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Schaumburger Zeitung , 21.07.2004 :

Ernst Torgler – zwischen Widerstand und Kollaboration / Chef der KPD-Reichstagsfraktion kümmert sich nach Kriegsende in Bückeburg um die Flüchtlingsbetreuung

Von Wilhelm Gerntrup

Bückeburg. Wenn es noch eines Beweises für Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit des Widerstandes während der NS-Zeit bedurft hätte, dann liefert ihn Ernst Torgler. Torgler war als Chef der Berliner KPD-Reichstagsfraktion einer der bekanntesten und einflussreichsten Politiker der Weimarer Republik. Nach dem Krieg lebte und arbeitete er in Bückeburg.

Torgler war 1893 in Berlin geboren worden. Schon als Schüler musste er als Laufbursche Geld hinzuverdienen. Später schlug er sich als Verkäufer, Handlungsreisender und Buchhalter durch. Mit 18 trat er in die SPD ein. Durch den Zusammenschluss der Parteilinken (USPD) mit den Kommunisten kam er zur KPD. Von 1924 an saß er im Reichstag, während der letzten vier Jahre als Fraktionsvorsitzender. Zusammen mit Wilhelm Piek hatte er entscheidenden Anteil daran, dass die Partei bei den letzten freien Reichstagswahlen 1932 rund 13 Prozent der Wählerstimmen bekam. Sie stellte mit 77 Abgeordneten die drittstärkste Fraktion.

In den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rückte Torgler als einer der Hauptangeklagten im so genannten "Reichstagsbrandprozess". Das Feuer in der Nacht des 27. Februar 1933 wurde von den NS-Strategen zu einer beispiellosen Hetzpropaganda gegen "hochverräterische bolschewistische Umtriebe" und zu einer gnadenlosen Hatz auf die KPD-Funktionäre genutzt. Da traf es sich gut, dass Torgler am Abend vor dem Brand das Reichstagsgebäude als letzter verlassen hatte. Um jedweden Verdacht von vornherein auszuräumen, meldete sich Torgler gleich am nächsten Morgen bei der Polizei. Er wurde festgenommen. Im September 1933 kam es zum spektakulären Prozess. Neben Torgler saßen drei bulgarische Kommunisten namens Dimitrow, Taneff und Popoff sowie der holländische Anarchist Marinus van der Lubbe auf der Anklagebank.

Für viele überraschend, wurden Torgler und die drei Bulgaren freigesprochen. Als Alleinschuldiger blieb der während der Verhandlung weitgehend apathisch und zeitweise verwirrt wirkende van der Lubbe übrig. Er wurde kurz nach der Urteilsverkündung hingerichtet.

Torgler blieb trotz des Freispruchs in Haft. 1935 kam er frei. Dass er, im Gegensatz zu den meisten KPD-Funktionären, überlebt hatte, führten die Beobachter auf das große Interesse zurück, dass der Prozess und die Person Torglers weltweit gefunden hatten. Bei seinen im Untergrund lebenden politischen Freunden um Wilhelm Piek jedoch kam Misstrauen auf. Die Anzeichen mehrten sich, dass sich Torgler auf eine Zusammenarbeit mit den Nazis eingelassen hatte. Das Exil-Zentralkomitee schloss ihn als Parteimitglied aus.

Während des Krieges arbeitete Torgler als Angestellter der "Treuhandstelle Ost". Die im Wartheland angesiedelte Behörde kümmerte sich um die Verwaltung der polnischen Vermögenswerte. Kurz vor Kriegsende kamen die Reste der Dienststelle nach Bückeburg. Sie bezogen Räume im Schloss. Im Zuge des Wiederaufbaus der Bückeburger Verwaltung wurde Torgler im Herbst 1945 von der Stadt übernommen. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte die Flüchtlingsbetreuung.

"Er war ein hagerer, sehr freundlich und intelligent wirkender Mann", erinnert sich sein damaliger Kollege Helmut Kaule, später stellvertretender Stadtdirektor. "Natürlich wusste jeder, wer er war". Gesprochen worden sei über "die damaligen Dinge" aber nie. Auch der heute 80-jährige Friedrich Fricke, lange Jahre Personalratsvorsitzender und später Jugendamtsleiter der Stadt, hat das Auftauchen des aus Zeitung und Rundfunk "jedem Schulkind" bekannten Politikers im Nachkriegsbückeburg noch vor Augen. "Das war wie bei einer Kuh mit acht Beinen". Alle hätten sich gewundert, "dass so einer überhaupt noch lebt".

Während Torgler von seinen Kollegen und Nachbarn mehr und mehr geschätzt und geachtet wurde, wollten seine einstigen politischen Weggefährten nichts mehr von ihm wissen. "Wir hätten ihn gut gebrauchen können", berichtete später der Stadthäger Landrat Ernst Meier, Nummer eins der hiesigen Nachkriegs-KPD. "Schließlich war er ein hochintelligenter und fähiger Mann". Doch Meier und seine politischen Freunde hierzulande durften nicht. Wilhelm Piek selber schaltete sich ein. "Jedem kleinen Genossen und Funktionär gestatte ich, dass er versucht, sich zu helfen, aber so etwas macht kein leitender Genosse, wie das, was Ernst Torgler gemacht hat", heißt es in einem Brief aus der Berliner ZK-Zentrale.

Ernst Torgler verließ später Bückeburg. Er starb am 19. Januar 1963 in Hannover.


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