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Mindener Tageblatt , 20.07.2004 :

"Verbrechen stoppen, auch am eigenen Volk" / Philipp Freiherr von Boeselager ist einer der letzten noch lebenden Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 und erinnert sich im MT-Interview

Von Frank Werner

Minden (mt). Aus Anlass des 60. Jahrestages des Attentates auf Hitler und des gescheiterten Umsturzversuches gegen das NS-Regime am 20. Juli 1944 zeigen das Preußen-Museum Minden und die Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik noch bis morgen im Preußen-Museum die Wanderausstellung "Aufstand des Gewissens" des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Philipp Freiherr von Boeselager ist einer der letzten noch lebenden Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 und erinnert sich im MT-Interview.

Wie haben Sie den 20. Juli 1944 in Erinnerung?

Ich war mit meinen Reiterschwadronen, die ich aus der Front gelöst hatte, auf dem Weg nach Westen, zu einem Feldflugplatz in der Nähe von Brest-Litowsk. Ein Gewaltritt lag hinter uns, 200 Kilometer in 36 Stunden. Wir sollten von dort nach Berlin-Tempelhof fliegen und den Umsturz absichern. Zu unseren Aufgaben gehörte es, Goebbels, Dietrich und andere Nazi-Funktionäre festzunehmen. Am späten Nachmittag erhielt ich die Nachricht: "Alles in die alten Löcher." Das war das Deckwort für das Fehlschlagen des Attentats. Wir sind zurück an die Front geritten.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Scheitern des Attentats erfuhren?

Ich war sicher, dass ich verhaftet würde. Wissen Sie, es war eine beschissene Zeit. Jeden Tag hörte man Meldungen über neue Verhaftungen oder Selbstmorde von Bekannten. Erst als mein Bruder noch nach seinem Tode befördert wurde, war mir klar, dass wir davongekommen waren. Ich habe die ganze Zeit das Zyankali in der Brusttasche getragen, das mir Generalfeldmarschall Kluge einmal zugesteckt hatte.

Wenn das Attentat gelungen wäre - glauben Sie, der Staatsstreich hätte erfolgreich sein können?

In der Bevölkerung gab es kaum Verständnis für den Anschlag, der Hitler-Mythos war immer noch fast ungebrochen. Das glaube ich schon! Es war uns völlig klar, dass wir isoliert und gegen den Willen der Bevölkerung handeln. Die Stimmung im Reich haben wir ja bei jeder Fahrt mit der Straßenbahn mitbekommen. Nach dem Staatsstreich wäre aber wohl kein Widerstand mehr möglich gewesen, die SS wäre ausgeschaltet worden. Geplant war ja, fast alle Wehrbezirke einzubeziehen.

Was hat Sie bewogen, sich dem Widerstandskreis um Tresckow bei der Heeresgruppe Mitte anzuschließen? Standen Sie dem NS-Regime schon vorher skeptisch gegenüber?

Mein Elternhaus war linksrheinisch geprägt, das heißt, wir hatten uns durch die Kul-turkampferfahrungen von Preußen besetzt gefühlt und standen dem Staat an sich skeptisch gegenüber. Dieses Denken hat sich bis in die Weimarer Zeit gehalten. Die Nazis haben nach 1933 für Ruhe und Ordnung gesorgt, sie waren zwar Proleten, aber immer noch sympathischer als die Kommunisten. Wir dachten, wenn wir mitmachen, werden sie vernünftig werden. Ein paar Sachen haben uns nicht gefallen, aber wo gehobelt wird, fallen Späne. Als ich 1934 Hitler mit einem Freund im Rheinhotel Dreesen in Bad Godesberg sehen wollte, haben uns SS-Wachen 24 Stunden in eine Garage gesperrt. Diese barbarische Haltung gegenüber Kindern hat mich schon frühzeitig etwas vom Nationalsozialismus kuriert.

Dann aber wurden Sie Soldat. Haben Sie da schon an Widerstand gedacht?

Das kam erst 1942. Ich wollte gar kein aktiver Soldat werden, sondern in den Auswärtigen Dienst. Aber ich hatte Spaß an Pferden und am Reitsport, es gefiel mir. Während des Polenfeldzuges hörte man, dass die SS grausame Sachen macht, aber man bekam kein authentisches Bild. Es war schwer, sich eine Meinung zu bilden, das ging nur, wenn man Leute fragte, die man kannte. Wirklich von den Verbrechen erfahren habe ich erst im Juni 1942, als ich als Ordonnanzoffizier bei Kluge eine Meldung des SS- und Polizeiführers von dem Bach-Zelewski erhielt, auf der vermerkt war, dass fünf Zigeuner "sonderbehandelt" worden seien. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen und sprach den Feldmarschall darauf an, der den Begriff auch nicht kannte. Kluge stellte Bach-Zelewski zur Rede, der ihm erklärte, sie seien erschossen worden. Alle Feinde des Reiches würden erschossen. Er blickte dabei in besonderer Weise auf Kluge, der ihn fast rausgeworfen hätte. Kluge und seinen Stabsoffizieren dürfte die Mordpraxis doch nicht neu gewesen sein. Sie erhielten Berichte der Einsatzgruppen. Kluge interessierten solche Berichte gar nicht, außerdem versuchte man, so etwas zu verdrängen. Sie dürfen auch nicht vergessen, dass der Alltag vor allem von militärischen Aufgaben geprägt war, was das Verdrängen erleichterte. Informationen über Verbrechen erhielten wir vor allem von Hans Oster aus der Abwehr und Artur Nebe, dem Leiter der Einsatzgruppe B. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 habe ich gesicherte Informationen über die KZ-Verbrechen erhalten.

Sie kamen im Mai 1942 zur Heeresgruppe. Wann und wie hat Sie Tresckow in seine Widerstandspläne eingeweiht?

Das war im Oktober 1942. Als Ordonnanzoffizier hörte ich alle Telefongespräche, die Kluge führte, mit. Zu seinem 60. Geburtstag rief Hitler an, um ihm zu gratulieren und für seinen Kuhstall in Böhne für 250 000 Reichsmark Bezugsscheine für Baumaterial zu schenken. Kluge fragte mich nach meiner Meinung, und ich sagte ihm, dass mir kein Fall bekannt sei, in dem ein preußischer Feldmarschall oder General während des Krieges eine Dotation erhalten habe. Ich riet ihm, das Geld dem Roten Kreuz zu geben. Später fragte ich Tresckow, den ich als vertrauensvollen, ja fast väterlichen Offizier kennen gelernt hatte, um Rat. Als Tresckow mich bat, das Telefongespräch gegenüber Kluge erwähnen zu dürfen und ich wegen meiner Vertrauensstellung dagegen protestierte, sagte Tresckow, dass sich Kluge nicht vom Führer abhängig machen dürfe. Man brauche ihn noch im Kampf gegen Hitler.

Standen die Attentatspläne zu diesem Zeitpunkt schon fest?

Ja. Im Oktober 1942 ging es nicht mehr um das Ob, nur noch um das Wie des Attentats. Abweichende Meinungen, die sich unter Berufung auf die Rechtsstaatlichkeit gegen die Tötung Hitlers und nur für seine Festnahme aussprachen, wurden vor allem von Schlabrendorff als unrealistisch abgetan und ins Lächerliche gezogen. Auch Tresckow tat sich zunächst schwer mit dem Attentat.

Gab es eine Phase, in der er gezögert hat?

Nein, er hat stringent darauf hingearbeitet. Das Problem war nur, in Hitlers Nähe zu kommen. Die Generäle Wagner, Stieff und Fellgiebel, die es geschafft hätten, waren nicht bereit, selbst die Bombe zu legen. Tresckow war dazu bereit. Er hat versucht, mehrmals General Heusinger zu vertreten, um an Hitler heranzukommen. Heusinger aber hat abgelehnt - er hat wohl etwas geahnt. Schließlich war es nur noch Stauffenberg, der den Schneid hatte, die Bombe selbst zu legen, obwohl er wegen seiner Kriegsbehinderung dazu denkbar ungeeignet war.

Schon im März 1943 war ein Attentat auf Hitler bei einem Besuch der Heeresgruppe Mitte geplant. Warum kam es nicht dazu?

Es erschien einfacher, Hitlers Sicherheitskordon zu durchbrechen, wenn man ihn zu einem Frontbesuch locken konnte. Am 13. März war es so weit: Hitler besuchte das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte, um die Armeebefehlshaber für die Sommeroffensive zu gewinnen. Es war alles geplant und durchexerziert worden: Hitler und Himmler, der ihn begleiten würde, sollten beim Mittagessen im Offizierskasino mit Pistolenschüssen getötet werden. Einige Offiziere der Ia-Staffel und des gerade als geheime Eingreiftruppe aufgestellten Reiterverbandes "Boeselager" wollten das Attentat unter Führung meines Bruders durchführen. Ich selbst weihte Kluge in die Pläne ein - er sollte im Kasino ja immerhin direkt neben Hitler sitzen. Als ich ihm sagte, ich könnte mir vorstellen, dass Hitler den Raum nicht lebend verlassen wird, nickte Kluge nur. Als sich aber herausstellte, dass Himmler nicht dabei sein würde, verbot er das Attentat. Kluge befürchtete, dass es zu einem Bürgerkrieg zwischen SS und Wehrmacht kommen könnte, wenn Himmler am Leben bliebe.

Im Juli 1944 sollte das Attentat mit einer Bombe erfolgen. Sie selbst haben den Sprengstoff in einem Koffer nach Berlin transportiert. Wussten Sie, wofür er bestimmt war?

Es wurde mir nicht offiziell gesagt, aber es war mir klar. Ich musste den Sprengstoff ja heimlich in meinem Privatkoffer nach Berlin bringen. Mein Bruder gab mir die Order, den Koffer persönlich an General Stieff, einen Freund Tresckows im OKH, zu übergeben. Das habe ich gemacht.

Woher stammte der Sprengstoff?

Als Versuchstruppenteil bekamen wir im Reiterverband alle Sprengstoffe, wir sollten sie testen. Der englische Sprengstoff war der beste, weil die Zünder am leisesten waren. Zehn Kilo davon habe ich Stieff übergeben. Allerdings musste man zwei Zünder gebrauchen, um sicher zu gehen - Stauffenberg ist gestört worden und hatte nur die halbe Ladung aktiviert.

Haben Sie Stauffenberg persönlich getroffen?

Ich habe ihn nur zweimal kurz gesehen. Ich wollte aber nichts weiter von ihm wissen. Das war damals so: Was einen nichts anging, ging einen nichts an.

Aus Aufzeichnungen, die Stauffenberg am 20. Juli bei sich trug, geht hervor, dass die Rettung des Reiches als Motiv für den Anschlag eine starke Rolle spielte. Aus welchen Beweggründen haben Sie selbst gehandelt?

Es ging darum, die Verbrechen zu stoppen. Auch die Verbrechen am eigenen Volk. Der Krieg war verloren, das wussten wir alle. Von Schlabrendorff konnte doch in offizieller Funktion Feindsender abhören, die materielle Überlegenheit der Alliierten war für uns kein Geheimnis. Das Reich, das war uns klar, war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu retten.

Im Bereich der Heeresgruppe Mitte, in der Zuständigkeit Kluges und Tresckows, produzierte der "Partisanenkrieg" gewaltige Opferzahlen in der Zivilbevölkerung. Was sagen Sie zu Forschungspositionen, die auf eine Verstrickung der Verschwörer in die verbrecherische Kriegsführung hinweisen?

Es sind sicher Schweinereien passiert, und es wurde weggeschaut. Mir ist aber nicht bekannt und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer der Herren Kluge, Tresckow oder Gersdorff es befohlen oder auch nur geduldet hätte, dass Zivilisten erschossen werden.


Heute, Dienstag, 19.30 Uhr, präsentieren Schülerinnen und Schüler des Besselgymnasiums, des Herder-Gymnasiums, der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule und des Bückeburger Gymnasiums Adolfinum Projektarbeiten, die sich mit dem Widerstand gegen das NS-Regime befassen. Die Veranstaltung findet im Preußen-Museum, Simeonsplatz, statt. Die Schlussveranstaltung der Veranstaltungsreihe "Aufstand des Gewissens" findet morgen, Mittwoch, 11 Uhr, im Niedersächsischen Staatsarchiv, Schloss Bückeburg, statt.

Zur Person Philipp Freiherr von Boeselager

Philipp Freiherr von Boeselager (86) ist einer der letzten noch lebenden Widerstandskämpfer des 20. Juli. Im Kreis der oppositionellen Offiziere um Henning von Tresckow, die 1944 den Anschlag auf Hitler durchführten, spielte er ebenso wie sein Bruder Georg eine wichtige Rolle: Boeselager sollte als Ordonnanzoffizier den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, enger an den Widerstandskreis binden. Bereits 1943 war Boeselager an der Vorbereitung eines Pistolenattentats auf Hitler beteiligt. 1944 transportierte er den Sprengstoff, der später im Führerhauptquartier explodierte, von der Ostfront nach Berlin. Am 15. Juli löste der Kavallerieoffizier einen Reiterverband aus der Front in Richtung Westen, um den geplanten Umsturz in der Reichshauptstadt abzusichern. Boeselager lebt heute in Kreuzberg an der Ahr.


mt@mt-online.de

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