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Vlothoer Zeitung / Westfalen-Blatt , 22.06.2004 :

Der Holocaust hat auch in Vlotho seine Spuren hinterlassen / Prozess gegen Ursula Haverbeck und Ernst-Otto Cohrs

Zu dem Artikel "Holocaust geleugnet und verharmlost" (VZ vom 19. Juni) schreibt der Vorstand der Mendel-Grundmann-Gesellschaft einen Leserbrief.

Bei dem Prozess gegen Ursula Haverbeck und Ernst-Otto Cohrs vor dem Amtsgericht Bad Oeynhausen ging es um die gerichtliche Feststellung, ob sich die beiden Angeklagten der Volksverhetzung im Sinne des § 130 Strafgesetzbuch schuldig gemacht haben oder nicht. Dies festzustellen war nicht schwer, zumal beide Angeklagten die Gerichtsverhandlung dazu nutzten, ihre strafbaren Äußerungen noch einmal mit Überzeugung darzulegen. Beide blieben dabei, dass es im KZ Auschwitz keine Vergasungen von KZ-Opfern gegeben habe und letztlich auch nicht den Holocaust. Zu ihrer Rechtfertigung benutzten Haverbeck und Cohrs willkürlich Zahlenmaterial, auf das hier im Einzelnen nicht eingegangen werden kann.

Das Herumrechnen an den Gesamtopferzahlen - womöglich noch verglichen mit den Opfern von Dresden oder der Vertreibung - ist doch nur der Versuch, Schuld und Verantwortung von uns zu weisen. Die Gesamtzahlen bleiben für die menschliche Vorstellungskraft unfassbar.

Erfassbar, weil überschaubar, aber sind die Opfer und ihre Schicksale in unserer eigenen Stadt. Wollen die Leugner des Holocaust auch nicht anerkennen, dass es in unserer Stadt zahlreiche Opfer des Holocaust gegeben hat? Nach einer Volkszählung von 1933 lebten 87 Juden im Amt Vlotho. Nach unseren immer wieder überprüften Recherchen hat allein unsere Kleinstadt mehr als 40 Opfer zu beklagen, fünf davon kamen in Auschwitz um.

Das Schicksal nur eines Auschwitz-Opfers sei hier kurz dargestellt: Der im 1. Weltkrieg verwundete Willi Silberberg wurde zusammen mit seiner Familie am 29. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt. Anfang Oktober 1944 wurden Willi Silberberg, Ehefrau Henny und Tochter Marianne nach Auschwitz deportiert. Nach schriftlicher Aussage von Marianne Gottesmann-Silberberg, die heute in New York lebt, wurde ihr gehbehinderter Mann sofort bei der Ankunft von dem berüchtigten Lagerarzt Dr. Mengele für die Gaskammern selektiert. Dies wird uns vom Archiv des KZ Auschwitz-Birkenau schriftlich bestätigt: "Silberberg, Willi, tritt auf der Transportliste En der deportierten Personen am 08.10.1944 aus dem Lagerghetto Theresienstadt ins KL Auschwitz-Birkenau auf. Der 1550 Personen zählende Transport kam am 09.10.1944 im Lager an. Nach der Selektion wurden 191 Frauen sowie einige hundert Männer als Häftlinge ins Lager geleitet. Die Übrigen wurden in den Gaskammern ermordet ... " Er wurde in den Gaskammern ermordet, höchstwahrscheinlich am 09.10.1944.

Wer leugnet, dass es Gaskammern gegeben hat, dass der Tod durch Massenerschießungen, Arbeitseinsatz, medizinische Experimente, Hunger und Krankheit zum Programm der "Endlösung" der Judenfrage gehörte, der verleugnet auch die Toten der eigenen Stadt. Er belügt sich schließlich selbst.

Die Mendel-Grundmann-Gesellschaft ist seit Jahrzehnten bemüht, das Schicksal der deportierten Vlothoer Juden aufzuklären. Fast alle Deportierten sind in den Konzentrationslagern umgekommen. Nur drei Personen konnten überleben. Durch die Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen wurde die gesamte jüdische Gemeinde zerstört.

In seiner Rede vom 8. Mai 1985 hat Richard von Weizäcker gesagt, der Völkermord an den Juden sei beispiellos in der Geschichte gewesen. Unsere Vorfahren hätten uns mit dem millionenfachen Verbrechen eine schwere Erbschaft hinterlassen. Aber:

"Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen."

Der Vorstand der Mendel-Grundmann-Gesellschaft
Helmut Ürbschat
Ralf Steiner
Manfred Kluge
Vlotho


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