www.hiergeblieben.de

Lippische Landes-Zeitung , 23.06.2004 :

Das ruhige Auge des Abschieds / Voller Pläne ins Ungewisse: Günay Muradova kehrt morgen nach Aserbeidschan zurück

Von Stefan Derschum

Detmold. Es ist nur ein kurzer Moment, in dem Günay Muradova das stille Auge des Sturms, der um sie herum wirbelt, zu verlassen droht, und die Gefühle des Abschieds und der Ungewissheit doch noch unerwartet aufschrecken. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte die 19-Jährige, die nach wochenlangem, schließlich erfolgreichem Ringen um die Möglichkeit eines Schulabschlusses am Leopoldinum morgen freiwillig nach Aserbeidschan zurückkehren wird, ihre Contenance in nahezu aristokratischer Manier gewahrt - trotz der Niedergeschlagenheit, die die Schülergruppe im Büro von Herbert Everding erfasste.

Doch als der Schulleiter des Leopoldinums die Schülerin mit dem ersehnten Zeugnis der Fachoberschulreife in der Hand verabschiedet und fragt: "Sehen wir uns morgen noch?", bewegt sich die junge Frau am Rande der Fassung, presst ihre Lippen wie in einem stillen Kampf aufeinander und dreht sich weg: "Ja, sicher." Weinen tut sie nicht.

"Der Herr Everding findet manchmal solche Worte", wird Günay Muradova später in einer Sitzecke bei "Paulines Töchter" (wo sie in den vergangenen drei Jahren den Umgang mit Computern zunächst lernte, um dann auch zu lehren) fast entschuldigend diesen einen Moment erklären. Der sich im Laufe des Gesprächs über ihre Vorstellungen von den kommenden Monaten in Aserbeidschan nicht wiederholt. Stattdessen sagt sie mit kräftiger Stimme: "Ich habe schon genug geweint, deshalb will ich das in diesen Augenblicken nicht mehr. Es bringt einfach nichts." Kalt ist das nicht, nicht unberührt, sondern vielmehr souverän, wie die Aserbeidschanerin, die vor vier Jahren mit ihrer Familie nach Detmold kam, derartige Worte schnell und präzise setzt.

Und sie erscheinen voller Kraft. So viel besitzt Günay Muradova davon, dass sie eine in Tränen aufgelöste Mitschülerin, die 350 Euro aus einer Sammelaktion der Klassen 10b und 10c überreicht, beruhigend an sich drückt. Im Auge des Sturms. Auch als später Charlotte Carls, Ausbilderin bei "Paulines Töchter", der Macht der Erinnerungen an die vergangenen fünf Wochen, in denen Günay in ihrer Familie lebte, unterliegt, umarmt die 19-Jährige die bebende Frau zurück auf die ruhige Seite des Abschieds.

"Ich bin schon seit meinen Kinderjahren in Baku unzufrieden mit den Zuständen in Aserbeidschan. Ich war eben anders, wollte nicht stillhalten", erzählt sie, wohlwissend, dass die Veränderungen in den vergangenen vier Jahren bei ihrer Rückkehr Probleme auslösen werden. "Natürlich werde ich Ärger bekommen, so wie ich heute bin", prophezeit Günay Muradova, aber betont dennoch: "Ich bin mir absolut sicher, dass ich das alles hinbekommen werde." Es sind wohl solche Sätze unverrückbar festen Selbstbewusstseins, die Herbert Everding am Morgen der vorgezogenen Zeugnisübergabe durch den Kopf gehen. Denn er hofft zwar, dass die "Welt dort nicht so ganz anders ist als hier", aber auf einen Rat will der Lehrer trotzdem nicht verzichten: "Vielleicht musst du zuweilen deinen Kopf etwas zurücknehmen - deinen Dickkopf."

Vielleicht. Die 19-Jährige gesteht, dass es einen Punkt gebe, über den sie nicht hinausblicken könne - "ich war schließlich vier Jahre nicht mehr dort und weiß einfach nicht, wie sich das Leben verändert hat". Das schwarze Brillengestell, das die dunklen, dezent geschminkten Augen treffend streng umzeichnet, ist wie ein kleiner Beleg dieser Ungewissheit. Günay Muradova klagt über Druckstellen an ihrer Nase und erklärt: "Die Brille habe ich gestern erst gekauft, weil ich nicht weiß, ob ich in Aserbeidschan weiterhin Kontaktlinsen tragen kann."

Die junge Frau weiß jedoch, dass sie von ihrer Mutter und den Geschwistern (die gestern bereits abgeschoben worden sind) am Donnerstag vom Flughafen in Baku abgeholt und zunächst bei der Großmutter leben wird. "Aber nur in der ersten Zeit", betont Günay Muradova, die überzeugt davon ist, dass "in moslemischen Ländern ein großer Respekt vor Bildung" existiere - "auch im Falle einer gebildeten Frau". So klingt es wie ein Versprechen, dass sie sich selbst gibt, als sie sagt: "Ich suche mir einen Job, vielleicht als Sekretärin. Und eine Wohnung in der Nähe der Uni von Baku. Ich werde mein Abitur machen und Journalistik studieren. Wo, werde ich sehen."

Kein Abrücken, kein Zweifel macht sich in den wenigen Pausen zwischen ihren Sätzen breit. Doch eine "große Angst" existiert trotzdem in den Gedanken von Günay Muradova, die sich auf die weitere Unterstützung von "Paulines Töchter" verlassen darf: "Es ist die Angst davor, dass ich mich durch die kulturellen Unterschiede verändern werde. Denn wenn das geschieht, kann mir niemand mehr helfen."


detmold@lz-online.de

zurück