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Mindener Tageblatt , 29.01.2004 :

Der besondere Weg des Nicht-Vergessens / Ansprachen und Lesung zum nationalen Gedenken an Auschwitz am 27. Januar im Mindener Saal der Toleranz

Von Arndt Hoppe

Minden (hop). Den nationalen Gedenktag zur Befreiung von Auschwitz beging die jüdische Kultusgemeinde in besonderer Weise mit einer Lesung nach einer Gedenkstunde.

Am 27. Januar 1945 befreiten die sowjetischen Truppen die Überlebenden aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Dieser Ort ist wie kein anderer verbunden mit den Greueltaten der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Aus diesem Grund wurde dieses Datum vor neun Jahren auf Vorschlag des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum nationalen Gedenktag ernannt.

Die Jüdische Kultusgemeinde Minden und Umgebung hatte gemeinsam mit Dr. Heinrich Winter, Pfarrer der Martini-Kirchengemeinde zu einer Gedenkstunde in die Mindener Synagoge eingeladen.

Im Anschluss fand eine Lesung zum Thema im Saal der Toleranz statt. Harald Scheurenberg, Vorsitzender der Kultusgemeinde, richtete bei seiner Ansprache an die recht überschaubare Zahl von Anwesenden das Augenmerk nicht allein auf die Vergangenheit als vielmehr auf die heutigen Menschen. Nachdem die Zahl der in Minden lebenden Juden in der Zeit des Nazi-Regimes von 800 auf einige wenige gesunken sei, sei die jüdische Gemeinde bis heute wieder auf etwa 100 angewachsen, sagte er.

Die Juden wendeten sich ganz bewusst nicht von Deutschland ab, sondern nähmen kritisch Anteil am gesellschaftlichen Geschehen: "Wir müssen uns gegenseitig helfen, und heute dort einschreiten, wo wir altem Gedankengut begegnen."

Vorbeter Bernd Schulz stellte das geistige Vermächtnis der Thora in den Mittelpunkt seiner Rede und sagte: "Trotz aller Menschenverachtung und Verfolgung konnte der jüdische Geist nicht ermordet werden."

Dr. Heinrich Winter befasste sich mit der Hilflosigkeit des Erinnerns angesichts des Geschehenen und forderte dazu auf, "was im deutschen Namen geschehen ist, einfach nur mal stehen zu lassen, ohne immer gleich etwas zurecht rücken zu wollen oder in Rechtfertigungsreden zu verfallen."

Gleichzeitig machte sich Winter dafür stark, sich zur Vielfältigkeit unserer Gesellschaft öffentlich zu bekennen.

Die an die Gedenkstunde anschließende Lesung bot den Zuhörern einen guten Zugang zum Gedenken, indem sie den Blick von der nationalen Sicht auf ein Familienschicksal lenkte. Mitglieder der Mendel-Grundmann- Gesellschaft aus Vlotho stellten das Buch "Wir wollen weiterleben . . ." vor, in dem die Geschichte der jüdischen Vlothoer Familie Loeb von 1938 bis 1941 in einem Briefwechsel dokumentiert ist.

Die Schicksale jüdischer Familien

Neben dem Herausgeber Manfred Kluge lasen Helmut Urbschat, Vorsitzender der Gesellschaft, Ursula Hahn und Ralf Steiner in verteilten Rollen Passagen des Buches. Zusammen mit den vermittelnden Kommentaren von Kluge entstand in den Köpfen des Publikums ein Eindruck davon, was jüdische Familien in dieser Zeit durchleben mussten.

Die meisten zitierten Briefe stammen einerseits aus der Feder von Gustav Loeb sowie dessen Frau Helene und andererseits dem nach Amerika ausgewanderten Sohn Hans. Gespannt verfolgten die Anwesenden, wie das wohlgeordnete Leben des wohlhabenden Kaufmanns-Ehepaares Loebs Schritt für Schritt zerstört wird, und wie es trotzdem versucht, die Hoffnung auf bessere Zeiten nie ganz aufzugeben.

Nach der Reichsprogromnacht am 10. November 1938 werden die Loebs gezwungen, ihr Geschäft zu verkaufen. So ziehen sie 1940 zum Schwager Georg nach Hannover. Nach einer Zeit scheinbarer Idylle, in der sie ihre eigene Auswanderung nach Amerika vorbereiten, folgt das für die Loebs ereignisreiche und schicksalhafte Jahr 1941.

Aufgrund der Postzensur galt es für den Zuhörer auf Zwischentöne zu achten. Manfred Kluge wies darauf hin: "Besonders vielsagend ist oftmals, was nicht gesagt wird." Im August 1941 stirbt überraschend Hans’ jüngere Schwester Marianne an Scharlach. Hinzu kommt, dass die Familie von September an zwangsweise in ein "Judenhaus" ziehen muss, eingefercht mit Fremden in ein kleines Zimmer. In den ergreifenden Briefen dieser Phase macht Gustav Loeb seinem Sohn trotz des schweren Schicksalsschlages seinen "doppelten Willen zum Leben" deutlich und schreibt: "Wir wollen weiterleben, auch unter den schwierigsten Lebensverhältnissen."

Nachdem Himmler eine europaweite Ausreisesperre für Juden ausruft, brechen alle Hoffnungen auf ein Wiedersehen mit dem geliebten Sohn schließlich zusammen. Noch vor Ende des Jahres werden Gustav und Helene Loeb gen Osten deportiert, von wo sie nie zurückkehren. Es ist den Vortragenden gelungen, ein lebendiges Bild der Familie vor dem geistigen Auge der Zuhörer zu zeichnen. Manfred Kluge, der die Briefe in einem Pappkarton von der Witwe von Hans Loeb erhielt, sagte: "Ich wusste sehr bald, welch einen Schatz ich da in Händen hielt." Mit diesem Buch tragen er und die Mendel-Grundmann-Gesellschaft dazu bei, einen Weg zu beschreiten, der ganz im Sinne des inzwischen verstorbenen Stephen "Hans" Loeb ist; den Weg des Nichtvergessens und der Erinnerung.


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