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Lippische Landes-Zeitung , 17.11.2003 :

Staatsanwälte klagen nicht an, Richter verurteilen nicht / Eren Keskin über die Menschenrechts-Situation in der Türkei

Detmold (Sam). Sie ist von amnesty international mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden: Die 44-jährige Rechtsanwältin Eren Keskin führt in der Türkei einen zähen Kampf für mehr Demokratie. Gestern Abend berichtete sie im Lippischen Landesmuseum über Menschenrechtsverletzungen in ihrer Heimat. Im Vorfeld sprach die LZ mit Eren Keskin.

Mit ihrem Engagement hat sie sich Feinde gemacht. 120 Ermittlungsverfahren wurden ihr angehängt. Wegen angeblich separatistischer Propaganda musste Keskin für 6 Monate in Haft. Ende 2002 wurde sie mit einem Berufsverbot belegt. Immer wieder erhält die Rechtsanwältin Morddrohungen. Auf sie wurde bereits geschossen.

Folter in den türkischen Gefängnissen sei ein Instrument, mit dem der Staat systematisch Druck ausübe, so Keskin. Die Gewalt richte sich unter anderem gegen Oppositionelle. Nicht nur die Polizei sei für die Folter verantwortlich, "auch Staatsanwälte und Richter, die die Täter nicht anklagen oder verurteilen". Wer seine Meinung frei äußere und dabei das Militär oder den Regierungsapparat kritisiere, müsse mit Repressalien rechnen.

Um die Menschenrechts-Situation in der Türkei beurteilen zu können, müsse man wissen, wer in der Türkei das Sagen habe: "Wer den Staat regiert, sieht man nicht", erklärt Keskin. Nicht die Regierung halte die Fäden in der Hand, sondern ein "Sicherheitsapparat" aus Seilschaften zwischen Militärs und staatlichen Funktionären.

Seit fast 20 Jahren arbeit Eren Keskin als Anwältin in Istanbul. 1997 gründete sie mit zwei Kolleginnen ein Rechtshilfeprojekt für Frauen, die sexuelle Folter von staatlichen Sicherheitskräften erdulden mussten. "Jede Frau, die im Polizeigewahrsam war, hat solche Erfahrungen gemacht", erklärt die Juristin. Vor allem kurdische und politisch links orientierte Frauen, aber auch Drogensüchtige und Kleinkriminelle würden hinter Gittern missbraucht und vergewaltigt.

Das Problem sei: Nur wenige Frauen machten ihr Leid öffentlich. Viele ertrügen ihr Schicksal stumm, weil sie sich schämen, weil sie Probleme mit der Familie bekommen, weil sie kein Vertrauen ins Rechtssystem haben. In den vergangenen sieben Jahren hat die Anwältin bei lediglich 14 von 178 Opfern, die sich an sie gewandt haben, ein Verfahren gegen die Täter erwirken können. Verurteilt worden sei bis heute kein einziger.

Die 44-Jährige hält es für geboten, dass Deutschland und der Westen vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts in der Menschenrechtsfrage Druck auf die Türkei ausüben könnten. Es gebe aber viele wirtschaftliche Beziehungen zwischen beiden Staaten, meint Keskin. Und zudem bezweifle sie, dass die tatsächlichen Machthaber in ihrer Heimat wie auch der Westen überhaupt Interesse an einer EU-Mitgliedschaft der Türkei hegten.


Detmold@lz-online.de

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