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Neue Westfälische , 21.02.2004 :

Die Vergessenen / Sammelband über verfolgte Musikerinnen in der NS-Zeit im Bielefelder Aisthesis Verlag erschienen

Von Anke Groenewold

Als erstes nahmen sie Jetty Cantor die Geige. "Dann sah ich diese riesigen Flammen und den Rauch. Da habe ich gedacht, das ist die Küche für all die vielen tausend Menschen. Aber es war die Gaskammer. Und dann hieß es plötzlich, ich soll zur Probe kommen. Ich sage: Probe? In Auschwitz? Ja, sagen die da, wir sollen spielen, vor der Gaskammer."

Jetty Cantor hat die Hölle überlebt. Das Schicksal der holländischen Geigerin, Chansonnette und Schauspielerin ist nur eines von vielen, das in dem Buch "Echolos. Klangwelten verfolgten Musikerinnen in der NS-Zeit" geschildert wird. Die Musikwissenschaftlerin Anna-Christine Rhode-Jüchtern und die Germanistin Maria Kublitz-Kramer, beide am Oberstufenkolleg der Uni Bielefeld, haben das Buch herausgegeben. Es fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, die die AG "Frauen im Exil" im November 2002 veranstaltet hatte.

"Den Nazis ist es beinahe gelungen, diese jüdischen Künstlerinnenvergessen zu machen. Wir wollen jetzt wenigstens ihre kulturelle Leistung dokumentieren", sagt Dr. Michael Vogt Vom Bielefelder Aisthesis Verlag.

Es sind Pianistinnen, Kabarettistinnen, Musikpädagoginnen und Virtuosinnen, die die Autoren dem Vergessen entrissen haben. Und erschütternde Geschichten.

Zum Beispiel die der Komponistin und Pianistin Ilse Fromm-Michaels, die ihren jüdischen Mann und ihren Sohn unter großen Belastungen und ständigem Druck über die Hitlerzeit hinüberrettete, aber keine Karriere machen konnte, die ihrem Talent entsprach.

Sie starb 1986 im Alter von 97 Jahren in Detmold, wo ihr Sohn, ein Klarinettist, 1949 einen Lehrauftrag angenommen hatte. "Allen noch so 'offiziellen' Anerkennungen zum Trotz sind aber die Kompositionen Ilse Fromm-Michaels' nie wirklich in das gängige Repertoire aufgenommen worden - die Verfolgung der NS-Zeit wirkt bis heute nach", schreibt die Pianistin Babette Dorn, die sich stark für das Werk der Komponistin einsetzt.

Andere Musikerinnen flohen aus Deutschland, kehrten zum Teil nach dem Krieg in die DDR zurück. Oder sie kamen in den Konzentrationslagern um, in denen sie um ihr Leben spielten.

Lebende Zeitzeugen gibt es nur noch wenige. Die Spurensuche ist schwierig, stellten auch die Herausgeberinnen des Buches fest. Die verfolgten Musikerinnen hätten eben in der Musik ihre Sprache gefunden, aber ihre Erlebnisse selten niedergeschrieben, so die Forscherinnen.

Anna-Christine Rhode-Jüchtern beispielsweise erforscht das Leben von Charlotte Schlesinger, die bereits 16-jährig in Franz Schrekers Kompositionsklasse saß. Sie emigrierte in die USA. Rhode-Jüchtern stieß bei ihren Recherchen nur noch auf einen Neffen, der wenig über seine Tante zu berichten wusste. Der Bruder Schlesingers war zwei Jahre vor Rhode-Jüchterns USA-Besuch gestorben.

Maria Kublitz-Kramer hat sich intensiv mit dem Jüdischen Kulturbund in Ostwestfalen beschäftigt, in dem unter anderem die Bielefelder Pianistin Cläre Weiss organisatorisch sehr aktiv war. Sie floh 1938 nach London. Deren Tochter Margret Marflow habe allerdings schon häufiger Bielefeld besucht, so Kublitz-Kramer.

Schön wäre es natürlich, wenn es zu dem Buch auch noch eine CD mit Werken der verfolgten Komponistinnen geben würde. Das Detmolder Ensemble Horizonte würde sie gern spielen, aber ohne Sponsoren gehe es nicht, so Kublitz-Kramer und Rhode-Jüchtern.

"Echolos. Klangwelten verfolgter Musikerinnen in der Ns-Zeit", Anna-Christine Rhode-Jüchtern und Maria Kublitz-Kramer (Hg.), 321 S., Aisthesis Verlag, 34 Euro.

21./22.02.2004
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