Bielefelder StadtBlatt ,
28.09.2000 :
Geschichte / “Ich war ein anständiger Mensch” / In Horn lebt der ehemalige NS-Lagerleiter Karl Friedrich Titho /
Antifaschisten wollen den Mann zur Rechenschaft ziehen
und stören den Kleinstadtfrieden
Silvia Bose
"Hewwern, de Kräone", heißt es auf Plattdeutsch – "Horn, die Krone" im Kranze der lippischen Städte. Da ist was dran, werden sich Besucher sagen, wenn sie durch die Kleinstadt schlendern, vorbei an berankten Stadtmauern, der spätgotischen Kirche und der Burg. Entlang schmaler Gassen drücken sich weiße Häuschen; Autos zuckeln im Tempo 30 über das Kopfsteinpflaster. Mittags sind es nur wenige, weil dann die Läden geschlossen sind. In den Schaufenstern ist so viel nicht zu sehen, deshalb verschlägt es einige ins Café Röwer zu Bienenstich, Schwarzwälder oder Ochsenschwanzsuppe. In Horn-Bad Meinberg könnte die Welt in Ordnung sein. Wenn da nicht Karl Friedrich Titho wäre.
Rückblende: Es muss noch kühl gewesen sein um 5 Uhr morgens, als SS-Leute im Polizeidurchgangslager Fossoli siebzig Gefangene aus ihrer Baracke holten und sie auf Lastwagen trieben. Sie sollten verlegt werden. Sagten die SS-Leute dabei. Dabei schaufelten schon zehn jüdische Gefangene auf dem Schießplatz im nahegelegenem Carpi eine Grube. Dort las an jenem Tag, dem 12. Juli 1944, ein Dolmetscher den Erschießungsbefehl. Zwei Menschen konnten fliehen, 68 tötete die SS.
Dies ist nicht das einzige Verbrechen, das Deutsche im norditalienischen Lager Fossoli begangen haben. In Gerichtsakten ist von "Exzesstaten" die Rede und auch von mehr als dreitausend Juden, die dort von November 1943 bis Ende 1944 zusammengetrieben und in Konzentrationslager nach Auschwitz, Bergen-Belsen und Ravensbrück deportiert wurden. Für die Verbrechen musste niemand büßen – jedenfalls nicht der Lagerleiter von Fossoli, Karl Friedrich Titho.
"Der scheint das verdrängen zu können, die Opfer nicht", sagt ein Antifa-Aktivist. Deshalb wollen er und seine Mitstreiter italienische KZ-Überlebende einladen, die Horner Bürger aufklären und dafür demonstrieren, dass die Straße umbenannt wird, in der Titho lebt. Gina-Labi-Straße soll sie heißen, benannt nach einem sechs Wochen alten Mädchen, das aus Fossoli deportiert und in den Gaskammern von Bergen-Belsen ermordet wurde. Davon will aber kaum einer der 19.000 Horn-Bad Meinberger etwas wissen. Denn die braune Vergangenheit Tithos verträgt sich so gar nicht mit "Hewwern, de Kräone", für die die Stadt in ihren Hochglanz-Prospekten betagte Pärchen verzückt lächeln lässt, als hätten sie gerade in Horn die Liebe ihres Lebens und den Frieden auf Erden gefunden.
Die Horner lasen vor zwei Jahren, dass das Militärgericht La Spezia gegen Titho ermittelt. "Da wurde viel drüber gesprochen", erinnert sich Maria Pia Fuhrmann vom Ausländerbeirat und findet wie viele: "Das ist ein alter Mann. Der hat seine Strafe gehabt. Lasst ihn in Ruhe." Die Antifa ist da anderer Meinung. Schließlich wurde Titho nicht verurteilt – jedenfalls nicht für die Verbrechen in Italien, sondern für die in Holland. 1950 verurteilte ihn die holländische Justiz zu sieben Jahren Haft, weil er Anfang der 40er Jahre im KZ Amersfoort an der Erschießung von sowjetischen Kriegsgefangenen beteiligt war und im KZ Vught gefoltert hat. Seit Titho 1953 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, lebt er wieder in seinem Heimatland Lippe, wo er vor fast 90 Jahren in Veldrom nahe Horn geboren wurde.
Unbehelligt, sagt die Antifa. "Schlimmer kann es nicht kommen", meint dagegen Titho und klagt über die Plakate und Flugblätter der Antifa. "Die wollen mir das Leben zur Hölle machen." Fragen von der Presse beantwortet er nicht gern und treffen will er sich schon gar nicht mit Journalisten, weil er einmal schlechte Erfahrungen mit der Bild-Zeitung gemacht hat. Nur so viel will er sagen: "Schreiben Sie nichts über mich. Ich bin doch keiner Partei beigetreten, habe hier still und leise gelebt. Es ist alles gesagt und gerichtlich entschieden. Alle Verfahren wurden eingestellt."
Ende der 60er Jahre ermittelte die "Zentralstelle im Lande NRW für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen" in Dortmund und stellte das Verfahren 1971 ein. Seine Beteuerung, er habe von den Massenmorden an Juden nichts gewusst, hielt die Zentralstelle zwar für "in hohem Maße unglaubhaft". In einer geradezu akrobatisch anmutenden Argumentation hielten die Staatsanwälte Titho aber zugute, dass "das nahende Kriegsende es für den Beschuldigten möglich erscheinen lassen konnte, dass die aus Italien deportierten Juden nicht getötet werden würden". Zudem mochte die Zentralstelle genauso wie das Militärgericht La Spezia Titho keine niederen Beweggründe und Grausamkeit unterstellen. Damit ging es nicht mehr um Mord, sondern um Totschlag – und der war verjährt.
Damit will sich die Antifa nicht zufrieden geben. La Spezia habe nur halbherzig wegen der Massenerschießung ermittelt. Dabei habe Titho die Deportationen von Juden und Widerstandskämpfern aus Italien in die Vernichtungslager abgewickelt – kühl und korrekt. Nicht einzelne Sadisten und deren grausame Exzesse, sondern Menschen wie Titho sorgten für die effektive Vernichtungsmaschinerie, die die Nazis für den Völkermord an den Juden brauchten. "Weil Titho sich wissentlich zum Teil der Tötungsmaschinerie machte, muss er angeklagt werden", fordert die Antifa.
Sicher, bei Titho und anderen ermittelte die Dortmunder Zentralstelle in dieser Richtung. Aber noch nicht einmal halbherzig. Von 1961 bis 1995 haben die Staatsanwälte in nur 55 von 1.296 Verfahren Anklage erhoben, dabei ging es 158 von insgesamt 24.275 Beschuldigten ans Leder. Diese mageren Ergebnisse veranlassten die Grünen vor fünf Jahren zu einer Großen Anfrage im Landtag. Die Antwort aus dem Justizministerium erklärte einiges: Acht Staatsanwälte hatten braunen Dreck am Stecken; ihre Verwendung bleibe "eine aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbare Entscheidung".
Titho hat sie jedenfalls nicht geschadet, sondern bestätigt. Er hat immer betont, nur in der Verwaltung gearbeitet zu haben. Die Frage der italienischen Zeitung "Il Resto del Carlino", ob er wisse, warum man gegen ihn ermittelte, beantwortete er: "Wir waren im Krieg, aber ich habe keinerlei Straftat begangen." Schließlich hätten auch die Zeugen in Dortmund für ihn gesprochen. "Ich war ein anständiger Mensch", sagt er und erklärt auch gleich, was er darunter versteht: "Einer der Unseren verlor den Kopf, ich weiß nicht mehr weswegen, und tötete einen der Gefangenen. Ich griff ein und entwaffnete ihn. Man kann nicht ohne regulären Befehl jemanden töten, auch nicht in einem Lager."
Weil die Justiz versagt hat, will die Antifa nicht locker lassen und den Frieden der Kleinstadt stören. Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürften nicht ungesühnt bleiben. "Wir müssen die Täter zur Rechenschaft ziehen. Das sind wir den Opfern schuldig", sagen Aktivisten. Solche moralischen Bekenntnisse haben aber im Alltag der Horner keinen Platz. "Wir haben wahrhaftig andere Sorgen", haben sie den Antifaschisten entgegengehalten und gemurrt über die Milliarden im Entschädigungsfond für Zwangsarbeiter. Das könne man doch für Kurbäder wie Horn-Bad Meinberg einsetzen und so Arbeitsplätze retten. Und überhaupt: Warum sollte die ganze Stadt wegen eines Einzelnen in Gesinnungshaft genommen werden? "Die Bürger dieser Stadt sind doch keine Nazis, sondern gute Demokraten."
Den Tenor überhörten auch die italienischen Journalisten nicht und schrieben, die Bürger von Horn solidarisierten sich mit dem "Henker von Fossoli". "Das ist Unfug", wehrt sich Bürgermeister Eberhard Block (SPD). Das seien bestenfalls die Alten, die Titho von Kindesbeinen an kennen. Die anderen seien "empört" gewesen. Deshalb sei es nur gut, "wenn die Antifa das diskutieren will, um Konsequenzen und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen – solange der Personenschutz gewahrt bleibt". Zu "pädagogisch" findet das die Antifa. "Die Frage ist doch, auf welche Seite wir uns stellen, auf die der Täter oder die der Opfer." Letztere kennen die Horner nicht. Dafür Karl Friedrich Titho. "Der soll ja schlimme Sachen gemacht haben", sagt ein alter Mann mit Schiebermütze, stochert dabei mit seiner Krücke zwischen den Pflastersteinen und erzählt lieber von den Stiefmütterchen, die er gleich noch pflanzen will. Dann beugt er sich vor und linst durch seine dicken Brillengläser. "Will man das nicht endlich ruhen lassen?"
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