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Lippische Landes-Zeitung , 11.12.1992 :

Nach dem Anschlag: Ausländer haben Angst vor der Gewalt von rechts / Ansichten eines Kurden ...

Von Stefanie Pesch

Lügde. Von Mölln und Hoyerswerda ist Lügde nicht weit entfernt: Seit Sonntag geht Abdurahman S. zur Sicherheit zweimal ums Haus, bevor er sich zum Schlafen ins Bett legt, aber selbst dann bekommt er meist kein Auge zu. Abdurahman und seine Familie wohnen im alten Lügder Bahnhof in der ersten Etage.

"Deutschland ist nicht mein Land. Wenn in Kurdistan Frieden ist, gehe ich sofort zurück. Ich habe in drei Stunden meine Koffer gepackt. Aber im Augenblick ... ". Er zeigt auf die Bilder von bewaffneten Soldaten in den Bergen seiner Heimat. Sie hängen über dem Fernseher.

Spontane Solidarität in den Reihen der Lügder Bürger: Am Vormittag ziehen die Lügder Grundschulkinder mit bemalten Plakaten zum Marktplatz. Diese Aktion hatten die Lehrer nach dem Anschlag von Mölln geplant. Auch Abdurahman ist an diesem Morgen auf dem Marktplatz und hört sich die Friedensbotschaft der Kinder an. "Die Kinder sind morgen die Erwachsenen, wenn nicht die Kinder lernen, miteienander zu leben, wer dann?"

Stadtdirektor Dieter Will erzählte gestern nachmittag, einige Bürger hätten sich spontan zur Hilfe bereit erklärt und ihre Ohnmacht zum Ausdruck gebracht. Es kam sogar ein Wohnungsangebot. "Für diese unbürokratische Hilfe sind wir sehr dankbar, sie darf natürlich nicht abreißen", erklärt der Verwaltungschef.

In der Verwaltung herrscht Betroffenheit. Es hätte zum Fiasko kommen können. Will: "Wir sind erleichtert, dass niemand verletzt wurde und dass die Täter gefasst sind." Schon in der nächsten, spätestens aber in zwei Wochen muss die Stadt in Elbrinxen und Rischenau erste Wohncontainer aufstellen. Und möglicherweise muss man diese Containersiedlungen einzäunen. Ostwestfalen Ende 1992: Demonstrationen und Stacheldraht gegen die Gewalt von rechts.

Sonntag nacht sind hier die Steine eingeschlagen. Sie flogen durch das hohe Wohnzimmerfenster, als die Familie gemeinsam mit Freunden eine Game-Show im Fernsehen anschaute.

Zwei Tage später wird gegen die beiden Brüder Guido P. (21) und Sascha (17) Haftbefehl erlassen. Vorwurf: Versuchte Brandstiftung. Vor dem Richter sagten die Brüder aus, sie hätten sich am Sonntagabend in den Keller der Ausländerunterkunft geschlichen. Dort öffneten sie die Tanks, aus denen die 25 Bewohner Öl für die Öfen in ihren Zimmern zapfen und zündeten die Öllache an. Die mutmaßlichen Täter brachten sich in Sicherheit, beobachteten das Haus aus der Ferne. Als nichts passierte - die Flammen waren erstickt - zertrümmerten der Bundeswehrsoldat und der Autoschlosser zwei Scheiben mit Pflastersteinen und hauten ab.

In der Bahnhofstraße ist man knapp einer Katastrophe entgangen. Die beiden Brüder geben später zu, unter Alkoholeinfluß gestanden zu haben. Warum sie die Steine geworfen haben? Ausländer seien für Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Kriminalität verantwortlich, ist die Antwort.

"Die Kinder haben fünf Minuten vorher noch dort gespielt" - Abdurahman zeigt auf die Stelle, an der der Pflasterstein in der Sonntagnacht ein Loch in den Teppich gerissen hat. Seit vier Jahren lebt das Ehepaar aus Kurdistan mit sechs Kindern in Deutschland. Drei Jahre wohnen sie jetzt im Lügder Bahnhof. Freunde kommen regelmäßig zu Besuch. Auch am Abend des Anschlags saßen zwei deutsche Freunde mit vor dem Fernseher.

Der Anschlag in der Nacht zum Sonntag versetzt das Paar in Ratlosigkeit. Die Kinder haben Angst. Abdurahmans älteste Tochter geht seit Montag nicht mehr zur Schule. Ein Ende der Anfeindungen ist für Abdurahman nicht abzusehen: "In Deutschland leben 7000000 Ausländer, die kann man doch nicht alle töten", sagt der Kurde. Seine Frau gießt ihm noch ein Glas Tee ein. In seinem Gesicht ist die Fassungslosigkeit deutlich zu lesen.


Blomberg@lz-online.de

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