darauf zu lesen sind, um zu verdeutlichen: Diese Menschen hat es wirklich gegeben. Sie haben hier gelebt.

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Lippe aktuell, 18.01.2006:

Gustav Glitt legt Buch "Stadtrundgang - Geschichte der Juden in Lage" vor

Spuren der Opfer im Stadtbild sichtbar

Lage (lam). Auf dem ersten Blick hat das Leben der ehemaligen jüdischen Mitbürger in der Stadt Lage keine Spuren hinterlassen. Lediglich der jüdische Friedhof an der Flurstraße und eine Gedenktafel an der Friedrichstraße erinnern offensichtlich an das vergangene Zusammenleben. "Tatsächlich existieren jedoch in unserer Stadt noch mehr Zeugnisse jüdischen Lebens", betont Stadtarchivarin Christina Pohl in ihrem Vorwort zu dem Buch "Stadtrundgang - Geschichte der Juden in Lage", verfasst von Gustav Glitt, das dieser jetzt gemeinsam mit Weggefährten im Vereinshaus des Heimatbundes Lage vorstellte.

"Die Zeugnisse jüdischen Lebens erschließen sich dem Betrachter aber nicht von selbst", so die Stadtarchivarin. "Neue Geschäfte oder Bewohner sind im Laufe der Zeit hier eingezogen und haben die Erinnerung verblassen lassen. Mit diesem Rundgang kehren die Menschen, die hier einst lebten, hier aber nicht weiterleben konnten, in die Geschichte unserer Stadt zurück. Er nennt ihre Namen, zeigt ihre Häuser, Wohnungen oder Geschäfte, entreißt sie von der Anonymität, gibt ihnen ein Gesicht."

Pastor Martin Hankemeier, der 23 Jahre lang als Gemeindepfarrer in Lage wirkte und seit langem das Leben und Schicksal der Lagenser Juden erforscht und dokumentiert, habe den eigentlichen Anstoß zur Erstellung des Buches gegeben, erläuterte Glitt. Seine Arbeiten seien eine wichtige Grundlage gewesen. Glitt dankte aber auch seiner Ehefrau Lilo und der Tochter Susanne Tepper für ihr Verständnis, denn während des Schreibens sei das Familienleben oftmals zu kurz gekommen. "Der Leistung Gustav Glitts gilt unsere Hochachtung", sagte Manfred Sieker, Vorsitzender des Ortsvereins Lage des Lippischen Heimatbundes. "Da steckt sehr viel mehr Arbeit drin, als man auf den ersten Blick vermutet." Christina Pohl: "Mit der Konzeption und Erarbeitung dieses historischen Stadtrundganges ist es Gustav Glitt gelungen, einen optisch ansprechenden und höchst informativen Beitrag zur Stadtgeschichte zu leisten. Viele Stunden intensiver und manchmal auch mühevoller Recherche waren notwendig, um dieses Buch zusammenzustellen. Das Ergebnis überzeugt, und ich wünsche uns, dass noch weitere Rundgänge - zu anderen Themen - folgen werden."

Der "Stadtrundgang mit jüdischer Geschichte" befasst sich an 20 Stationen mit den noch vorhandenen Gebäuden. Fotos zeigen aber nicht nur Wohn- und Arbeitsstätten, sondern auch Menschen, die hier gelebt haben und noch nicht vergessen sind.

Erstmalig werden die jüdische Schule und die Synagoge an der Friedrichstraße 22 mit Fotomontagen so gezeigt, wie sie ursprünglich - ohne Zerstörungs- und Abrissspuren - ausgesehen haben.

Ein gefalteter Übersichtsplan, gleichzeitig als Markierungshilfe gedacht, erleichtert das Auffinden der Stationen und bietet die Möglichkeit Abkürzungen zu nutzen. Die etwas außerhalb liegenden Stationen können auch sehr gut mit dem Fahrrad aufgesucht werden.

Im Anhang des Buches wird auch auf jüdisches Leben in den Ortsteilen hingewiesen. Aus Waddenhausen und Kachtenhausen ist der Zugriff auf jüdische Menschen durch den Naziterror überliefert. Außerdem zeigt Glitt in seinem Buch allgemeine Fakten über die Verfolgung der Juden bis zum Holocaust auf. Martin Hankemeier und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit setzen sich dafür ein, dass an die 21 bisher bekannten KZ-Opfer aus Lage mit einer Gedenktafel erinnert wird. Angedacht ist an eine Stele im Friedenspark. Es gibt auch Überlegungen, den Stadtrundgang mit aufrecht stehenden "Granitbordsteinen" auszugestalten. Diese Steine könnten Hinweise für Vorübergehende geben und bei Stadtrundgängen Anlaufpunkte markieren. "Die finanziellen Aufwendungen dafür halten sich durchaus im Rahmen des derzeit Möglichen", ist Gustav Glitt überzeugt.

Das in einer Auflage von 500 Stück erschienene 108-seitige Buch, das neben den Texten 120 Fotos enthält, können Interessierte zum Preis von 5 Euro in der Geschäftsstelle des Lagenser Heimatbundes ("Altes Gefängnis") am Plass erhalten. Geöffnet ist das Vereinshaus freitags von11.00 bis 12.00 Uhr.

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Lippische Landes-Zeitung, 08.12.2005:

Aus dem Boden wächst ein Stern

Gedenkstele beschlossene Sache

Lage (be). Nach einem Entwurf von Professor Axel Seyler soll im Friedenspark eine Gedenkstele für die jüdischen Opfer der Nazi-Verfolgung errichtet werden. Bei einer Enthaltung fasste der Kulturausschuss am Dienstagabend eine entsprechende Empfehlung. Nun muss noch der Rat sein Einverständnis dazu geben.

Die Kosten für das Fundament, etwa 250 Euro, übernimmt die Stadt, während die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit aus Spendenmitteln die Stele finanzieren will. Sie hat eine Höhe von rund 3,50 Metern. Von einem quadratischen, konkaven Grundmaß erweitert sie sich über ein Fünfeck schließlich zu einem Sechseck in Anlehnung an den jüdischen Davidstern. Das erforderliche Gussmauerwerk sollen nach den Vorstellungen von Professor Axel Seyler junge Studenten im Rahmen einer Seminararbeit errichten.

Dazu verwenden sie Ziegel aus dem Westfälischen Industriemuseum. "Ich bin sehr zufrieden, dass wir ein so schwieriges Thema so sachlich diskutiert haben", zeigte sich gestern auf LZ-Anfrage Ausschussvorsitzender Hans-Martin Kaup erleichtert. Sobald der Rat in seiner nächsten Sitzung dem Vorhaben zugestimmt habe, werde Bildhauer Professor Seyler der Auftrag zum Bau erteilt. Noch nicht geklärt sei allerdings die Frage, wo die zweite Stele zum Gedenken an die deutschen Bombenopfer im Friedenspark hinkommt. "Eine Entscheidung darüber wollen wir nicht auf die lange Bank schieben", sagte Kaup weiter.

An der Sitzung nahm auch Pfarrer i.R. Martin Hankemeier teil, der die Geschichte der Lagenser Juden publizistisch aufgearbeitet hat. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wolle, so Hankemeier, Geld für die Stele zum Gedenken der jüdischen Opfer sammeln. Dabei handele es sich um Menschen, die zu Lage gehört hätten - auch als Mitglieder der Schützengilde oder der Turngemeinde. Spenden sollten unter dem Kennwort "Gedenkstele in Lage" auf das Konto, Nummer 3003829, bei der Sparkasse Detmold, Bankleitzahl 47650130, eingezahlt werden.

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Lippische Landes-Zeitung, 24.10.2005:

Irritationen im Kulturausschuss

Keine Klarheit über Gedenkstätte

Lage (be). Wo soll sie hin, die Stätte zum Gedenken an die jüdischen Nazi-Opfer? Der Kulturausschuss erzielte darüber noch keine Klarheit. Auch hält Ausschussvorsitzender Hans-Martin Kaup (SPD) an seinen Plänen fest, eine Gedenktafel den zivilen Bombenopfern zu widmen.

Für Irritationen sorgte die Nachricht von Erhard Kirchhof zu Beginn der Sitzung, man habe sich in einem interfraktionellen Gespräch über die Standortfrage geeinigt. "Wir haben vorhin eine einstimmige Meinung erzielt und wollen die nicht weiter diskutieren", sagte der Christdemokrat. Es solle, so Kirchhof, eine Gedenktafel für die jüdischen Opfer der Nazi-Herrschaft an einer Säule angebracht werden. Ein Standort sei noch nicht festgelegt.

Mit dieser Vorgehensweise zeigte sich Hans-Martin Kaup überhaupt nicht einverstanden. "An einem Vor-Treffen konnte ich nicht teilnehmen. Ich bin dafür, dass auch der zivilen Bombenopfer gedacht wird." Über Standort und Form der Gedenkstelle müsse diskutiert werden, unterstrich Hans-Gottfried Brode (BBL). Es gelte, beide Gruppen von Opfern in direktem Zusammenhang darzustellen. "Der Fluch der Vergangenheit muss abgearbeitet werden", sagte das BBL-Mitglied. Durch Verdrängen werde dieses Thema nicht gelöst. Man müsse den Mut haben, öffentlich darüber zu sprechen. Damit reagierte er auf einen Vorschlag von Dr. Hans Jacobs (Bündnisgrüne), der dieses sensible Thema lieber im "stillen Kämmerlein" behandelt haben wollte. Mit einem Antrag zur Geschäftsordnung sorgte Erhard Kirchhof schließlich für eine Absetzung des Punktes. Die Fraktionen wollen sich noch einmal über das weitere Prozedere unterhalten.

Der Bürgerantrag von Pastor i. R. Martin Hankemeier, der sich für den Bau einer Gedenkstele für die jüdischen Opfer der Nazi-Diktatur nach Plänen von Professor Axel Seyler ausgesprochen hatte (die LZ berichtete), wurde nicht behandelt. Ebenso nicht der Initiativantrag des Arbeitskreises Stadtgeschichte im Lagenser Heimatbund. Gustav Glitt und Hartmut Biere sprachen sich darin für eine Anbringung einer Gedenktafel am Ehrenmal an der Eichenallee aus.

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Lippische Landes-Zeitung, 30.08.2005:

"Damit sie einen ewigen Namen bekommen"

Pastor i. R. Martin Hankemeier beantragt Bau einer Gedenkstele für jüdische Nazi-Opfer auf dem Friedensplatz

Lage (be). Eine fruchtbare und sachliche Diskussion wünschte sich Kulturausschussvorsitzender Hans-Martin Kaup, als er seine Pläne für eine Gedenkstätte im Friedenspark vorstellte (die LZ berichtete). Jüdischer Nazi-Opfer und Toten der Bombenangriffe auf Lage sollte mit der Errichtung von zwei identischen Betonelementen gedacht werden. Jetzt kommt die Diskussion darüber in Gang.

In Abstimmung mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit bringt Pastor i.R. Martin Hankemeier (Detmold) einen eigenen Antrag zum Bau einer Gedenkstele bei der Stadt ein. Dabei handelt es sich um einen Entwurf des renommierten lippischen Bildhauers Professor Axel Seyler. An der Stele soll eine Tafel mit den Namen der Lagenser Juden angebracht werden, die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. "Einen ewigen Namen will ich ihnen verleihen, der nicht ausgetilgt werden soll." Dieses Bibelzitat des Propheten Jesaja soll über der Liste von 21 ermordeten Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Lage stehen.

Die Stele hat ein quadratisches, konkaves Grundmaß von 85 mal 85 Zentimetern und erweitert sich über einem Fünfeck zu einem Sechseck in Anlehnung an den jüdischen Davidstern. Sie hat eine Höhe von zirka 3,50 Metern und soll aus Gussmauerwerk gestaltet werden. In Gesprächen mit Museumsleiter Willi Kulke erreichte Pastor Hankemeier, dass die Ziegel kostenlos im Ziegeleimuseum nach den Vorgaben von Prof. Seyler gebrannt werden.

Für beide Gruppen, Juden und Deutsche, so wie von Hans-Martin Kaup vorgeschlagen, zwei gleich große Mauern zu errichten, die nebeneinander stehen, hält Hankemeier für nicht sinnvoll. "Das ist auch die Meinung meiner jüdischen Freunde. Das Gedenken an Juden und allgemeine Kriegsopfer sollte nicht vermengt werden", unterstreicht der Detmolder. Darüber habe er auch mit Hans-Martin Kaup gesprochen. "Ich kann mir vorstellen, dass wir gemeinsam einen Weg finden. Ich bin für eine zweite Stele für die Bombenopfer, an der dann auch Kränze niedergelegt werden können", sagte der Sozialdemokrat gestern auf LZ-Anfrage. Die zweite Stele sollte in sichtbarem Zusammenhang mit der ersten an einer anderen Stelle stehen.

"Jüdische Bürger sollen sich freuen"
Martin Hankemeier

Pastor Martin Hankemeier votiert ebenfalls für ein weiteres Denkmal für die Bombenopfer im Friedenspark, jedoch müsse ein mögliches Missverständnis einer Parallelsetzung von Holocaust-Opfern einerseits und Opfern durch Kriegshandlungen andererseits vermieden werden. "Wichtig ist, dass sich die heutigen jüdischen Bürger aus Lippe und Umgebung sowie die Nachfahren der ehemaligen jüdischen Bürger aus Lage über die Gedenkstele freuen und sich nicht aus Verärgerung über eine mögliche Parallelsetzung abwenden", betont Hankemeier. Die jüdischen Vertreter der zuständigen Synagoge in Herford hätten den Entwurf von Prof. Seyler freudig aufgenommen. Die Plakette mit den Namen wird gesponsert von Hans Werthauer, dessen Vater beim Todesmarsch ins KZ Dachau ermordet wurde. Er sagt: "Mein Vater hat kein Grab. Das soll sein Grabstein werden."

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Lippische Landes-Zeitung, 15.04.2005:

Gegen das Vergessen

Erster Stadtrundgang zur jüdischen Geschichte

Lage. Zum ersten offiziellen Stadtrundgang zur jüdischen Geschichte im Rahmen der jährlichen Veranstaltungsreihe des Lippischen Heimatbundes Ortsverein Lage konnten Ursula Nebel und Gustav Glitt kürzlich einige Interessierte begrüßten. An der Rückseite Lange Straße 87, "Am Drawen-Hof", hatten sich 20 Lagenser Bürger und einige Gäste von außerhalb eingefunden.

Beim zweistündigen Stadtrundgang wurden 15 Stationen früheren jüdischen Lebens aufgesucht. Die Teilnehmer lauschten aufmerksam den Erklärungen von Gustav Glitt zu den ehemals jüdischen Wohnsitzen, der jüdischen Schule und Synagoge. Zeitzeugen bereicherten die Reise in die Vergangenheit mit Fragen und Beiträgen. Am Anfang des Rundganges stimmten alle Anwesenden zu, dass der ehemalige Bundespräsident Johannes Rau mit seinem Ausspruch vor der Knesset in Jerusalem im Jahr 2000 Recht hatte, als er sagte: "Wenn die Zeitzeugen verstorben sind, muss das Wissen in die Hände der Jugend übergeben sein."

Zu der andiskutierten Ausgestaltung des Stadtrundganges mit dem hölzernen Stadtmodell von 1720 und zur Aufstellung von Erinnerungstafeln in der Innenstadt äußerten sich die Teilnehmer zustimmend.

Hinsichtlich der Willkürmaßnahmen gegen jüdische Menschen in Lage und deren Ermordung in KZ-Lagern muss nach aktuellen Recherchen von Martin Hankemeier und Stadtarchivarin Christina Pohl davon ausgegangen werden, dass nicht 9, sondern 18 einst in Lage geborene oder lebende Juden umgebracht worden sind.

Diesen "Opfern der Judenverfolgung" soll laut Pressemitteilung ein namentliches Andenken auf einer Bronzetafel in der Eichenallee gewidmet werden.

Der Stadtrundgang wird am Samstag, 19. April, 15 Uhr ab "Am Drawen Hof" per Fahrrad oder Pkw mit dem zweiten Teil fortgesetzt. Zuerst werden in der Pottenhauser Straße die ehemaligen Wohnsitze der Familien Bloch und Hammerschlag besucht. Weiter geht es über die Holzhofbrücke zur Eichenallee. Gegen 16 Uhr werden die Teilnehmer den Jüdischen Friedhof an der Flurstraße erreichen.

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Lippische Landes-Zeitung, 24./25.07.2004:

Heimlich ins Haus geschlichen

Pastor i. R. Martin Hankemeier beleuchtet Schicksal der jüdischen Familie Löwenthal

Lage (be). Sie waren Kaufleute, Seifensieder und Handwerker. Jüdische Familien wie die Werthauers, Vogelsteins und Obermeiers waren in Lage bekannt und beliebt - bis die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Über ihre Schicksale schreibt Pastor i.R. Martin Hankemeier in seinem Buch "Zur Geschichte der Juden in Lage." Im Verlauf langwieriger Recherchen trug der Detmolder, der von 1967 bis 1990 Pfarrer der evangelischen Marktkirche in Lage war, bisher unbekannte Details vom Leidensweg der Familie Löwenthal zusammen, die den Band ergänzen.

Bisher wusste man nur, dass Max und Johanna Löwenthal mit ihren vier Kindern Anfang des 20. Jahrhunderts in der Langen Straße 95 a wohnten. Max Löwenthal handelte mit Kaffee und Spirituosen. Privat verkehrte er vor allem mit Kaufmann Hermann Hartmann, Lange Straße 136. 1907 zogen die Löwenthals nach Hannover. Dort hat sie Paula Tönnies, geborene Meier, mit ihrem Mann 1933/34 besucht. In ihrer Kindheit war sie eng mit Anna Löwenthal befreundet. "Heimlich haben wir uns in das Haus geschlichen. Wir durften sie schon lange nicht mehr besuchen. Sie freuten sich sehr, legten jedoch sofort den Finger auf den Mund und bedeuteten uns, wir sollten vorsichtig und vor allem leise sein. Sie hatten große Angst," erinnerte sich die Lagenserin in einem Gespräch mit Hankemeier. Mit Hilfe der Historikerin Marlis Buchholz fand er heraus, dass die Löwenthals um 1940 gezwungen wurden, in eine enge Wohnung in der Bergmannstraße 10 zu ziehen, in ein Haus mit vielen jüdischen Familien. Am 4. September 1941 wurde Mutter Johanna mit Tochter Anna zwangsweise in eines der 16 so genannten Judenhäuser an der Straugriede 55 eingewiesen. In der Trauerhalle des jüdischen Friedhofs waren die Juden in unvorstellbarer Enge eingepfercht, fand die Historikerin heraus, die das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte wissenschaftlich beleuchtet.

Als die Deportation in die Konzentrationslager einsetzte, leerten sich nach und nach die "Judenhäuser". Nun wurden Johanna und Anna Löwenthal in die Ellernstraße 16 verlegt, wo sich das frühere jüdische Krankenhaus Hannovers befand.

Vor dort erfolgte der Transport zunächst zur Gestapo-Sammelstelle auf dem Gelände der ehemaligen jüdischen Gartenbauschule Ahlem, bevor Anna Löwenthal am 31. März 1942 über Hannover-Linden zusammen mit über 500 anderen Juden in Viehwaggons aus der Stadt nach Warschau deportiert wurde. Ihre Spur verliert sich im KZ Treblinka. Ihre Mutter Johanna wurde nach Theresienstadt bei Prag gebracht, wo sie im Getto am 17. November 1942 starb. Vater Max erlag einem Krebsleiden. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hannover beigesetzt. Wie Martin Hankemeier erfuhr, zogen zwei weitere Kinder der Löwenthals nach Berlin. Was aus ihnen wurde, ist bisher nicht bekannt.

"Bei der Gedenkfeier am 9. November auf dem jüdischen Friedhof an der Flurstraße in Lage kann nun auch der Ermordung von Johanna und Anna Löwenthal gedacht werden", so Pastor Hankemeier.

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Lippische Landes-Zeitung, 08.01.2002:

Gegengewicht zum wachsenden Antisemitismus

"Lippischer Landesverein zur Pflege der jüdischen Geschichte und Literatur" existierte bis 1917

Lage (be). Von 1899 bis 1917 existierte in der Zuckerstadt der "Lippische Landesverein zur Pflege der jüdischen Geschichte und Literatur". Damit beschäftigt sich Volker Beckmann in der "Zeitlupe 2001" (Historisches Jahrbuch für Lage).

Hintergrund der Gründung war der wachsende Antisemitismus im Kaiserreich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Ziel des Vereins war es, im Rahmen einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden zu verteidigen und die kulturelle Identität dieser Bevölkerungsgruppe zu stärken. "Die Ausdifferenzierung von Interessenverbänden in den verschiedenen Konfessions-, Parteien- und Wählermilieus war eine gesamtgesellschaftliche Erscheinung im Deutschland der 1890er Jahre", so Beckmann in seinem Beitrag für das historische Jahrbuch.

Besonders jüdische Männer, die in verschiedene, der Allgemeinheit zugänglichen Gesellschafts- und Kulturvereine integriert waren, verspürten zu der damaligen Zeit das Bedürfnis, ihre kulturelle Identität in einer eigenen Gruppierung stärker zu akzentuieren. Lages Bürgermeister Lünning genehmigte am 13. Januar 1899 die Satzung des "Lippischen Landesvereins zur Pflege der jüdischen Geschichte und Literatur". Nach Paragraph 1 bestand der Zweck des Vereins darin, "die Kenntnis der jüdischen Literatur zu fördern. Dem Verein als solchem liegen alle religiösen und politischen Tendenzen fern. Die Erörterung bezüglicher Fragen ist ausgeschlossen."

Von anfangs zunächst 70 stieg die Mitgliederzahl auf 90 (1902). Seit 1912 bis zur Auflösung des Vereins im Jahre 1917 gehörten ihm konstant 20 Personen an. Kaufmann Heinemann Vogelstern (1842 – 1915) wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt. Weitere Vorstandsmitglieder waren der Lehrer und Prediger Friedrich Saphra aus Lemgo, Zigarrenfabrikant Moritz L. Kabaker (Lemgo) sowie Lehrer Abraham Plaut aus Detmold. Referenten bei den regelmäßigen Vortragsveranstaltungen waren reformorientierte Rabbiner, Lehrer und Schriftsteller, die Themen auswählten, die dem Wertsystem der sozialen Klasse, der sie selbst und ihre Zuhörerschaft angehörten, entsprachen.

Nach dem Tod des Vorsitzenden Vogelstein und dem Beginn des Ersten Weltkrieges ließ das Interesse am Verein nach, so dass die Auflösung entsprechend der Satzung erfolgte.


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