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Bielefelder StadtBlatt , 03.05.2001 :

Nationalsozialismus / Späte Signale / Einige NS-Verbrecher werden jetzt von ihrer Vergangenheit eingeholt - auch Karl Friedrich Titho aus Horn in Lippe

Silvia Bose

56 Jahre haben die Opfer gewartet. In der vergangenen Woche hat sich der ehemalige SS-Offizier Karl Friedrich Titho endlich entschuldigt. "Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich als damaliges Mitglied der SS eine Mitschuld an den Taten habe, die von der SS in meinem Tätigkeitsfeld verübt wurden", sagte der 89-Jährige dem italienischen Fernsehsender RAI. "Dies belastet mich seit Jahrzehnten und ich möchte auf diesem Weg Opfer und Angehörige um Verzeihung bitten."

Titho leitete das norditalienische Polizeidurchgangslager Fossoli, später Bozen-Gries. Während seiner Leitung wurden allein aus Fossoli mehr als dreitausend Juden deportiert und 67 Gefangene als Vergeltungsakt für einen Partisanenanschlag auf deutsche Soldaten erschossen. Schuld daran will Titho nicht sein. "Die gesamte bürokratische Koordination ging von der Zentrale BdS (Befehlshaber der Sicherheitskräfte, d. Red.) in Verona aus", sagt er.

Verurteilt wurde er aber 1951 von niederländischen Gerichten zu insgesamt sieben Jahren Haft, weil er Anfang der 40er Jahre in KZs an der Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt war und Häftlinge misshandelt hat. Nach zwei Jahren haben ihn die Niederlande abgeschoben, seitdem lebt er wieder im lippischen Horn. In den siebziger Jahren ermittelte zwar die Dortmunder "Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen", stellte das Verfahren aber 1971 ein. Dass Titho von den Massenmorden an Juden nichts gewusst habe, hielt die Staatsanwaltschaft zwar für "in hohem Maße unglaubhaft". Trotzdem hielt sie dem ehemaligen SS-Offizier zugute, dass "das nahende Kriegsende es für den Beschuldigten möglich erscheinen lassen konnte, dass die aus Italien deportierten Juden nicht mehr getötet werden würden".

Kollektives Beschweigen

Solche Einschätzungen waren an der Tagesordnung – unter anderem, weil acht Staatsanwälte braunen Dreck am Stecken hatten. Zwischen 1961 und 1995 hat die Zentralstelle in nur 55 von fast 1.300 Verfahren Anklage erhoben, dabei ging es 158 von rund 25.000 Beschuldigten ans Leder. Seit dieser Bilanz ist lediglich eine Anklage dazu gekommen. Dass die "Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen in mancher Hinsicht nicht befriedigend war", räumte kürzlich auch der NRW-Justizminister Jochen Diekmann ein, verwies aber gleichzeitig auf die "historische Bedingtheit". "Den Erfolg dieser Arbeit nur in Anklagen, Verurteilungen und Strafmaßen zu messen, greift zu kurz", erklärte der Minister und lobte: "Die Arbeit der Zentralstellen hat wesentlich dazu beigetragen, die Phase des kollektiven Beschweigens zu beenden und die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit in der Bundesrepublik voranzutreiben."

Viele teilen dieses Lob nicht. "Man hat sich mit der Aburteilung einiger weniger Größen diesem Teil der deutschen Geschichte entledigt", sagt etwa Dieter Zoremba von der Arbeitsgemeinschaft Fossoli, die den Fall Titho recherchiert hat und nun eine öffentliche Diskussion fordert. "Täter auf anderen Ebenen ließ man unbehelligt. Insofern ist Titho exemplarisch."

Unbehelligt blieb auch Anton Malloth, der zur Wachmannschaft in der "Kleinen Festung Theresienstadt" gehörte und den 1948 ein tschechisches Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilte. Gegen den Mann ermittelte die Dortmunder Zentralstelle mehrere Male, stellte die Verfahren aber in gewohnter Manier ein. Malloth hat unter anderem einen Gefangenen mit dem Gummiknüppel derart verprügelt, dass er an seinen Verletzungen starb. "Sichere Rückschlüsse auf einen bedingten Tötungsvorsatz" konnte die Dortmunder Staatsanwaltschaft darin nicht erkennen. Die Verwendung eines Gummiknüppels "spricht eher gegen einen solchen Vorsatz", heißt es in der 186 Seiten dicken Einstellungsverfügung. Also kein Mord; und Totschlag ist verjährt.

Seit vergangener Woche steht der 89-jährige Malloth in München vor Gericht – wegen Mordes in drei Fällen. Übrigens: Den Platz im Pullacher Altersheim vermittelte Gudrun Burwitz, Tochter von Heinrich Himmler, im Auftrag der "Stillen Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte" – einem Verein, der sich der finanziellen und juristischen Unterstützung von alten und neuen Nazis verschrieben hat. Laut Süddeutsche Zeitung ist auch Malloths Anwalt Klaus Goebel Aktivist der "Stillen Hilfe". Goebel hat die Verteidigung seines Mandanten jetzt abgetreten, hat aber noch das Mandat inne.

Malloth ist nicht der einzige NS-Täter, den seine Vergangenheit einholt. Anfang April verurteilte das Landgericht Julius Viel wegen Mordes an sieben KZ-Häftlingen zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe. Der Journalist und Bundesverdienstkreuzträger Viel hatte unbehelligt gelebt bis im vergangenen Jahr sein ehemaliger Untergebener Adalbert Lallier sich aus Kanada und gegen ihn aussagte.

Vor allem Kriegsverbrecher, die in Italien gewütet haben, stehen im Mittelpunkt. Der Grund: Als in den fünfziger Jahren die NATO geschmiedet wurde, bremste die Politik – deutsche Militärs auf der Anklagebank hätten die Kritik an der Wiederbewaffnung Deutschlands gestärkt. Enrico Santacroce, Chef der militärischen Anklagebehörde, ließ 1960 Akten über mehr als zweitausend Verbrechen archivieren und wegschließen. Einige wurden Mitte der sechziger Jahre an deutsche Staatsanwaltschaften übergeben. Aber die wichtigsten Akten, knapp siebenhundert Ermittlungsverfahren, blieben unter Verschluss. Sie wurden erst Mitte der neunziger Jahre im sogenannten Schrank der Schande wiederentdeckt und an Militärgerichte weitergeleitet.

Als erstes wurde der 1998 der von Argentinien ausgelieferte ehemalige SS-Mann Erich Priebke wegen der Ermordung von 335 Geiseln zu "Lebenslang" verurteilt – mit ihm der SS-Sturmbannführer Karl Hass. Ins Gefängnis muss Priebke wegen seines hohen Alters nicht. Er steht unter Hausarrest und empfängt unter anderem Gesinnungsgenossen von "Der Freiwillige". Das Naziblatt berichtet begeistert vom Besuch, geißelt das dem "uralten Kameraden" angetane "Unrecht" und lobt den "aufrechten und disziplinierten Offizier der alten Schule".

Auslieferung zukünftig möglich

Nach Priebke ging es auch Theodor Saevecke an den Kragen. Er war Mitglied einer SS-Einsatztruppe, die von Judenräten in Tunesien fünfzig Millionen France und 43 Kilogramm Gold erpresste. Als er später Polizeichef von Mailand war, wurden 1.200 Juden und fast genauso viele Widerständler in deutsche Vernichtungslager deportiert und 15 Partisanen erschossen. Für letzteres verurteilte das Militärgericht Turin Saevecke zu lebenslanger Haft – in Abwesenheit. Der Rentner genoss derweil in Bad Rothenfelde seine Pension, die er sich beim Bundeskriminalamt unter anderem verdient hat mit der Durchsuchung der Spiegelredaktion 1962 wegen angeblichen Landesverrats. Nach dem Schuldspruch nahm die Osnabrücker Staatsanwaltschaft die Ermittlungen auf; zur Anklage kam es nicht mehr – Saevecke ist vor wenigen Monaten gestorben.

In Abwesenheit verurteilt wurde im vergangenen Jahr auch der in Kanada lebende Michael Seifert. Im Lager Bozen-Gries, das von dem in Horn lebenden Karl Friedrich Titho geleitet wurde, hat Seifert Gefangene vergewaltigt, gefoltert und ermordet. Gegen Titho selbst ermittelte das Militärgericht La Spezia, stellte das Verfahren aber 1999 wegen Mangel an Beweisen ein. Beweise könnten jedoch durch neue Zeugen noch auftauchen, wenn der Fall Titho öffentlich diskutiert wird. Dafür sorgen derzeit italienische Medien und in Horn der Arbeitskreis Fossoli. Wenn es zur Anklageerhebung käme, könnte die Verhandlung sogar in Anwesenheit des Beschuldigten stattfinden.

Um mutmaßliche Täter vor den Internationalen Gerichtshof stellen zu können, wurde im vergangenen Jahr das Grundgesetz geändert, damit auch die Bundesrepublik deutsche Staatsbürger ausliefern kann. Allein das Ausführungsgesetz fehle noch, erklärt Marita Strasser vom Bundesjustizministerium. Das werde aber beschlossen, sobald das 1996 vereinbarte Auslieferungsabkommen der Europäischen Union von fast allen Mitgliedsstaaten ratifiziert sei. Vorangetrieben wird die Diskussion um Auslieferung derzeit durch den Fall des Hamburger Friedrich Engel. Den ehemaligen SS-Chef von Genua verurteilte das Turiner Militärgericht 1999 wegen 246-fachen Mordes. „Damit der Gerechtigkeit im Sinne der Opfer genüge getan wird“, dränge Italien jetzt auf Konsequenzen, so Strasser.

Auch ein Schuldspruch im Fall Titho wäre ein Signal für die Opfer und ihre Angehörigen. Selbst wenn es dazu nicht kommt, ist schon einiges erreicht: Dank der AG Fossoli wird das Thema jetzt öffentlich diskutiert und die Stadt Horn ist bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie stellt für eine Veranstaltung der AG Räumlichkeiten zur Verfügung, will eine Straße nach dem sechs Wochen alten, deportierten und ermordeten Mädchen Gina Labi benennen und denkt darüber nach, einen Gedenkstein in Fossoli zu errichten. "Das wäre ein Signal für die Bevölkerung vor Ort", erklärt Bürgermeister Eberhard Block (SPD). "Und wir würden der italienischen Bevölkerung zeigen: Wir stellen uns der Verantwortung, auch wenn wir selbst keine Schuld tragen."

Info: Am Freitag, 4. Mai informiert die AG Fossoli in der Horner Burgscheune ab 19.30 Uhr über Karl Friedrich Titho und den Umgang mit NS-Tätern.

Kontakt über agfossoli@freenet.de


s.bose@t-online.de

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