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Lippische Landes-Zeitung , 18.08.1990 :

Wort Jesu praktizieren

"Scheiß-Jesus! Halte die Klappe!" schrie mich ein Zuhörer an. Es war auf der Bürgerversammlung in der Kilianskirche in Schötmar am Montag, dem 6. August 1990, als ich das Wort Jesu zitierte: Wer einen Fremden aufnimmt, der nimmt mich auf (Matthäus 25, 31-46).

Unser Land, unsere Bevölkerung wird in der heutigen Zeit durch den Zuzug von Aussiedlern und Asylsuchenden äußerst stark belastet. Viele Mitbürger sind dankenswerterweise bereit, mit diesen Menschen zu teilen. Sie wehren sich gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit und haben im Zusammenleben mit ihnen viele positive Erfahrungen gemacht.

Nun aber scheint die Belastungsgrenze überschritten zu sein. Schlimme Vorfälle verschärfen die Situation. Wir hören Sätze wie: "Das Asylrecht muss geändert werden"; "diese Menschen dürfen gar nicht erst über die deutsche Grenze gelangen".

Mir geht es darum, dass wir bei allen aufwallenden Gefühlen einen kühlen Kopf bewahren. Dass wir, wenn wir denn in der christlichen Tradition stehen wollen, das Wort Jesu beachten und außerdem allen Versuchen wehren, die das hohe Gut des Asylrechtes antasten.

Ob Asyl gewährt wird oder nicht, ist allein die Entscheidung der unabhängigen deutschen Gerichte. Die rechtsstaatliche Praxis dürfen wir in keiner Weise einschränken oder verletzen. Bis zu dem Zeitpunkt des Gerichtsspruches gibt es für Christen nur die eine Möglichkeit: im Geiste Jesu mit den Asylsuchenden umzugehen. Einen anderen Weg gibt es für Christen nicht.

Zur Situation der rumänischen Sinti und Roma in Schötmar: In einer kleinen Gruppe haben wir sie in der Schule in der Schülerstraße besucht. Wir waren nicht angekündigt. Die Klassenräume fanden wir in einem erstaunlich sauberen Zustand vor. Die Großfamilien lebten in geordneter Weise zusammen, wenn auch alles ungemein beengt war. Sie bezeichnen sich als gläubige Christen, die dem orthodoxen, katholischen oder pfingstlerischen Glauben angehören und die nichts anderes möchten, als wie zivilisierte Menschen zu leben. Sie betonen, wie wichtig ihnen Gottesdienste sind.

Weil sie nur zwei Waschmaschinen zur Verfügung haben, waschen sie ihre Wäsche in der Werre, obwohl sie sich des ökologischen Zustands der Werre bewusst sind. Weil sie keine Wäscheleinen haben, hängen sie die Wäsche zum Trocknen in die Büsche. Weil die Toiletten nicht ausreichen, passiert es, dass manche hinter die Büsche gehen. Dieses missbilligen die Sprecher der Großfamilien ebenso, wie sie Diebstähle sehr deutlich missbilligen. Wenn dennoch gestohlen würde, geschähe dies aus Hunger. Und weil sie so viel in der Schule seien, sei die Kontrolle so schwer.

Das Zusammenleben mit den verschiedenen Völkern und Gruppen bringt unendlich viele Probleme. Die Probleme können wir zum Teil in den Griff bekommen. Lassen Sie es uns erneut mit Vertrauen, Toleranz wie auch mit Festigkeit gegenüber Auswüchsen versuchen.

Ich bitte herzlich darum, dass wir in einer neuen Weise das Wort Jesu praktizieren: "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, dus hubt ihr mir getan."

Martin Hankemeier
Beauftragter der Lippischen
Landeskirche für Ausländerfragen
Jerxer Straße 3
Detmold

18./19.08.1990
Detmold@lz-online.de

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