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Schaumburger Zeitung , 28.02.2001 :

Die Odyssee endete in Vorwohle: Schiffsflüchtlinge eingeschleust

Stadtoldendorf (ube). Die lebensgefährliche Flucht in eine fremde, friedliche Welt – sie endete nach tausenden von Kilometern kurz vor dem ersehnten Ziel auf der B 64 in Lenne/Vorwohle. Dort stoppten Stadtoldendorfer Polizisten gestern um 4.35 Uhr einen Ford Galaxy. Am Steuer: ein mutmaßlicher Menschenschleuser (36). Im Wagen: zehn erschöpfte Flüchtlinge, darunter fünf Kinder (1,5 bis 7 Jahre alt) aus dem Nordirak.

Die Polizei in Holzminden vermutet, dass diese Menschen am 17. Februar an der französischen Cote d’Azur gestrandet sind. "Die Aufgegriffenen dürften an Bord des unter kambodschanischer Flagge fahrenden Frachters 'East Sea'" gewesen sein. Mit diesem schwimmenden Schrotthaufen – er ist bei einem Bergungsversuch gesunken – hatten skrupellose Kriminelle 908 Flüchtlinge aus dem Nordirak gegen viel Geld nach Europa geschleust.

Polizeisprecher Henning Stille sagte gestern, einer der Flüchtlinge habe einen Bruder (22) in Stadtoldendorf. "Vermutlich hat der Schleuser dieses Ziel angesteuert." Bei dem Verdächtigen handelt es sich um einen Türken (38) aus Lauchingen. Er war der Streifenwagen-Besatzung aufgefallen, weil er auffallend langsam gefahren war und mehrmals ohne Grund angehalten hatte. "Der Mann kannte sich nicht aus, hat offenbar nach dem Weg gesucht", glaubt Stille.

Für die Holzmindener Polizei sei die Festnahme des Schleusers und der Flüchtlinge kein alltäglicher Fall. Vom Fototermin bei der Spurensicherung bis hin zu der Abnahme von Fingerabdrücken seien die erkennungsdienstlichen Maßnahmen von Kindergeschrei begleitet worden. "Aber auch andere Dinge wie Verpflegung und Unterkunft müssen geregelt werden", sagte Henning Stille am Nachmittag. "Zurzeit sitzen die Flüchtlinge noch bei uns in der Wache." Erschwerend komme hinzu, dass eine Verständigung kaum möglich sei. Mit Hilfe eines Dolmetschers versuchten die Fahnder, Licht in das Dunkel um eine abenteuerliche und riskante Flucht zu bringen. "Obwohl die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, deutet vieles darauf hin, dass diese Gruppe von dem Flüchtlingsschiff stammt, das skrupellose Kriminelle in Frankreich absichtlich auf Grund gesetzt hatten."

Die Menschen aus dem Nordirak, die für die Überfahrt sehr viel Geld an Schlepperbanden bezahlen mussten, hatten von den französischen Behörden eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung für acht Tage erhalten. In dieser Zeit hätten sie sich in Frankreich, ausschließlich im Bereich Toulon, frei bewegen dürfen, hieß es. "Auf diese Regelung setzten offenbar auch die Schleuser, denn in dieser Zeit erfolgte der perfekt geplante Weitertransport per Auto", sagte Stille. "Es ging über die Grenze nach Deutschland bis in den Landkreis Holzminden." Bei der Fahrzeugkontrolle in Lenne/Vorwohle habe sich sehr schnell der Verdacht auf einen kriminellen Hintergrund ergeben. Der Autofahrer konnte sich zwar ausweisen, machte aber widersprüchliche Angaben. "Er ist offenbar dafür bezahlt worden, die Flüchtlinge nach Stadtoldendorf zu bringen." Bei dem Bruder eines der Flüchtlinge handelt es sich um einen 22-Jährigen, der als geduldeter Asylbewerber bereits seit sechs Jahren im Kreis Holzminden – und zurzeit in Stadtoldendorf – lebt. "Auch er war Ermittlern in den frühen Morgenstunden aufgefallen, weil er in der Neuen Straße ganz offenbar auf die Ankunft der Flüchtlinge wartete", berichtet Stille. Die Polizei nahm zunächst alle Personen fest.

Für das Einschleusen von illegalen Einwanderern sehe das Ausländergesetz eine Höchststrafe von fünf Jahren Haft vor, erläuterte Kriminalhauptkommissar Harald Schmidt. Für die Flüchtlinge, die ihr Ziel fast erreicht hatten, greift allerdings eine andere Regelung – sie müssen Deutschland umgehend wieder verlassen. Gemeinsam mit dem Ausländeramt des Landkreises Holzminden wurde gestern eine Rückführung – nach Frankreich – vorbereitet. In den vergangenen Tagen sind nach Angaben der Polizei nunmehr 83 "Passagiere" der "East Sea" in Deutschland aufgegriffen worden, die zu Bekannten nach Deutschland weiterreisen wollten.


sz@schaumburger-zeitung.de

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