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Neue Westfälische , 23.12.2009 :

Falsche Handbewegung / Wie der Bielefelder Pädagoge Raimund Ottinger als Verfassungsfeind verdächtigt wurde

Von Doreen Koschnick

Bielefeld. Die Stimmung unter den Reisenden im Kleinbus ist ausgelassen. Auf der Fahrt von Bielefeld nach Berlin wird gesungen, gelacht und gescherzt, man lernt sich kennen, alle reden durcheinander, berichten von anderen Urlaubserlebnissen. Auch Fahrer Raimund Ottinger erzählt seinem Beifahrer anschaulich und gestenreich von einer Wildwasserkajaktour: "Und dann sind wir so den Fluss runtergeschossen und so wieder rauf." Die rechte Hand schnellt ruckartig in die Höhe. In diesem Moment blitzt es. Eine Radarfalle. Mit dem Foto beginnt für Ottinger eine unglaubliche Geschichte.

Raimund Ottinger ist Diplompädagoge und arbeitet seit 15 Jahren in der Begegnungsstätte Zweischlingen, einem Tagungshaus in Bielefeld-Quelle, ist außerdem Coach und Moderator im Bereich der Erwachsenenbildung, hat eine Zusatzqualifikation für Reisen mit behinderten Menschen und engagiert sich in vielen sozialen Bereichen. Mehrmals im Jahr begleitet er im Auftrag der "Reiseschmiede" in Bethel als Fahrer und Betreuer Menschen mit Behinderungen.

Am 26. Oktober brechen insgesamt zehn Reisende und vier Betreuer, verteilt auf zwei Kleinbusse einer Leihwagenfirma, für eine Woche nach Berlin auf. "Wir haben den Bundestag besucht, eine Führung im Olympiastadion gehabt, sind durchs Brandenburger Tor gegangen, haben Sightseeing mit dem Boot und dem Bus gemacht - alle hatten sehr viel Freude an der Reise", erinnert sich der 46-Jährige. Gut zwei Wochen später bekommt Ottinger einen Anruf auf dem Handy: Ein Polizeibeamter aus Bielefeld erklärt ihm, er ermittele in "der Bußgeldsache" und wolle ihn fragen, wie er sich die Armbewegung auf dem Foto erkläre. "Ich wusste gar nicht, worum es ging, ich hatte keinen Bußgeldbescheid vorliegen und fragte, woher der Polizist meine Handynummer hatte", so Ottinger. Die habe er bei der Leihwagenfirma in Erfahrung gebracht, sagte der Beamte. Und nun solle er bitte Stellung nehmen zu dem Foto, das ihn eindeutig mit Hitlergruß zeige.

Langsam dämmert es Raimund Ottinger: "Mein Beifahrer hatte damals gleich gesagt: 'Das wird bestimmt ein blödes Foto!'" Der Pädagoge klärt den Polizeibeamten über die Situation im Auto auf und beteuert, dass so etwas selbstverständlich wider seine Gesinnung sei. Lachend habe der freundliche Beamte ihm erklärt, dass sich seine Aussage mit den Angaben der Leihwagenfirma decke und die Sache damit erledigt sei. "Ich gebe das dann so nach Brandenburg weiter. Nicht dass noch der Staatsschutz aktiv wird", habe der Polizist hinzugefügt.

"Das wird bestimmt ein blödes Foto"

Doch dass schon Erkundigungen über ihn eingezogen wurden, bevor er überhaupt den Bußgeldbescheid erhalten hatte, lässt Ottinger stutzen. Er erfährt, dass die Polizei auch in Bethel bereits Nachforschungen angestellt hat. Silke Sielaff, Bereichsleiterin der Bußgeldstelle Brandenburg, erklärt, dass "grundsätzlich geprüft wird, ob eine Straftat vorliegt, wenn sich auf Grund eines Fotos ein Verdachtsmoment ergibt". Da die Geste strafbar ist, wurden die Bielefelder Kollegen deshalb nicht nur wegen der Fahrerermittlung um Amtshilfe gebeten. Auch Ulrich Buchalla, Kriminalbeamter beim Bielefelder Staatsschutz, bestätigt, dass solchen Hinweisen grundsätzlich nachgegangen werden müsse. Ermittlungen im Fall Ottinger seien ihm aber nicht bekannt.

Den Bußgeldbescheid bekommt der Verkehrssünder erst Ende November. Das Schreiben war zunächst bei der Leihwagenfirma, dann in Bethel gelandet und von einem der Geschäftsführer des Reiseunternehmens an Ottinger geschickt worden. Der Tatvorwurf: "Geschwindigkeitsüberschreitung im Bereich einer Brückenbaustelle um 16 km/h". Das Foto entsetzt den sozial engagierten Bielefelder. Seine Freunde amüsiert es umso mehr: "Die haben sich kaputtgelacht - 'ausgerechnet du mit so einer Geste'." Die 30 Euro zahlt Ottinger sofort. Trotzdem erreicht ihn am 11. Dezember eine Vorladung des Verkehrskommissariats in Brackwede: "In der Ermittlungssache Geschwindigkeitsüberschreitung am 26.10. ist Ihre Anhörung als Betroffener erforderlich."

Ottinger ist verwundert. Oliver Naber, Leiter des für Fahrerermittlungen zuständigen Verkehrskommissariats 22, klärt auf: "Normalerweise ist eine solche Angelegenheit gar nicht Sache der Polizei, sondern der jeweiligen Bußgeldstelle. Nur wenn die nicht weiterkommt bei der Fahrerermittlung, wird die örtliche Polizei um Mithilfe gebeten." Das nenne sich "Nachermittlung Ordnungswidrigkeiten". Naber: "Wenn wir dann nur eine Adresse haben und keine Telefonnummer, haben wir keine andere Wahl, als denjenigen anzuschreiben und ihn zu bitten, in der Sache bei uns vorzusprechen." Wegen Krankheit des zuständigen Polizeihauptkommissars sei die Nachermittlung doppelt gelaufen. Naber versichert, dass die Sache von Seiten der Bielefelder Polizei nun erledigt sei. Raimund Ottinger ist erleichtert. "Aber diese Reise werde ich bestimmt nicht so schnell vergessen", sagt er.

Bildunterschrift: Überrascht: Raimund Ottinger mit dem "Blitzer"-Foto.

Bildunterschrift: Verhängnisvolle Geste: Auf dem Radarbild hebt Ottinger den rechten Arm - und wird deshalb vom Staatsschutz unter die Lupe genommen.


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