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Westfalen-Blatt , 24.01.2023 :

Aus Corona-Leugnern werden Putin-Versteher

Herforder Beratungsstelle hat die Szene in Ostwestfalen-Lippe und ihre Telegram-Kanäle 20 Monate lang beobachtet

Von Christian Althoff

Herford (WB). Die endende Pandemie und der Wegfall staatlicher Eingriffe haben Corona-Leugnern ihr Thema genommen. Doch sie haben ein neues: "Jetzt geht es darum, die Sanktionen gegen Russland zu kritisieren", sagt Dario Schach von der Mobilen Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus in Ostwestfalen-Lippe (MBR). Sie hat ihren Sitz in Herford und wird von Bund und Land finanziert.

20 Monate hat die Beratungsstelle die Szene so genannter Corona-Leugner beobachtet und jetzt einen 108 Seiten starken Bericht vorgelegt. "Wir haben zwischen Januar 2021 und August 2022 etwa 600 Protestveranstaltungen in Ostwestfalen-Lippe dokumentiert und bei einem Fünftel der 115 einschlägigen Telegram-Kanäle die Postings ausgewertet."

Laut NRW-Innenministerium setzen sich die Corona-Protestler aus Kritikern, Impf-Gegnern und Corona-Leugnern zusammen. Linksextremisten und Nazis gehörten dazu, aber auch Esoteriker, "Reichsbürger" und die bürgerliche Mitte. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung in NRW, so das Ministerium im April 2022, lehne die Corona-Politik ab,

Die Autorinnen und Autoren des jetzt veröffentlichten Berichts verwenden den Begriff Corona-Leugner als Vereinfachung. "Einige Demonstranten leugnen die Existenz des Virus tatsächlich und behaupten, geheime Mächte hätten die Pandemie inszeniert." Die Szene sei aber heterogen. "Die meisten würden sich wohl der gesellschaftlichen Mitte zurechnen", sagt Jannik Kohl von der MBR. Doch habe man beobachtet, dass von Beginn an antisemitische Verschwörungstheorien dazugehört hätten und eine Abgrenzung dazu und zu Rechtsextremen nicht erfolgt sei.

Die MBR hält Corona-Demos für problematisch, weil dort vertretene Inhalte häufig menschenverachtend, demokratie- und wissenschaftsfeindlich seien und damit zum Teil deckungsgleich mit Inhalten extremer Rechter. Sich von Rechtsextremisten zu distanzieren, hieße, eigene Einstellungen zu hinterfragen. "Deshalb finden auf den Demos Neonazis immer wieder Raum."

Ein Beispiel für die Mitwirkung Rechter ist der Ex-Polizist und YouTuber Tim Kellner aus Lippe, der in Paderborn und Lippstadt an Demos teilnahm und laut NRW-Innenministerium ein "rechtsextremistischer Influencer" ist. "Wir haben auch schon Teilnehmer identifiziert, die bereits für die Freilassung der Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck demonstriert haben", sagt Dario Schach. In Telegram-Gruppen hätten sich Rechtsextreme unter die Gruppenmitglieder gemischt. So hätte Gerd Ulrich aus Detmold, ehemals Leiter der "Einheit Hermannsland" der inzwischen verbotenen "Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ), Mitfahrgelegenheiten angeboten und berichtet, dass seine Kinder seit Wochen nicht mehr zur Schule gingen.

Als regionale Zentren der Proteste haben die Autoren Bielefeld und Paderborn ausgemacht, wo im Frühjahr 2022 jeweils bis zu 3.000 Menschen auf die Straße gegangen seien. Die Organisatoren aus den beiden Städten hätten zusammengearbeitet: "Die Bielefelder haben Redner nach Paderborn geschickt, und die Paderborner haben den Bielefeldern ihre Lautsprecheranlage geliehen", sagt Dario Schach.

Kommuniziert werde vor allem in den Telegram-Kanälen "Bielefeld steht auf" (3.700 Abonnenten) und "Grundrechte-Pb" (1.900 Abonnenten). Im Bielefelder Kanal seien Fake News zur Pandemie, antisemitische Verschwörungstheorien und demokratiefeindliche Forderungen gepostet worden.

"Am Ende steht ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild, völlig unabhängig von der Pandemie."
Dario Schach, Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus

Nach dem zweiten harten Lockdown hätten die Lockerungen im Mai 2021 dazu geführt, dass die Zahl der Protestierenden eingebrochen sei und in einigen Städten so genannte "Spaziergänge" nicht mehr stattgefunden hätten. Es habe eine Verlagerung ins Private gegeben, schreiben die Autoren: "Man traf sich in kleiner Runde zu Picknicks, zu Wanderungen oder zum Grillen." So seien die Vernetzung intensiviert und das Zugehörigkeitsgefühl gestärkt worden. "Die eigenen politischen Überzeugungen wurden durch soziale und emotionale Bindungen zu Gleichgesinnten angereichert." Ende 2021 habe dann wieder das öffentliche Demonstrieren dominiert, nachdem die Impf-Debatte Fahrt aufgenommen habe.

Als "parlamentarischen Arm" der Protestbewegung sehen die MBR-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die AfD, deren Funktionäre an Protesten der Corona-Leugner teilgenommen hätten. "Einige haben Verschwörungstheorien und Hetze über Soziale Netzwerke geteilt." Grundsätzlich werde die AfD aber kontrovers diskutiert. Für einige sei sie die einzig wählbare Partei, andere sähen sie als Teil einer großen Verschwörung.

Die AfD selbst habe versucht, an Verschwörungserzählungen anzuknüpfen. So habe sie 2020 im Gütersloher Kreistag über eine Resolution abstimmen lassen, mit der sie das Aussetzen des Impfens gefordert habe, weil die Impfstoffe "in die DNA des Menschen" eingriffen. Und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD im Kreistag Lippe, Sabine Reinknecht, habe im Mai 2021 auf einer Kundgebung in Bad Oeynhausen ein Banner mit der Aufschrift "Stoppt den Great Reset" getragen. Mit "Great Reset" ist gemeint, dass geheime (jüdische) Eliten eine neue Weltordnung etablieren wollen, um alle Menschen beherrschen zu können.

Die in einigen Telegram-Kanälen geäußerten Überzeugungen und Absichten, eigene Schulen und Dörfer zu gründen, zeugen nach Ansicht der MBR von einer Entfremdung von der demokratischen, diskutierenden Mehrheitsgesellschaft. Die bewusste soziale Isolierung unter Gleichgesinnten fördere ein weiteres Abdriften in Verschwörungserzählungen, heißt es in dem Bericht. Dario Schach: "Am Ende des Prozesses steht ein geschlossenes verschwörungsideologisches Weltbild, das völlig unabhängig von der Corona-Pandemie existiert und sich anschlussfähig an andere Krisen zeigt."

Dieses werde durch die Unterstützung des russischen Angriffs auf die Ukraine durch "bedeutende Teile der Bewegung" deutlich. "Der Diskurs innerhalb der Szene tendiert zu einer Beendigung des Krieges zuungunsten der Ukraine", sagt Dario Schach. Deshalb beschreibe der Ausdruck "Corona-Leugner" auch nicht mehr die aktuellen Ziele. In Verschwörungstheorien werde Russland zum Teil als Spielball "geheimer Mächte" dargestellt, die eine neue Weltordnung schaffen wollten.

So sieht die Beratungsstelle die Protestbewegung in Ostwestfalen-Lippe

Kreis Minden-Lübbecke

Espelkamp und Minden waren die Demo-Schwerpunkte. In Minden war die AfD 2021 treibende Kraft und veranstaltete zum Teil wöchentlich Mahnwachen mit bis zu 100 Teilnehmern. Anfang 2022 fanden in Bad Oeynhausen, Petershagen, Espelkamp, Lübbecke, Minden und Porta-Westfalica wöchentlich Demos statt.

Kreis Herford

Hier scheiterte im Winter 2020 / 21 der Versuch, langfristig wöchentliche Spaziergänge zu organisieren. Im April 2021 demonstrierten in Herford 200 gegen die Test-Pflicht an Schulen. Im Winter 2021 / 22 fanden nicht angemeldete Demos mit bis zu 200 Leuten in Bünde und Herford statt. Der Holocaust wurde in der Telegram-Gruppe "Bünde aufgewacht" geleugnet.

Bielefeld

Die Kundgebungen in Bielefeld entwickelten sich bis Ende 2021 zu den größten in der Region. Im Winter 2021 / 2022 organisierte die Gruppe "Bielefeld steht auf!" alle zwei Wochen Demos mit bis zu 3.000 Teilnehmern aus Ostwestfalen-Lippe. In der Telegram-Gruppe erschienen antisemitische und demokratiefeindliche Postings.

Kreis Gütersloh

Hier existiert keine zentrale Telegram-Gruppe. Stattdessen gibt es ortsspezifische Gruppen mit teilweise mehreren hundert Mitgliedern. So war auch der Protest nicht zentral, sondern in der Fläche verteilt. Am 14. Februar 2022 demonstrierten insgesamt 850 zur selben Zeit in Gütersloh, Halle, Harsewinkel, Herzebrock-Clarholz, Rheda-Wiedenbrück, Schloß Holte-Stukenbrock und Verl.

Kreis Lippe

In Detmold und Umgebung werden bei wöchentlichen Protestaktionen von bis zu 20 Teilnehmern Schilder auch mit verschwörungsideologischen Inhalten an Straßen gezeigt. Organisiert werden sie zum Teil von dem rechten Akteur Gerd Ulrich aus Detmold. An Demos nahmen während der Pandemie bis zu 350 Menschen teil. Zentren waren Detmold, Lemgo und Bad Salzuflen.

Kreis Paderborn

Der Protest wird vor allem von der Telegram-Gruppe "Grundrechte Paderborn" organisiert. Die Chat-Funktion des Kanals ist eingeschränkt. Im Frühjahr 2022 folgten bis zu 2.500 Menschen Demo-Aufrufen. Bedeutend sind auch die Gruppen "Eltern stehen auf!" und "525 Bürgerinitiative Paderborn", die auch Demos organisieren.

Kreis Höxter

Im Kreis Höxter gab es wenig Demos. Anhänger der Szene fuhren nach Paderborn. 2021 versuchte die AfD im Wahlkampf, in Bad Driburg, Beverungen, Brakel und Warburg Proteste zu organisieren, zu denen aber jeweils nur etwa 50 Leute kamen. Im Winter 2021 gab es in vielen Städten "Spaziergänge".

Bildunterschrift: Gerd Ulrich (rechts), ehemals Leiter der "Einheit Hermannsland" der inzwischen verbotenen "Heimattreuen Deutschen Jugend", nimmt an Mahnwachen teil wie hier am 21.Januar in Detmold.

Bildunterschrift: Im Januar 2022 demonstrierten etwa 600 Menschen in Paderborn gegen die Corona-Maßnahmen.

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Am 20. Januar 2023 wurde die Broschüre "Verstrickungen" (2022) über die Szene der Corona-Leugnenden im Regierungsbezirk Detmold - durch die "Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus OWL" - präsentiert.

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www.mbr-owl.de


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