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12 Artikel , 07.09.2021 :

Pressespiegel überregional

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Übersicht:


tagesschau.de, 07.09.2021:
Rechtsextreme feiern Taliban / "Revolte gegen die moderne Welt"

MiGAZIN, 07.09.2021:
"Denkmal für die Opfer" / Dokumentar-Hörspiel zum NSU-Prozess ist Hörbuch des Jahres

Neues Deutschland Online, 07.09.2021:
Rechte Gewalt vor Gericht / Angeblich alles rechtschaffen

Frankfurter Rundschau Online, 07.09.2021:
Rechtsextremismus / Mit Oma, Opa und Messer

Göttinger Tageblatt Online, 07.09.2021:
Angriff auf Journalisten: Angeklagte Neonazis im Fretterode-Prozess geben Tat in Teilen zu

Süddeutsche Zeitung Online, 07.09.2021:
Thüringen / Journalisten verlassen Gerichtssaal in Prozess um Neonazi-Angriff

Mitteldeutscher Rundfunk, 07.09.2021:
Prozess wegen Angriff auf Journalisten in Fretterode hat begonnen

die tageszeitung Online, 07.09.2021:
Prozess zu Neonazi-Angriff in Fretterode / Mit dem Messer gegen Journalisten

MiGAZIN, 07.09.2021:
"Es sei ein Skandal" / Prozess drei Jahre nach Neonazi-Überfall auf Journalisten in Thüringen

Süddeutsche Zeitung Online, 07.09.2021:
Rechtsextremisten / Ein brutaler Überfall und seine Folgen

Der Tagesspiegel Online, 07.09.2021:
"Hängt die Grünen" / Rechtsradikale Partei plakatiert Mordaufruf

die tageszeitung Online, 07.09.2021:
Verfassungsschutz umwirbt Wissenschaft / "Höchst problematisch"

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tagesschau.de, 07.09.2021:

Rechtsextreme feiern Taliban / "Revolte gegen die moderne Welt"

07.09.2021 - 11.57 Uhr

In rechten Kreisen wird nach der Machtübernahme der Taliban vor einem gewaltigen Ansturm von Afghanen in Europa gewarnt. Gleichzeitig bewundern einige die Islamisten für deren "Revolte gegen die moderne Welt".

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan gibt es bei Rechtsradikalen in den USA und Europa Bewunderung für die Islamisten. In einschlägigen Online-Foren ist die Rede davon, die Machtübernahme sei ein Sieg für die Liebe zum Vaterland und für die Religion gewesen. Ein rechtsradikaler Blogger in den USA preist die Taliban als "konservative und religiöse Macht" an, wie US-Medien berichten.

Der Islam sei Gift - so beginnt ein Beitrag in einem Telegram-Kanal aus dem Umfeld der rechtsextremen "Proud Boys" in den USA. Aber diese Bauern, gemeint sind die Taliban, hätten gekämpft, um ihr Land zurückzuerobern. "Sie haben ihre Regierung zurückerobert, ihre nationale Religion als Gesetz eingeführt und Andersdenkende hingerichtet", heißt es in dem Beitrag. Es sei "schwer, das nicht zu respektieren".

"Homoparaden haben Sendepause"

Ein bekannter Aktivist der rechtsextremen "Identitären Bewegung" aus Österreich schrieb auf Twitter, der "Sieg der Taliban in Afghanistan bedeutet eine krachende Niederlage für den Globalismus". Und weiter: "Dragqueens, Homoparaden und Menschenrechtsideologie haben dort Sendepause." Es werde Zeit, so der Rechtsradikale, "dass auch Europa sich aus seinem Zustand als amerikanischer Kolonie befreit!"

Der Aktivist der "Identitären" postete Anfang September zudem die Aussage einer Frau, die nach eigenen Angaben in Afghanistan das erste Projekt für Gender-Studien aufgebaut hatte. "Ein klarer Fall von Verbrechen gegen die Menschheit - liefert sie an die Taliban aus!", schreibt der Aktivist dazu.

Brennende Regenbogen-Flaggen

Mit Memes (Grafiken) machen sich Rechtsextreme zudem über die Niederlage der afghanischen Armee lustig. Auf einer Grafik im Cartoon-Stil ist die US-Botschaft in Kabul zu sehen, an der ein McDonalds-Logo zwischen zwei brennenden Regenbogen-Flaggen hängt. Davor steht die Comic-Figur Pepe, die in rechtsextremen Online-Kampagnen eine zentrale Rolle spielt - und die in dieser Darstellung einen Bart, Kopftuch und ein Gewehr trägt.

Nicht nur Rechtsradikale teilten diese Grafik, um den Sieg der Islamisten zu feiern, sondern auch ein Twitter-Nutzer mit mehr als 10.000 Followern, der nach eigener Darstellung im "Islamischen Emirat Afghanistan" zuhause ist. Nach Einschätzung eines Journalisten aus Afghanistan gehört der Mann zu den Taliban. Ob er sich tatsächlich in Afghanistan aufhält, lasse sich nicht sicher sagen, so der Journalist im Gespräch mit tagesschau.de.

Unter diesem Posting finden sich zahlreiche antisemitische Darstellungen, die Juden als die Strippenzieher hinter dem westlichen Militäreinsatz in Afghanistan darstellen, sowie zahlreiche zustimmende Kommentare. Einer schreibt beispielsweise: "Ich sage nicht, dass ich die Taliban mag. Ich sage nur, dass ich das amerikanische Imperium hasse."

"Ambivalentes Verhältnis"

"Das Verhältnis der extremen Rechten zu Islamisten wie den Taliban ist ambivalent", erklärt Prof. Dr. Matthias Quent. Der Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena sagt im Gespräch mit tagesschau.de: Sowohl die "extreme Rechte als auch Islamisten sehen den Hauptfeind im westlichen Liberalismus, der aus ihrer Sicht verantwortlich ist für Globalisierung, Multikulturalismus, Materialismus, Dekadenz und Niedergang und den Verlust von Werten, Kultur, Glauben, Autorität sowie der männlichen Herrschaft".

Beide Ideologien enthielten zudem "faschistoide, autoritäre, antisemitische und frauenfeindliche Elemente und berufen sich auf historische Mythen und Verschwörungserzählungen". Außerdem, so Quent weiter, "respektieren oder bewundern Rechtsextreme die Aufopferung und die ideologische Konsequenz des radikalen Islamismus".

Doch "vordergründig wird von rechts außen nicht nur der radikale Islamismus, sondern der Islam pauschal als existentielle Bedrohung konstruiert, gegen den man sich entschieden verteidigen müsste", sagt Quent. "Der Sieg der Taliban wird einerseits als Vorbild für völkische, selbsternannte Befreiungsbewegungen diskutiert, anderseits als Instrument, um Angst zu schüren und für den vermeintlichen Widerstand zu mobilisieren."

"Revolte gegen die moderne Welt"

Und so sind Taliban und Rechtsextreme zumindest in ihren Feindbildern vereint. Ein ehemaliger AfD-Funktionär teilte eine Grafik, die diese Haltung veranschaulicht: Darauf zu sehen ist ein Mann mit Kopftuch und Bart, der einen Taliban darstellen soll, und ein weißer Mann, der auf verschiedenen Darstellungen als Vertreter von Nationalisten erscheint. Diese schauen sich entschlossen an - und darunter steht: "Revolte gegen die moderne Welt."

Bildunterschrift: Ein Anhänger der Taliban teilte dieses rechtsextreme Meme auf Twitter.

Bildunterschrift: Matthias Quent.

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MiGAZIN, 07.09.2021:

"Denkmal für die Opfer" / Dokumentar-Hörspiel zum NSU-Prozess ist Hörbuch des Jahres

07.09.2021 - 05.20 Uhr

"Saal 101 - Dokumentar-Hörspiel zum NSU-Prozess" ist Hörbuch des Jahres. Die Jury bezeichnet die Produktion als "dokumentarische Glanzleistung" und bescheinigt ihr "ungeheure Authentizität".

Die Produktion "Saal 101 - Dokumentar-Hörspiel zum NSU-Prozess" ist Hörbuch des Jahres 2021. Das Hörbuch unter der Regie von Ulrich Lampen sei "eine dokumentarische Glanzleistung mit historischem Wert" begründete die Jury der hr2-Hörbuch-Bestenliste ihre Wahl.

Das Hörbuch war im Auftrag des Bayerischen Rundfunks (BR) für die Hörspielabteilungen der ARD und Deutschlandfunk entstanden. Es basiert auf 6.000 Seiten Mitschriften zum NSU-Prozess, der von 2013 bis 2018 am Oberlandesgericht München stattfand.

"Hördenkmal für die Opfer"

Die Produktion verdichte die Beweisaufnahme zu thematischen Einheiten wie die Jugend der neonazistischen Täter, die zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen töteten, hieß es. Das "großartige Schauspielerensemble" vermittele eine "ungeheure Authentizität" und mache die Produktion zu einem "Hördenkmal für die Opfer".

Die Auszeichnung "Hörbuch des Jahres" wird am 21. Oktober 2021 in der Frankfurter Festhalle verliehen. Das Preisgeld in Höhe von 3.333 Euro stellt die HR-Lizenztochter HR Media zur Verfügung. Die hr2-Hörbuch-Bestenliste wird seit 1997 von hr2-Kultur und dem "Börsenblatt - Magazin für den Deutschen Buchhandel" in Kooperation mit dem Literaturhaus Frankfurt herausgegeben. Die besten Hörbücher werden monatlich von einer unabhängigen Jury bestimmt. Zu den 20 Juroren gehören Kritikerinnen und Kritiker der großen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. (epd/mig)

Bildunterschrift: Saal 101: Dokumentar-Hörspiel zum NSU-Prozess.

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Neues Deutschland Online, 07.09.2021:

Rechte Gewalt vor Gericht / Angeblich alles rechtschaffen

07.09.2021 - 17.32 Uhr

In Mühlhausen wurde der Prozess gegen zwei Männer wegen eines brutalen Neonazi-Überfalls auf Journalisten eröffnet

Von Joachim F. Tornau, Mühlhausen

Wäre da nicht die Farbe der Hemden, man könnte Nordulf H. und Gianluca B. kaum auseinander halten. Beide betreten den Gerichtssaal am Landgericht Mühlhausen am Dienstag ganz in Schwarz, tragen die gleiche Basecap, die gleiche Sonnenbrille, die gleiche dunkle Jacke. Akkurat könnte man ihre nahezu identische Haartracht nennen. Oder ordentlich, das würde wohl besser zu ihrem Weltbild passen: Die beiden Männer, der eine im weißen Hemd, der andere im blau-weiß-karierten, sind militante Neonazis.

Die Staatsanwaltschaft wirft H., 22 Jahre alt, und B., 27, gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, schweren Raub und Sachbeschädigung vor. Sie sollen zwei Göttinger Journalisten, die auf Recherchen über die rechte Szene spezialisiert sind, angegriffen, schwer verletzt und ihnen die rund 1.500 Euro teure Fotoausrüstung geraubt haben.

Nordulf H. ist der älteste Sohn von Thorsten Heise, einem der wichtigsten Drahtzieher der extremen Rechten in Thüringen, und Gianluca B gilt als Heises Ziehsohn. Beide leben in dem thüringischen Dorf Fretterode nahe der Grenze zu Hessen und Niedersachsen. Heise, dem ehemaligen NPD-Bundesvorstandsmitglied, Gründer der rechten "Kameradschaft Northeim", Rechtsrock-Händler und Konzertveranstalter, gehört seit rund 20 Jahren das mächtige Gutshaus mitten im Ort. Es ist ein wichtiger Treffpunkt der militanten Rechten.

Am 29. April 2018 waren die beiden Journalisten nach Fretterode gefahren, weil sie von einem größeren Neonazi-Treffen im Hause Heise gehört hatten. Sie fotografierten, wurden bemerkt, traten in ihrem Auto die Flucht an. Was dann folgte, klingt in der Anklage wie eine Menschenjagd: Nordulf H. und Gianluca B. hätten die Journalisten mit Heises Pkw so lange verfolgt, bis der Wagen ihrer Opfer in einem Straßengraben landete. Worauf die beiden Neonazis zum brutalen Angriff übergegangen seien. Mit einem rund 60 Zentimeter langen Schraubenschlüssel, einem Messer, einem Baseballschläger und Reizgas. Am Ende hatte einer der Journalisten einen gebrochenen Schädel, der andere eine Stichverletzung im Bein. Ihr Auto war völlig zerstört, die Scheiben eingeschlagen, die Reifen zerstochenen. Und ihre Kamera war weg - nicht aber der Speicherchip mit den Fotos. Den hatten sie noch rechtzeitig verstecken können. Eines der Fotos, mittlerweile vielfach veröffentlicht, zeigt den vermummten Nordulf H., wie er mit dem Schraubenschlüssel in der Hand auf den Fotografen zu rennt.

Bislang hatten die Angeklagten zu den Vorwürfen geschwiegen. Beim Prozessauftakt präsentieren sie nun über ihre Verteidiger Wolfram Nahrath und Klaus Kunze - beide bekannte Szene-Anwälte - eine eigene Version der Ereignisse. Besonnen und rechtschaffen geben sie sich darin, als die eigentlichen Opfer, unschuldig heimgesucht von Männern, die für sie keine Journalisten, sondern gewaltbereite Antifa-Aktivisten sind.

"Es tut mir leid, dass ich an dem Auto Scheiben und Rücklichter eingeschlagen habe", trägt Nahrath für seinen Mandanten Nordulf H. vor. Mehr aber habe er nicht getan. Nicht zugeschlagen, nicht zugestochen - und schon gar nicht habe er die Fotoausrüstung geraubt. "Ich habe in meinem Leben noch nie etwas gestohlen oder weggenommen." Gleich zweimal, behauptet H., hätten ihn die Göttinger bei ihrer Flucht überfahren wollen. "Wäre ich nicht weg gesprungen, wäre ich schwer verletzt oder tot." Auch der Angriff mit Baseballschläger, Reizgas und Metallstange sei allein von ihnen ausgegangen.

Aber warum dann die Verfolgung? Nur um das Autokennzeichen feststellen zu können, betont der Heise-Sohn: "Für die Polizei." Und um die Löschung der Fotos zu erreichen, aus Angst, dass sie sonst auf "Fahndungsplakaten der Antifa" landen könnten. Glaubt man H., dann fand auf dem Heise’schen Anwesen in Fretterode an jenem Frühlingstag auch kein Neonazi-Treffen statt. Sondern es stand, wie jeden Sonntag, das gemeinsame Familienessen an. "Mein Opa hatte einen Tisch für die ganze Familie in einer Gaststätte reserviert."

Alles gutbürgerlich, alles ordentlich - das soll die Botschaft sein, die Rechtsanwalt Kunze auch für Gianluca B. unterstreicht. Nicht einmal eine wirkliche Verfolgungsjagd hat es demnach gegeben. "Meinerseits war es ein Hinterherfahren", heißt es in der von Kunze verlesenen Erklärung von B. "Ich wollte mein Auto nicht gefährden und kein Straßenrennen veranstalten." Eine Darstellung, die Fragen aufwirft. Wenn der Prozess am Donnerstag weitergeht, sollen sie gestellt werden.

Bildunterschrift: Die beiden Angeklagten bei der Ankunft im Verhandlungssaal des Landgerichts Mühlhausens. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen schweren Raub und gefährliche Körperverletzung vor.

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Frankfurter Rundschau Online, 07.09.2021:

Rechtsextremismus / Mit Oma, Opa und Messer

07.09.2021 - 17.30 Uhr

Von Joachim F. Tornau

Zwei Neonazis aus Thüringen verletzen Journalisten offenbar schwer. Im Prozess geben sie sich aber als Opfer prügelwütiger Antifaschisten.

Die beiden Männer die an diesem Dienstag den Gerichtssaal betreten, geben ein eigentümliches Bild ab: die gleiche Basecap, die gleiche Sonnenbrille, die gleiche dunkle Jacke, die gleiche akkurat kurz gestutzte Frisur. Man könnte sie für Zwillinge halten - und so ganz falsch wäre das gar nicht. Nordulf H., 22 Jahre alt, ist der älteste Sohn von Thorsten Heise, einem der wichtigsten Drahtzieher der extremen Rechten im Land. Gianluca B., 27, gilt als Heises Ziehsohn.

Die zwei Neonazis müssen sich wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung, des schweren Raubs und der Sachbeschädigung vor dem Landgericht in Mühlhausen verantworten. Am 29. April 2018 sollen sie zwei Göttinger Journalisten, die auf Recherchen über die rechte Szene spezialisiert sind, angegriffen, schwer verletzt und ihre rund 1.500 Euro teure Fotoausrüstung geraubt haben.

Ein Zentrum des Neonazismus

Die antifaschistischen Journalisten waren in das thüringische Dorf Fretterode unweit der Grenze zu Hessen und Niedersachsen gefahren, weil sie von einem größeren Neonazi-Treff dort im Hause Heise gehört hatten. Dem einflussreichen NPD-Bundesvize, Kameradschaftsführer, Rechtsrock-Händler und Konzertveranstalter gehört in dem Ort seit rund 20 Jahren das mächtige Gutshaus mitten im Ort. Ein Zentrum des Neonazismus.

Laut Anklage wurden die Journalisten von H. und B. bemerkt und dann so lange per Auto verfolgt, bis deren Wagen im Straßengraben landete. Worauf die beiden Neonazis zum brutalen Angriff übergegangen seien. Mit einem großen Schraubenschlüssel, einem Messer, einem Baseballschläger und mit Reizgas.

Ein gebrochener Schädel

Am Ende hatte ein Journalist einen gebrochenen Schädel, der andere eine Stichverletzung im Bein. Ihr Auto war zerstört, die Kamera weg. Nicht aber der Speicherchip mit den Fotos, den hatten sie noch rechtzeitig verstecken können. Eines der Fotos zeigt den vermummten H., wie er - Schraubenschlüssel in der Hand - auf den Fotografen zu rennt.

Bislang hatten die angeklagten Neonazis zu diesen Vorwürfen geschwiegen. Beim Prozessauftakt präsentieren sie dafür über ihre Verteidiger Wolfram Nahrath und Klaus Kunze - beides bekannte Szene-Anwälte - nun ihre Sicht der Dinge. Besonnen und rechtschaffen seien sie gewesen, die eigentlichen Opfer, unschuldig heimgesucht gewaltbereiten Antifa-Aktivisten, die gar keine Journalisten seien.

Warum die Verfolgung?

"Es tut mir leid, dass ich an dem Auto Scheiben und Rücklichter eingeschlagen habe", trägt Nahrath für seinen Mandanten H. vor. Er habe aber nicht zugeschlagen, nicht zugestochen - und schon gar nicht die Fotoausrüstung geraubt. "Ich habe in meinem Leben noch nie etwas gestohlen oder weggenommen."

Gleich zweimal, behauptet H., hätten ihn die Göttinger bei ihrer Flucht überfahren wollen. "Wäre ich nicht weg gesprungen, wäre ich schwer verletzt oder tot." Auch der Angriff mit Baseballschläger, Reizgas und einer Metallstange sei allein von den anderen ausgegangen.

Familienessen mit Oma und Opa stand an

Aber warum die Verfolgung? Nur um das Autokennzeichen feststellen zu können, betont der Heise-Sohn. "Für die Polizei." Und um die Löschung der Fotos zu erreichen, aus Angst, dass sie sonst auf "Fahndungsplakaten der Antifa" landen könnten.

Schenkt man Nordulf H. Glauben, dann fand auf dem Heise’schen Anwesen in Fretterode an jenem Frühlingstag auch überhaupt kein Neonazi-Treffen statt. Sondern es stand, wie an jeden Sonntag, das gemeinsame Familienessen mit Oma und Opa in einer Gaststätte an.

Alles gutbürgerlich, alles ordentlich

Alles gutbürgerlich, alles ordentlich - das soll die Botschaft sein, die Rechtsanwalt Klaus Kunze anschließend auch für Gianluca B. noch einmal dick unterstreicht. Nicht einmal eine wirkliche Verfolgungsjagd soll es demnach gegeben haben. "Meinerseits war es ein Hinterherfahren", liest Kunze im Namen seines Mandanten vor. "Ich wollte mein Auto nicht gefährden und kein Straßenrennen veranstalten."

Es ist eine Darstellung, die Fragen aufwirft. Wenn der Prozess am Donnerstag weitergeht, sollen sie gestellt werden.

Bildunterschrift: Die Presse vor Prozessbeginn am Puschkinhaus, dem ausgelagerten Sitzungsraum des Landgerichts.

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Göttinger Tageblatt Online, 07.09.2021:

Angriff auf Journalisten: Angeklagte Neonazis im Fretterode-Prozess geben Tat in Teilen zu

07.09.2021 - 17.17 Uhr

Von Michael Brakemeier

Unter großem öffentlichen Interesse hat in Mühlhausen (Thüringen) der Prozess gegen zwei Männer aus der rechtsextremen Szene begonnen, die 2018 in Fretterode im Eichsfeld zwei Journalisten aus Göttingen angegriffen, verletzt und beraubt haben sollen. Zum Auftakt schilderten die angeklagten Neonazis vor dem Landgericht ihre Version der Geschehnisse.

Mühlhausen / Fretterode. Zum Auftakt des Prozesses wegen des Überfalls auf zwei Journalisten vor mehr als drei Jahren im thüringischen Fretterode haben sich die beiden Angeklagten Gianluca B. und Nordulf H. zu den Vorwürfen geäußert. Dabei räumte der 22 Jahre alte Hauptangeklagte H. vor dem Landgericht Mühlhausen ein, er habe im April 2018 mit einem Schraubenschlüssel auf das Auto der beiden Journalisten eingeschlagen. Beide Angeklagte sind in der extrem rechten Szene aktiv.

Zum Prozessbeginn erschienen die Angeklagten fast uniformiert - sie trugen schwarze Baseball-Kappen, schwarze Masken, bunt verspiegelte, schwarze Sonnenbrillen, schwarze Windjacken und Hemden, diese weiß und hell-blau-kariert. Vertreten werden Gianluca B. und Nordulf H. durch Anwälte der rechten Szene: Klaus Kunze und Wolfram Nahrath.

Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen wirft den beiden Angeklagten vor, die Journalisten angegriffen zu haben. Dazu hätten sie die Journalisten zunächst mit einem Auto verfolgt, die ihrerseits mit einem Auto aus Fretterode geflohen waren. Ausgangspunkt des damaligen Überfalls war eine Recherche der beiden Journalisten in der Nähe des Grundstücks des bekannten Neonazis und stellvertretenden Bundesvorsitzenden der NPD, Thorsten Heise, dem Vater von H.

Stichverletzung im Oberschenkel

Nachdem das Auto der Journalisten kurz vor Hohengandern liegen geblieben war, habe der Hauptangeklagte unter anderem Reizgas in den Innenraum des Wagens gesprüht, sagte ein Staatsanwalt während der Verlesung der Anklage.

Außerdem habe der Hauptangeklagte H. einen der Journalisten mit einem 10 bis 15 Zentimeter langen Messer in den Oberschenkel gestochen, als dieser versucht habe, den Angreifer durch Tritte am Eindringen in das Fahrzeug zu hindern, so die Vorwürfe. Die Folge: eine ein bis zwei Zentimeter tiefe Stichverletzung, so die Staatsanwaltschaft. Zudem habe Nordulf H. die Kamera-Ausrüstung der Journalisten an sich genommen. Gianluca B. soll einem der Journalisten mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen haben. Am Auto zerstachen die Angeklagten die Reifen.

Angeklagt sind die beiden mutmaßlichen Täter nun wegen Sachbeschädigung sowie gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung und gemeinsamem schweren Raub, sagte der Staatsanwalt. Bleibt es bei dieser Anklage, drohen den beiden Tatverdächtigen mehrjährige Freiheitsstrafen - schwerer Raub sieht in Fällen wie diesem laut Paragraf 250 Strafgesetzbuch mindestens fünf Jahre vor. Der Göttinger Anwalt Rasmus Kahlen, der einen der Journalisten vertritt, betont, dass angesichts der Umstände auch deutlich mehr möglich sei. Kahlen und Sven Adam, der den zweiten Journalisten vertritt, werten die Tat als versuchten Totschlag. Die Angeklagten hätten den Tod der beiden Journalisten billigend in Kauf genommen, argumentierten die Anwälte vor Prozessbeginn. Dem folgte die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage allerdings nicht.

Neonazi in Rage

"Ich bin durchgedreht. Es war, als hätte sich ein Schalter umgelegt", ließ Nordulf H. am Dienstag seinen Verteidiger Nahrath verlesen. "Ich war in Rage und konnte mich nicht mehr beherrschen", heißt es in Nordulf H.s Einlassung zum 29. April 2018, an dem die Attacke auf das Auto der beiden Journalisten nach einer Verfolgungsjagd von Fretterode bis kurz vor Hohengandern geschehen sein soll.

Er habe die Journalisten vor dem Haus seiner Familie gesehen, wie sie Fotos gemacht hätten, sagte der 22-jährige H. Als er die Löschung der Fotos aus Angst, dass diese in Antifa-Veröffentlichungen erscheinen könnten, verlangte, sei der Fahrer, den H. als "Göttinger Antifa" erkannt haben will, auf ihn zu gefahren. Den beiden Journalisten sprach H. in seiner verlesenen Einlassung ab, überhaupt Journalisten zu sein. Die wiederum verließen während der Einlassungen der beiden Angeklagten am Dienstag den Gerichtssaal.

Mit Gianluca B. habe er dann, so H. weiter, im Wagen seines Vaters die Verfolgung aufgenommen, um das Autokennzeichen der Göttinger zu bekommen. Weder er noch B. hätten zu dem Zeitpunkt ihre Mobiltelefone dabei gehabt, um die Polizei zu rufen. Kurzzeitig nahm H. die Verfolgung zu Fuß auf - mit einem 40 bis 50 Zentimeter langen Schraubenschlüssel. Vermummt sei er dabei gewesen, weil er weiter fotografiert worden sei.

Später kommt es auf dem Gelände einer Schweinemastanlage bei Hohengandern zum Aufeinandertreffen von Verfolgten und Verfolgern. Wegen einer Baustelle endet ihre Autofahrt hier.

Gianluca B. bestätigte in seiner Einlassung am Dienstag, dass Nordulf H. auf den Wagen der Journalisten geschlagen hat. B. berichtet aber auch, dass einer der Journalisten ihn mit einem Baseballschläger attackiert haben soll. Er wiederum habe mit dem Schraubenschlüssel auf den Journalisten geschlagen. "Kann sein, dass ich ihn dabei am Kopf getroffen habe", erklärt B. lapidar. Später wird im Uni-Klinikum bei dem Journalisten ein Schädelbruch festgestellt. Den Prozess begleitet eine Gerichtsmedizinerin der Uni in Jena. Ihr Gutachten wird an einem der insgesamt elf Verhandlungstage eine Rolle spielen.

B. selbst gibt an, dass durch die gegnerischen Schläge mit dem Baseballschläger seine Hand gebrochen wurde. H. und der zweite Journalist hätten dann, so B. weiter, jeweils mit Reizgas gesprüht.

H. erwähnt in seiner Einlassung, anders als die Staatsanwaltschaft, kein Messer. Auch der 27-jährige B. sagt, er habe während der Auseinandersetzung kein Messer gesehen. Nach seiner Darstellung, die er von Verteidiger Kunze verlesen ließ, war er vor allem als Fahrer des Verfolger-Autos in das Geschehen verstrickt.

"Es tut mir leid", lässt H. durch Verteidiger Nahrath verlesen, der schildert, dass H. nach der Schule Berufssoldat werden wollte, was ihm aber nach der Tat verwehrt worden sei. Stattdessen habe er in der Schweiz eine Ausbildung zum Installateur begonnen und inzwischen auch abgeschlossen.

Seit der angeklagten Tat sind inzwischen 40 Monate vergangen - Zeit genug, eine Ausbildung zu machen. Denn in Untersuchungshaft mussten die beiden mutmaßlichen Täter nicht.

"Schamloser Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr"

Der Prozessbeginn war von einem großen öffentlichen Interesse begleitet worden. Etwa 50 Zuschauer und Journalisten waren im Verhandlungssaal anwesend. Auch die Thüringer Landtagsabgeordneten Katharina König-Preuss (Linke) und Madeleine Henfling (Grüne) beobachteten den Auftakt. "Während die Anklageschrift nüchtern den Angriff auf die beiden Journalisten beschreibt, sind die heute verlesenen Einlassungen der beiden Täter nur als schamloser Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr einzuordnen", sagte König-Preuss. Nicht nur, dass die Angeklagten versucht hätten, den Journalisten ihre Journalisten-Tätigkeit abzuerkennen, sie hätten beide mehrfach als angebliche Täter diffamiert.

Vor dem Gebäude gab es eine Kundgebung und Informationen zum Prozess, die die Göttinger Antifa organisiert und zusammengestellt hatte. Rund 100 Menschen aus Thüringen, Hessen und Niedersachsen zeigten ihre Unterstützung für die beiden Journalisten. Darunter auch die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke). Die Polizei war mit einem größeren Aufgebot vor Ort und hatte die Zufahrtsstraße zum Verhandlungsort in Mühlhausen abgesperrt.

Der Prozess wird am Donnerstag, 9. September, fortgesetzt. Dann soll nach Angaben der Vorsitzenden Richterin der zuständigen Kammer auch einer der beiden Journalisten als Zeuge vernommen werden. Zudem gebe es Fragen an die beiden Angeklagten.

Bildunterschrift: Die Staatsanwaltschaft wirft zwei mutmaßlichen Rechtsextremen schweren Raub und gefährliche Körperverletzung vor, nachdem sie im April 2018 zwei Fotografen im Landkreis Eichsfeld verfolgt und mit Gegenständen verletzt haben sollen.

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Süddeutsche Zeitung Online, 07.09.2021:

Thüringen / Journalisten verlassen Gerichtssaal in Prozess um Neonazi-Angriff

07.09.2021 - 15.19 Uhr

Zwei Rechtsextremisten sollen in Thüringen Medienvertreter angegriffen haben. Zum Prozessauftakt macht einer von ihnen den Journalisten Vorwürfe. Die protestieren gegen seine Darstellung und verlassen den Gerichtssaal.

Zum Auftakt des Prozesses wegen des Überfalls auf zwei Journalisten in Thüringen vor mehr als drei Jahren haben sich die beiden Angeklagten zu den Vorwürfen geäußert. Dabei räumte der 22 Jahre alte Hauptangeklagte ein, er habe im April 2018 mit einem Schraubenschlüssel in Fretterode (Landkreis Eichsfeld) auf das Auto der beiden Journalisten eingeschlagen. Beide Angeklagten werden der rechtsextremen Szene zugerechnet.

Er sei damals in Rage gewesen, weil die Journalisten zuvor Fotos von ihm und dem Haus seiner Familie gemacht hätten, so der 22-Jährige. Außerdem hätten sie versucht, ihn mit ihrem Auto zu überfahren, behauptete er. Zudem habe einer der Journalisten mit einem Baseballschläger auf ihn und seinen Begleiter eingeschlagen. Aus Protest gegen diese aus ihrer Sicht wahrheitswidrige Darstellung verließen die beiden Journalisten den Gerichtssaal.

Ausgangspunkt des damaligen Überfalls war eine Recherche der Journalisten in der Nähe des Grundstücks des bekannten Rechtsextremen Thorsten Heise. Er ist unter anderem stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD. Die beiden Angeklagten stammen aus seinem Umfeld, einer ist der Sohn von Heise.

Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen wirft ihnen vor, die Journalisten angegriffen zu haben. Außerdem habe der Hauptangeklagte einem der Journalisten ein Messer in den Oberschenkel gestochen. Der zweite, 27-jährige Angeklagte sagte, er habe während der Auseinandersetzung kein Messer gesehen.

Der Prozessbeginn wurde von einem großen öffentlichen Interesse begleitet. Unter anderem der Geschäftsführer des Deutschen Journalisten-Verbandes Thüringen, Sebastian Scholz, hatte vor Prozessbeginn gefordert, sollte die Schuld der Täter erwiesen werden, dürften sie nicht mit einer Bagatellstrafe davonkommen. Nach Angaben der Vorsitzenden Richterin soll einer der Journalisten am Donnerstag als Zeuge vernommen werden.

Bildunterschrift: Pressevertreter sitzen vor Prozessbeginn im Gerichtssaal in Mühlhausen. Die Staatsanwaltschaft wirft zwei mutmaßlichen Rechtsextremen schweren Raub und gefährliche Körperverletzung vor.

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Mitteldeutscher Rundfunk, 07.09.2021:

Prozess wegen Angriff auf Journalisten in Fretterode hat begonnen

07.09.2021 - 13.54 Uhr

Von MDR Thüringen

In Mühlhausen hat der Prozess gegen zwei mutmaßliche Rechtsextremisten begonnen, die 2018 in Fretterode zwei Journalisten schwer verletzt und ausgeraubt haben sollen. Zum Auftakt äußerten sich die beiden Angeklagten.

Mehr als drei Jahre nach dem Überfall auf zwei Journalisten in Fretterode in Nordthüringen hat in Mühlhausen der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen Angreifer begonnen. Angeklagt sind zwei mutmaßliche Rechtsextreme im Alter von 22 und 27 Jahren. Verhandelt wird seit Dienstag vor dem Landgericht Mühlhausen - aus Platzgründen aber nicht im Gerichtsgebäude, sondern in einem unweit gelegenen Veranstaltungssaal.

Bei Recherche im Wohnort von Neonazi Heise angegriffen

Die Angeklagten sollen die Journalisten bei Recherchen im Wohnort des Neonazis und damaligen NPD-Landesvorsitzenden Thorsten Heise mit einem Schraubenschlüssel und einem Messer angegriffen sowie mit dem Auto verfolgt haben. Zudem wird ihnen vorgeworfen, die Fotoausrüstung der Journalisten geraubt und deren Fahrzeug zerstört zu haben. Beide Opfer wurden bei dem Angriff schwer verletzt. Die mutmaßlichen Angreifer sind wegen gemeinschaftlichen schwerer Raubes, gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung angeklagt.

Jüngerer Angeklagter will seinerseits angegriffen worden sein

Zum Prozessauftakt wurde die Anklage verlesen, danach trugen die Anwälte der Angeklagten Erklärungen ihrer Mandanten vor. Der Jüngere ließ erklären, er sei gegen seinen Willen fotografiert worden. Er habe die Fotografen mit dem Auto verfolgt, um seine Rechte am eigenen Bild durchzusetzen. Später hätten ihn die Journalisten "fast umgefahren" und mit einem Baseballschläger angegriffen. Deshalb habe er zum Reizgas gegriffen.

Der ältere Angeklagte versuchte, die Darstellung des Mitangeklagten zu untermauern. Er ließ seinen Anwalt erklären, er habe während der Auseinandersetzung kein Messer gesehen. Der 27-Jährige behauptete, dass er vor allem als Fahrer des Verfolger-Autos beteiligt gewesen sei.

Opfer verlassen aus Protest den Saal

Die Opfer, die im Prozess als Nebenkläger auftreten, verließen den Saal, als der Anwalt des jüngeren Angeklagten dessen Erklärung verlas. Damit wollten die beiden Opfer offensichtlich gegen die aus ihrer Sicht wahrheitswidrige Darstellung protestieren. Nach dem Verlesen der Einlassungen wurde die Verhandlung auf Donnerstag vertagt.

Opferberatung ezra kritisiert Anklage

Die Thüringer Opferberatung ezra kritisierte im Vorfeld die Anklage gegen die beiden mutmaßlichen Rechtsextremisten. Es sei ein Skandal, dass der brutale Angriff, den die Betroffenen nur durch Glück überlebt hätten, nicht als versuchtes Tötungsdelikt eingeordnet werde.

Älterer Angeklagter an Störaktion gegen MDR-Kamerateam beteiligt

Der ältere der beiden Angeklagten war 2017 beim so genannten Eichsfeldtag der NPD in Leinefelde an einer Störaktion gegen ein MDR-Kamerateam beteiligt. Er und weitere Ordner der Veranstaltung hielten ein "Lügenpresse"-Transparent vor die Kamera, so dass das Team die Dreharbeiten einstellen und das Gelände verlassen musste. Der Deutsche Journalisten-Verband hatte damals auch den Polizeieinsatz kritisiert und einen besseren Schutz von Medienvertretern eingefordert.

Bildunterschrift: Die beiden Angeklagten auf dem Weg in den Gerichtssaal.

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die tageszeitung Online, 07.09.2021:

Prozess zu Neonazi-Angriff in Fretterode / Mit dem Messer gegen Journalisten

2018 attackierten Rechtsextreme zwei Journalisten in Thüringen. Nun beginnt der Prozess. Der DJV warnt vor einer "Bagatellstrafe".

Konrad Litschko

Berlin (taz). Die beiden Fotografen wollten ein Neonazi-Treffen auf dem Anwesen der NPD-Größe Thorsten Heise im Thüringer Fretterode dokumentieren, als plötzlich Nordulf H. und Gianluca B. vom Grundstück aus auf sie zugelaufen seien. Die Journalisten flüchteten in ihr Auto, die Rechtsextremen seien nach ihrer Schilderung mit einem BMW hinterher gefahren und hätten versucht, sie von der Straße zu drängen. Als sie sich nach mehreren Kilometern in einem Straßengraben festfuhren, sollen Nordulf H. und Gianluca B. hinausgestürmt und sie mit einem Schraubenschlüssel, Baseballschläger, Messer und Reizgas attackiert, die Autoscheiben zertrümmert und Reifen zerstochen haben.

Am Ende sollen die Angreifer noch eine Kamera geklaut haben, dann fuhren sie davon. Die Opfer blieben mit einer Stichverletzung am Oberschenkel, einer blutenden Kopfwunde und Prellungen zurück, ihr Pkw war ein Totalschaden.

Der Angriff ereignete sich bereits Ende April 2018, nun - dreieinhalb Jahre später - stehen Nordulf H. und Gianluca B., 22 und 27 Jahre alt, dafür ab Dienstag vor dem Landgericht Mühlhausen. Die Attacke sorgte damals bundesweit für Entsetzen - weil sie ein Angriff auf die Pressefreiheit war, ausgeführt mit äußerster Brutalität. Vor Gericht müssen sich die beiden Rechtsextremen nun wegen Vorwürfen der gefährlichen Körperverletzung, schweren Raubs und Sachbeschädigung verantworten. Angesetzt sind elf Verhandlungstage bis Mitte Oktober.

"Tote in Kauf genommen"

Laut Rasmus Kahlen, Anwalt eines der Fotografen, verfolgt die Tat die Angegriffenen bis heute. Die Mittzwanziger aus Göttingen hätten als freie Journalisten gearbeitet, seien zur Recherche vor Ort gewesen. Einer habe diese Tätigkeit danach aufgegeben, beide seien bis heute über die Brutalität der Attacke geschockt. Für Kahlen müsste die Tat härter als angeklagt verurteilt werden: als versuchter Totschlag. "Der Schlag mit dem Schraubenschlüssel führte zu einem Schädelbruch, von dem Messerstich hätte der Betroffene auch verbluten können. Hier wurden Tote in Kauf genommen."

Das Ermittlungsverfahren gestaltete sich dagegen zäh. Zwar konnte einer der Journalisten die Angreifer selbst auf Fotos festhalten und die Speicherkarte in einer Socke verstecken. Die Staatsanwaltschaft zweifelte aber zunächst, ob die Bilder echt sind. Dann wurde erst gegen einen anderen Verdächtigen ermittelt. Am Ende verzögerte sich der Prozessauftakt wegen des vorzeitigen Ruhestands eines Richters und der Pandemie.

Unterstützerinnen, Unterstützer der Journalisten kritisieren zudem, dass die Angreifer nicht in U-Haft sitzen. Sie wollen zum Prozessauftakt eine Kundgebung vor dem Gericht abhalten. Auch die Thüringer Opferberatung Ezra übt Kritik: Schon zuletzt habe die Justiz Verfahren gegen Neonazis verschleppt, auch im Fall Fretterode fehle eine konsequente Strafverfolgung. "Das ist hochgefährlich und verkennt die Dimension militanter Neonazi-Strukturen."

Die Staatsanwaltschaft sah dagegen bisher keine Haftgründe wie Flucht- oder Verdunklungsgefahr. Anwalt Kahlen wundert sich darüber. "Bei diesen schweren Vorwürfen drohen Haftstrafen von fünf Jahren und aufwärts. Da wäre eine U-Haft eigentlich üblich." Einzig Nordulf H. könnte milder davonkommen, weil er zur Tatzeit Heranwachsender war.

Einschlägig bekannt

Die Angeklagten selbst schweigen bisher zu den Vorwürfen. Aber sie sind keine Unbekannten. Nordulf H. ist der Sohn des NPD-Bundesvize Thorsten Heise, auch Gianluca B. soll zur Tatzeit auf dessen Grundstück gewohnt haben. Der 27-Jährige war früher ebenfalls für die NPD aktiv. Erst jüngst wurde er zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, weil er sich 2016 an einem Neonazi-Angriff auf den Leipziger Alternativ-Stadtteil Connewitz beteiligt hatte. Thorsten Heise wiederum ist zentrale Figur der militanten rechtsextremen Szene, sein Haus ein bundesweiter Treffpunkt und Sitz eines einschlägigen Versandhandels.

Anwalt Kahlen dringt auch deshalb darauf, alle Hintergründe der Tat "komplett aufzuklären". Auch der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) verfolgt den Prozess. "Wir erwarten, dass das Gericht die Neonazi-Attacken als das bestraft, was sei waren: ein Angriff auf das Grundrecht der Pressefreiheit und damit auf die Verfassung“" sagt Sprecher Hendrik Zörner. "Am Ende darf es nicht zu einer Bagatellstrafe kommen, sondern zu einem gerechten Urteil."

Bildunterschrift: Noch während der Tat dokumentiert: Das Foto soll einen der Angreifer von Fretterode zeigen.

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MiGAZIN, 07.09.2021:

"Es sei ein Skandal" / Prozess drei Jahre nach Neonazi-Überfall auf Journalisten in Thüringen

07.09.2021 - 05.23 Uhr

Drei Jahre nach dem brutalen Überfall auf Journalisten beginnt der Prozess gegen zwei Neonazis. Die Opferberatungsstelle ezra erhebt schwere Vorwürfe gegen die Strafverfolgungsbehörden: Verschleppung, Verharmlosung, Täter-Opfer-Umkehr.

Mehr als drei Jahre nach dem Überfall auf zwei Journalisten im nordthüringischen Fretterode beginnt am Dienstag vor dem Landgericht Mühlhausen der Prozess gegen die beiden mutmaßlichen rechtsextremen Angreifer. Es sei ein Skandal, dass der brutale Angriff, den die Betroffenen nur durch Glück überlebt hätten, nicht als versuchtes Tötungsdelikt eingeordnet werde, sagte Theresa Lauß von der Opferberatung ezra, am Montag in Erfurt. Die Anklage lautet auf schweren Raub.

Laut Lauß waren die Journalisten im April 2018 bei Recherchen im Wohnumfeld eines NPD-Funktionärs von den Tätern mit Schraubenschlüssel und Messer angegriffen und mit dem Auto verfolgt worden. Beide Opfer hätten erhebliche Verletzungen davongetragen. Die Neonazis hätten zudem die Fotoausrüstung geraubt und das Auto zerstört.

"Verschleppte Verfahren"

Die Einordnung der Tat als schweren Raub ist laut Lauß "hochgefährlich und verkennt auch die Dimension militanter, organisierter Neonazi-Strukturen, aus denen diese Tat begangen wurde". Das Netzwerk, in dem sich die Tatverdächtigen und seine Unterstützer bewegen, sei auf Grund des "inkonsequenten Handelns der Strafverfolgungsbehörden jahrelang ungestört" gewachsen.

Im Hinblick auf die "verschleppten Verfahren und die skandalösen Urteile" in Prozessen gegen militante Neonazis wie etwa im so genannten Ballstädt-Verfahren hätten sowohl die Betroffenen, deren Nebenklagevertreter als auch ezra keine allzu hohen Erwartungen an das Gericht. "Bereits im Verlauf des Verfahrens zeigte sich das inkonsequente Handeln der Strafverfolgungsbehörden - der Fall Fretterode steht wie viele andere rechte und rassistische Angriffe exemplarisch für das Justiz-Problem in Thüringen", sagte Lauß.

Täter-Opfer-Umkehr

Trotz eindeutiger Zeugenaussagen und Fotos der Täter, seien nach der Tat beispielsweise keine Haftbefehle ausgesprochen worden. Durch Aussagen der Staatsanwaltschaft sei in der Öffentlichkeit sogar die Glaubwürdigkeit der Betroffenen in Frage gestellt worden. "Auch in den letzten Tagen wurde Täter-Opfer-Umkehr deutlich", heißt es in einer Mitteilung von ezra.

Die nächsten Prozesstermine sind für den 9. und 13. September angesetzt. Insgesamt sind elf Prozesstagen angesetzt, das Ende vorerst für den 18. Oktober terminiert. Damit die Angeklagten und deren rechtes Umfeld nicht im beziehungsweise vor dem Gerichtssaal einen Angstraum schaffen können, ruft ezra zur kritischen Prozessbeobachtung und -begleitung auf. (epd/mig)

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Süddeutsche Zeitung Online, 07.09.2021:

Rechtsextremisten / Ein brutaler Überfall und seine Folgen

07.09.2021 - 04.59 Uhr

Zwei Journalisten werden mit Messer und Schraubenschlüssel attackiert. Die mutmaßlichen Täter stehen schnell fest: Es sind bekannte Neonazis. Trotzdem dauert es Jahre, bis nun endlich der Prozess beginnt.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Vor ein paar Tagen war es wieder so weit - Michael Müller brauchte eine Auszeit, also ging er mit Freunden wandern. Ein gemeinsames Picknick sollte ihm die Ruhe und Gelassenheit geben, die er allein gerade selten findet. Nachts kann er kaum schlafen. Müller, der in Wirklichkeit anders heißt, plagen Albträume, über deren Inhalt er nicht reden mag. Nur so viel sagt er: Sie werden schlimmer, je näher der Termin rückt, auf den er jahrelang gewartet hat, den er aber auch fürchtet. Weil dieser Termin die Erinnerungen an den Nachmittag des 29. April 2018 wachruft, als Neonazis in der thüringischen Provinz auf ihn losgingen - mit Schraubenschlüssel, Baseballschläger und einem Messer.

An diesem Dienstag beginnt am Landgericht Mühlhausen der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter. Nordulf H. und Gianluca B. sind unter anderem wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Das Gericht hat elf Verhandlungstage angesetzt. Als Nebenkläger muss Michael Müller nicht durchgehend dabei sein: "Aber ich werde jeden einzelnen Tag im Gerichtssaal sitzen." Er will wissen, wie die Strafkammer mit den Angeklagten umgeht, die Zeugen befragt. Ihm ist es wichtig, dass sich das Gericht Zeit nimmt, um alle Aspekte dieser brutalen Gewalttat auszuleuchten. Und Michael Müller interessiert, ob bekannte Rechtsextreme zur Unterstützung von Nordulf H. und Gianluca B. anreisen.

Rechtsextreme Netzwerke auszuforschen, das sei sein Beruf, sagt Müller. Wenn er davon erzählt, klingt es eher nach einer Berufung. Der 29-Jährige wohnt in Göttingen. Fast jede Woche reist er durch Deutschland zu rechtsextremen Aufmärschen. Müller macht Fotos, dokumentiert, welche Neonazi-Größen sich zusammentun. Seine Recherche-Ergebnisse veröffentlicht er unter Pseudonym bei Twitter, oder auf linken Blogs. Manchmal bitten auch Fernsehsender um seine Expertise. Denn Müller ist gut vernetzt, bekommt Hinweise auf konspirative Neonazi-Treffen, von denen nicht mal Polizei oder Verfassungsschutz etwas wissen. So war es auch im April 2018.

"Plötzlich sprang einer über die Mauer"

Einer seiner Informanten gab ihm den Tipp, dass in dem kleinen thüringischen Dorf Fretterode ein Vorbereitungstreffen für einen Neonazi-Aufmarsch stattfinden soll. In einem alten Gutshaus. Müller kennt das Gebäude gut. Noch besser weiß er über den Mann Bescheid, der darin wohnt. Thorsten Heise ist einer der einflussreichsten Neonazis Deutschlands. Szene-Kennern gilt er als zentrale Figur der in Deutschland mittlerweile verbotenen "Combat 18"-Bewegung, auch bei "Blood and Honour" war er aktiv. Es gibt Verbindungen zwischen ihm und dem Umfeld der Terror-Gruppe NSU. Auch den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan E., kennt Heise persönlich. Der frühere NPD-Politiker verdient gutes Geld an der Szene, die er mit aufgebaut hat. Über seinen Online-Shop verkauft er CDs rechtsextremer Bands, Schlagstöcke und Weinflaschenhalter aus Holz.

Als Müller von dem geplanten Treffen in Fretterode hörte, fuhr er hin. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hannes Rau, der ebenfalls anders heißt. Ihren schwarzen BMW parkten sie in der Nähe des Gutshauses. Aus dem Auto heraus fotografierte Müller die Männer, die dort ein und aus gingen. "Plötzlich sprang einer über die Mauer", erzählt Michael Müller. Er und Rau fuhren weg, entschieden sich dann aber, noch mal am Haus vorbeizufahren. Plötzlich rannte ein Mann auf ihr Auto zu. Über Mund und Nase hatte er sich ein schwarzes Tuch gezogen, in seiner Faust hielt er einen Schraubenschlüssel. Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen ist davon überzeugt, dass es sich bei dem Angreifer um Nordulf H. gehandelt haben muss, den Sohn von Thorsten Heise.

Beim Anblick des heranstürmenden H. legte Hannes Rau den Rückwärtsgang ein, gab Gas. Müller drückte immer wieder auf den Auslöser seiner Kamera. Er bekomme heute noch kurz Herzrasen, wenn er sich die Fotos von damals anschaue, sagt er.

Nordulf H. gab seinen Sprint schließlich auf, sprang in ein wartendes Auto. Am Steuer, so steht es in der Anklageschrift, saß Gianluca B. Die beiden Männer folgten dem schwarzen BMW, versuchten ihn von der Straße abzudrängen. Als Hannes Rau den Wagen wenden wollte, landete er im Straßengraben. Nordulf H. zertrümmerte die Fenster ihres Autos, mit einem Messer stach er immer wieder nach Michael Müller, erwischte ihn am Oberschenkel. Als Hannes Rau aus dem Auto stieg, schlug Gianluca B. ihm mit dem Schraubenschlüssel gegen den Kopf.

Obwohl die Polizei die mutmaßlichen Täter mit Hilfe von Fotos und Aussagen schnell identifizieren konnte, dauerte es Wochen bis zu deren Vorladung. Und als die Staatsanwaltschaft im Februar 2019 Anklage erhob, lautete der Vorwurf nicht auf versuchten Totschlag, wie es die Anwälte von Müller und Rau angesichts des brutalen Vorgehens der Täter eigentlich erwartet hätten.

Müller fährt weiter zu Neonazi-Aufmärschen

Dann verschob das Landgericht immer wieder den Prozessbeginn, erst wegen Corona, dann fehlte es an Personal in der zuständigen Strafkammer. Mittlerweile sind mehr als drei Jahre seit dem Überfall vergangen. "Viel zu viel Zeit", findet Michael Müller. Wenn er mit seiner Kamera bei Neonazi-Aufmärschen auftaucht, wird er häufig erkannt. Manche Rechtsextreme fragen ihn ganz unverhohlen, ob er wieder ein Messer im Oberschenkel haben wolle. Er erlebt eine Szene, die selbstbewusst ist, keine Angst vor Konsequenzen hat. Was vielleicht auch daran liegt, das die Justiz in der Vergangenheit immer wieder Verfahren gegen rechtsextreme Gewalttäter verschleppte, Urteile deswegen milder ausfielen.

Hannes Rau musste seine Arbeit als freier Journalist aufgeben. Seit dem Schlag gegen Kopf litt er immer wieder unter Kopfschmerzen. Als er deswegen ins Krankenhaus ging, zeigte das Röntgenbild einen Schädelbruch, der sich auch noch entzündet hatte. Rau musste operiert werden. Sein Anwalt hält es seitdem für möglich, dass das Gericht Nordulf H. und Gianluca B. doch noch wegen versuchten Totschlags verurteilen könnte.

Bildunterschrift: Tatort Fretterode im Eichsfeld, im Dreiländereck von Thüringen, Hessen und Niedersachsen: Mit einem schwerem Schraubenschlüssel in der Faust verfolgt ein maskierter Mann die beiden Journalisten. Es soll sich um einen der beiden angeklagten Neonazis handeln.

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Der Tagesspiegel Online, 07.09.2021:

"Hängt die Grünen" / Rechtsradikale Partei plakatiert Mordaufruf

07.09.2021 - 15.53 Uhr

Von Julius Geiler

Die Neonazi-Partei ruft auf einem Plakat zum Mord an der politischen Konkurrenz auf. In Bayern entfernt die Polizei die Parolen, in Sachsen zunächst nicht.

Mit einem Mordaufruf versucht die rechtsextreme Partei "Der III. Weg" derzeit Wähler und Wählerinnen in Sachsen und Bayern zu gewinnen. Erstmals treten die Neonazis mit einer Landesliste den beiden Ländern zur Bundestagswahl am 26. September an.

Die Partei, die sich 2013 unter maßgeblicher Beteiligung ehemaliger NPD-Funktionäre und rechtsextremer Aktivisten verbotener Neonazi-Kameradschaften gründete und in ihrer Programmatik einen so genannten "deutschen Sozialismus" in Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus verfolgt, wirbt dabei seit einigen Tagen mit einem menschenfeindlichen Wahlplakat für sich.

Nach Tagesspiegel-Informationen sind die Plakate mit dem konkreten Slogan "Hängt die Grünen!" und dem Aufruf "Wählt deutsch!" erstmals im Laufe des Sonntags im Großraum Zwickau aufgetaucht. Eine Sprecherin der Zwickauer Polizei sprach von vereinzelten Plakaten in den Städten Zwickau, Plauen, Auerbach und Werdau. Einer der Tötungsaufrufe hängt direkt vor dem Zwickauer Wahlkreisbüro der Grünen an einer Laterne. Laut einer Pressemitteilung, habe der grüne Kreisverband umgehend Anzeige erstattet.

Der örtliche Bundestagskandidat der Partei Wolfgang Wetzel nannte die Plakate "eine Attacke auf Demokratie und Anständigkeit". Ihr einziger Zweck sei es, engagierte Demokraten einzuschüchtern, die sich für ein weltoffenes Zwickau einsetzen, sagte Wetzel. Der Grünen-Kreissprecher Thomas Doyé ergänzte, dass man von den Behörden erwarte, dass die Plakate unverzüglich aus dem Zwickauer Stadtgebiet entfernt werden. Auch in Nordsachsen haben rechtsextreme Aktivisten der Partei nach eigenen Angaben das selbe Plakatmotiv in diversen Ortschaften in der Muldental-Region bis nach Bad Düben an Lichtmasten angebracht.

Eine Sprecherin der Zwickauer Staatsanwaltschaft sagte dem Tagesspiegel, dass die Motive im Freistaat zunächst weiter hängen bleiben dürfen. Die Behörde habe keine strafrechtliche Relevanz des Slogans feststellen können, da man nicht wisse, "wer konkret angesprochen wird". Es könnte sich sowohl um Politiker als auch um Wähler der Partei handeln, sagte die Sprecherin. Außerdem sei keine konkrete Bedrohungslage ausgemacht worden, argumentiert die Staatsanwaltschaft. Allerdings sei es denkbar, dass die Stadt Zwickau in den nächsten Tagen eine Verbotsverfügung für das Plakatmotiv erlässt, teilte die Behördensprecherin weiter mit. Dafür sei jetzt jedoch die Stadtverwaltung zuständig.

Anders wird der Mordaufruf in München gehandhabt. In der bayerischen Landeshauptstadt wurden der Polizei im Laufe des Montags mehrere Plakate des "III. Weges" mit derselben Botschaft gemeldet. Laut einem Twitter-User habe sich eines der Plakate vor der Grünen-Parteizentrale am Sendlinger Tor befunden. Die Münchner Polizei bestätigte dem Tagesspiegel gegenüber aufgefundene Motive, die mehrere Dienststellenbereiche betrafen, konnte jedoch vorerst keine konkrete Anzahl nennen.

Im Kontrast zur sächsischen Polizei entschlossen sich Münchner Beamte und Beamtinnen die Plakate eigenhändig zu entfernen. Im Nachhinein habe man sich die Bestätigung der Staatsanwaltschaft eingeholt, die durch den Slogan eine Störung des öffentlichen Friedens durch die Androhung von Straftaten (Paragraph 126, Strafgesetzbuch) feststellte, erklärte eine Sprecherin der Pressestelle.

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die tageszeitung Online, 07.09.2021:

Verfassungsschutz umwirbt Wissenschaft / "Höchst problematisch"

Mit einem neuen Zentrum will der Verfassungsschutz mit der Wissenschaft kooperieren. Dort aber warnen gut 200 For­sche­nde vor Vereinnahmung.

Konrad Litschko

Berlin (taz). Am Donnerstag in einer Woche wird es die Premiere geben. Dann will das Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF) das erste Mal mit einer "Wissenschaftskonferenz" in Berlin an den Start gehen, zum Thema "Extremismus und Sozialisation". Forscherinnen, Forscher aus 11 Hochschulen wollen dann diskutieren, ob gesellschaftliche Teilhabe Radikalisierung verhindert oder wo sich Islamisten und Incels ähneln.

Das Besondere: Mit auf dem Podium werden Vertreter des Verfassungsschutzes sitzen, inklusive Präsident Thomas Haldenwang. Überraschend ist das nicht - denn das ZAF ist ein neues Kind des Geheimdienstes. Das Zentrum soll nach eigener Auskunft eine "phänomenübergreifende, interdisziplinär arbeitende Forschungsstelle" sein und mit der Wissenschaft kooperieren. Das Ziel: die Analysekompetenz des Amtes zu stärken, etwa um Radikalisierungen zu verstehen. Das aber zieht bereits jetzt Kritik auf sich - aus Teilen der Wissenschaft.

In einem zu Wochenbeginn veröffentlichten "Einspruch" von mehr als 200 Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern heißt es, man stehe dem ZAF "sehr skeptisch gegenüber". Dass der Verfassungsschutz die Zusammenarbeit mit der externen Wissenschaft suche, sei "ein Problem". Zu den Unterzeichnern gehören renommierte Namen wie Wilhelm Heitmeyer, Oliver Decker oder Matthias Quent.

"Zulieferinnen, Zulieferer für behördlich vorgegebene Ziele"

Sie verweisen auf Wissenschaftsstandards wie das freie Forschen oder die öffentliche Verfügbarkeit erhobener Daten - was der Verfassungsschutz "qua Auftrag gar nicht einhalten" könne. Auch unterliege der Dienst Weisungen aus den Innenministerien: Erkenntnisse könnten zurückgehalten werden, Mittelvergaben erfolgten "auf Zuruf". Forscherinnen, Forscher liefen damit Gefahr, "Zulieferinnen, Zulieferer für behördlich vorgegebene Ziele" zu werden. Zudem sei absehbar, dass die "Entgrenzung" solcher Forschung bei einem Teil der Beforschten "erhebliches Misstrauen" hervorrufen werde.

Der Sozialpsychologe Oliver Decker von der Universität Leipzig, einer der Erstunterzeichner und Mitherausgeber der bekannten Autoritarismusstudien, unterstreicht diese Kritik. "Der Verfassungsschutz wagt sich immer weiter in Bereiche vor, für die er bisher aus guten Gründen nicht zuständig ist. Und dazu gehört sicherlich die Erforschung von Einstellungen." Offensichtlich suche der Geheimdienst Expertise, da er bei seinen Analysen überfordert sei, so Decker zur taz. Eine Vermischung mit der Wissenschaft sei aber "hoch problematisch", da zu den Erkenntnissen des Geheimdienstes keinerlei Transparenz herrsche. "Hier braucht es vielmehr eine klare Abgrenzung: Der Verfassungsschutz sollte sich auf die Terror-Abwehr beschränken, um den Rest kümmern sich Wissenschaft und Zivilgesellschaft."

Der Verfassungsschutz verspricht einen "Ethikkodex"

Beim Verfassungsschutz äußert man sich vor der Konferenz nicht öffentlich zu der Kritik. Auf eine Linken-Anfrage antwortete die Bundesregierung zuletzt aber, das ZAF wolle mit künftigen Forschungspartnern eine "vertragliche Vereinbarung" eingehen, wie mit den erhobenen Daten umgegangen wird. Spreche der Geheimschutz nicht dagegen, würden gemeinsame Forschungsergebnisse veröffentlicht. Auch sei ein "Ethikkodex" geplant. Das Zentrum wird von der Bundesregierung für 2021 mit 490.000 Euro aus Geldern für die Extremismus-Prävention bezuschusst.

Auch der Soziologe Matthias Quent hat damit Bauchschmerzen. "Verfassungsschutzbehörden berufen sich auf Geheimwissen, um ihre teils folgenschweren Einschätzungen zu begründen. Das ist mit wissenschaftlichen Standards nicht vereinbar." Auch eine Unabhängigkeit fehle ihnen. Gerade Sozialforschung sollte hier kritisch sein und sich nicht für die Rechtfertigung von nachrichtendienstlichen Aussagen vereinnahmen lassen, so Quent zur taz. Bei der wissenschaftlichen Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme drohe sonst eine "staatszentrierte Versicherheitlichung". Auch Quent plädiert stattdessen für eine unabhängige wissenschaftliche Struktur, "nicht im Auftrag des Verfassungsschutzes, sondern als dessen Korrektiv".

Für die Verfassungsschutz-Konferenz des ZAF am 16. September sagten dennoch mehrere Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler zu. Die Berliner Politikprofessorin Sabine Achour, Mitautorin der renommierten "Mitte-Studie", ist eine von ihnen. Auch sie indes kann den "Einspruch" ihrer Kolleginnen, Kollegen nachvollziehen: "Die Kritik im Aufruf ist wichtig und muss diskutiert werden." Sie selbst komme aus der politischen Bildung, die seit geraumer Zeit im Zeichen einer "Versicherheitlichung" stehe und als "Instrument der Extremismus-Prävention" eingesetzt werde, sagt Achour der taz. "Das passt nicht zu ihrem Selbstverständnis." Diese Kritik wolle sie auf dem Kongress einbringen, und dafür sei sie auch eingeladen. Eine längerfristige Zusammenarbeit mit dem ZAF sei dagegen schwierig vorstellbar, so Achour. "Dafür arbeiten politische Bildung und Verfassungsschutz viel zu unterschiedlich."

Bildunterschrift: Will jetzt auch die Wissenschaft für sein Amt einspannen: Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang.

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