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Bericht , 02.09.2000 :

Keine Abschiebung des Ministers

Blumen für Stukenbrock - der NRW-Innenminister Fritz Behrens besucht die Stukenbrocker Gedenkveranstaltung für im Nationalsozialismus ermordete Kriegsgefangene. Verhaltener Protest.

Kurz vor 15 Uhr wird der Minister vorgefahren. Eine dunkle Limousine rollt den "Lippstädter Weg" hinab, biegt hinter einem Waldstück rechts in einen Feldweg ein und hält vor einem Friedhofstor. Das eiserne Tor symbolisiert Stacheldraht.

"Hier habe ich die größte Tragödie durchlitten, die der Menschheit je widerfuhr. Wo aber ist all das, was ich damals sah? Vor mir breitet sich eine mir unbekannte Landschaft aus: Eine weite Wiese mit saftgrünem Gras, von einem Wald umgeben; in der Ferne saubere kleine Häuser hinter niedrigen Zäunen. Wo ist der rostige Stacheldraht, wo das Eingangstor mit Wache und Schlagbaum, wo sind die Gleise der Kleinbahn? Nichts ist geblieben, woran ich mich die ganze Zeit erinnerte. Für mich ist es ein fremder Ort. Ein fremder Ort."
Aus: "Rückkehr nach Stukenbrock" von Alexander Wassilijew, erschienen 1989 im Röderberg-Verlag.

Der Minister steigt aus seinem Wagen. Auf dem Friedhof vor ihm liegen 65.000 Menschen, eine kleine Stadt. Es sind zumeist sowjetische Kriegsgefangene, die hier während des Zweiten Weltkrieges systematisch umgebracht wurden: durch Zwangsarbeit, Unterernährung und Exekutionen.

Das Kriegsgefangenenmannschaftsstammlager (Stalag) 326 (VI K) im Wehrkreis VI Münster wurde Anfang Mai 1941 auf dem Truppenübungsplatz Senne eingerichtet. Etwa 300.000 Menschen durchliefen das Lager bis 1945. Viele Gefangene wurden von Stukenbrock in das ausschließlich für den Bergbau zuständige Stalag VI A in Hemer geschickt. Dort teilte man sie für die mörderische Arbeit in den Ruhrgebietszechen auf. Rund 4.600 Gefangene wurden von Stukenbrock nach Buchenwald transportiert. Die meisten von ihnen zur Exekution in der dortigen Genickschussanlage.

Als die ersten Gefangenen am 10. Juli 1941 eintrafen, druckte das Paderborner Westfälische Volksblatt eine Polemik über "bolschewistisches Untermenschentum in deutscher Gefangenschaft": "Regelrechte Verbrecherphysiognomien, stiernackig, mit flachen Stirnen und einem falschen, hinterlistig flackernden Blick in den Augen, so ziehen sie vorbei, die Kämpfer für die Freiheit der Menschenrechte, knechtliche, vorgebeugte Gestalten, schlapp und schleichend im Gang, eher Dschungelerscheinungen als Soldaten." Die Bevölkerung war vorbereitet. Bei schönem Wetter zog sie aus zum "Russenfüttern". Durch den Zaun warfen die Einheimischen Brotstücke und schauten, wie die ausgehungerten Russen sich darum stritten. Ihre Baracken mussten die Russen selbst bauen. Bis in den Spätherbst 1941 hinein hausten die Männer unter freiem Himmel oder in Erdlöchern. Die Rotarmisten blieben zunächst unter sich, ein reines "Russenlager". Später wurden auch Franzosen, Serben, Belgier, Polen und ab 1943 Italiener nach Stukenbrock verschleppt.

Es regnet. Der Minister schüttelt Hände. Er begrüßt Werner Höner, den Vorsitzenden des Arbeitskreises "Blumen für Stukenbrock". Seit 1967 organisiert der Arbeitskreis am ersten Samstag im September eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof. Landespolitiker hatten nie viel übrig für diese Veranstaltung, denn im Arbeitskreis treffen sich Theologen und Sozialdemokraten mit Kommunisten. Der Arbeitskreis wurde vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz beobachtet. Heute ist der Chef der Behörde anwesend. Auf seinem Weg zum Mahnmal muss er vorüber an einem Transparent, das von jungen Leuten in die Höhe gehalten wird. "Abschiebung ist Mord, mein lieber Herr Innenminister", steht auf dem Transparent. Der Minister sieht nicht glücklich aus.

Die Transparentträger kommen aus dem Zeltlager, das jenseits des um den Friedhof führenden Jägerzauns steht. Es ist das Jugendcamp, organisiert vom Antifaschistischen Kreisplenum Gütersloh. Nachdem 1972 Nazis in der Nacht vor der Gedenkveranstaltung den Friedhof schändeten, gibt es am ersten Septemberwochenende das Camp, um den Friedhof zu bewachen.

In der Mitte steht eine große rote Fahne, um sie herum gruppiert sind Zelte aufgebaut. Viele kleine Igluzelte in allen Farben und einige große Zelte trotzen dem Dauerregen, der dieses Wochenende vom Himmel kommt. In den Zelten sind vor einer Weile die Arbeitsgruppen zu Ende gegangen. Während Diskussionen um den Expo-Widerstand, Stukenbrock nach 1945, heutige Nazis in Ostwestfalen und Zwangsarbeiter in Bielefeld kreisten, während die Antifas über Verhalten in den eigenen Gruppen und bei Aktionen sprachen und erste Anläufe gemacht wurden, eine Gedenktafel auf dem Italienerfriedhof von Stukenbrock zu installieren, spukte der Minister bereits durch die Hinterköpfe der jungen Leute.

Wie reagieren auf den Mann, der in Nordrhein-Westfalen verantwortlich für Abschiebungen ist? Der dem Verfassungsschutz vorsteht, der Antifaschisten beobachtet? Dem sie nach dem wahrscheinlich rassistisch motivierten Sprengstoffanschlag in Düsseldorf sein Bekenntnis, mit aller Härte gegen den Nazismus vorzugehen, nicht glauben können? Im Plenum entscheiden sich die Antifas für das Transparent und gemeinschaftliches Murren - aus Rücksicht auf den Arbeitskreis und weil sich eine Schlägerei mit dem Minister und seinen Gefolgsleuten an so einem Tag und Ort nicht gehört.

Denkt der Minister an fliegende Farbbeutel, als er, ankommend am Gedenkstein in die Menge blickt. 300 Menschen sind dieses Jahr gekommen. Lange nicht mehr so viele, wie in den friedensbewegten 80ern. Aber fast 100 Jugendliche aus dem Camp sind da und blicken dem Minister trotzig entgegen.

Nachdem der Arbeitskreisvorsitzende Höner seine einleitenden Worte gesprochen hat, in denen er noch einmal den Krieg gegen Jugoslawien verurteilt, muss der Minister reden. Vor den anwesenden Botschaftern aus Russland, Polen, der Ukraine, Bjelarus, Moldau, Tschechien, Frankreich, Jugoslawien und Kuba betritt er das Podium. Seine Rede ist wohlüberlegt und unaufregend. Rechtsextremistischen Umtrieben müsse der Boden entzogen werden, dies sei eine "Aufgabe der gesamten Gesellschaft, aber auch jedes Einzelnen". Er fordert Zivilcourage und Einmischung. Und für einen Moment nehmen die jungen Leute den Minister beim Wort und vermelden laut, was sie von seiner Abschiebepolitik halten.

Das jüngste Beispiel dieser Politik: Im sauerländischen Arnsberg leben seit Jahren Flüchtlinge aus dem Kosovo, teilweise sind ihre Kinder im Ort geboren. Ende des Jahres läuft die Duldung ab. Der CDU-Bürgermeister will die Flüchtlinge weiter bei sich im Ort leben lassen - gegen den Willen des Ministers, der die Abschiebung verlangt.

Dann hat es der Minister geschafft und hört ein bisschen entspannter den anderen Rednern zu. Zum Schluß braust er wieder in seiner Limousine von dannen. Die jungen Antifaschisten rücken in ihrem Zelt näher zusammen, um den Erzählungen des alten Widerstandskämpfers und Flüchtlings Peter Gingold trotz des trommelnden Regens folgen zu können.


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