10 Artikel ,
18.07.2021 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
Jüdische Allgemeine Online, 18.07.2021:
NS-Prozess gegen 96-Jährige - Landgericht Itzehoe vor großer Aufgabe
Neues Deutschland Online, 18.07.2021:
Esther Bejarano / Mit dem Blick liebevoll wachsamer Augen
Norddeutscher Rundfunk, 18.07.2021:
Hunderte Menschen nehmen Abschied von Esther Bejarano
Jüdische Allgemeine Online, 18.07.2021:
Hamburg / Abschied von Esther Bejarano
Süddeutsche Zeitung Online, 18.07.2021:
OEZ-Anschlag / Im Club der rassistischen Mörder
Mitteldeutscher Rundfunk, 18.07.2021:
Gewalt / Rassistischer Angriff in Bad Schlema
Blick nach Rechts, 18.07.2021:
Braune Katastrophenhilfe
Freie Presse Online, 18.07.2021:
Asylbewerber in Linienbus angegriffen
Spiegel Online, 18.07.2021:
Parteiinterner Streit / AfD-Chef Meuthen geht auf Distanz zu eigenen Kandidaten
Augsburger Allgemeine Online, 18.07.2021:
Rauer Ton im Bundestag: Die AfD und die neue deutsche Härte
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Jüdische Allgemeine Online, 18.07.2021:
NS-Prozess gegen 96-Jährige - Landgericht Itzehoe vor großer Aufgabe
18.07.2021 - 01.27 Uhr
Lässt sich 76 Jahre nach Kriegsende die Mitschuld einer KZ-Sekretärin an tausendfachen Morden beweisen?
Von Bernhard Sprengel
Gut ein Jahr nach der Verurteilung eines früheren Wachmannes im KZ Stutthof wird es voraussichtlich erneut einen Prozess um die Verbrechen in dem deutschen Konzentrationslager bei Danzig geben. Das Landgericht Itzehoe in Schleswig-Holstein ließ am Freitag eine Anklage gegen eine frühere Sekretärin des Lagerkommandanten zu, wie eine Sprecherin mitteilte.
Als Stenotypistin und Schreibkraft soll die heute 96-Jährige bei der systematischen Tötung von Inhaftierten Hilfe geleistet haben. Der Prozess wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen soll am 30. September vor einer Jugendkammer beginnen, weil die Angeklagte im Tatzeitraum zwischen Juni 1943 und April 1945 erst 18 bis 19 Jahre alt war.
Ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten war im Juni zu dem Ergebnis gekommen, dass die 96-Jährige verhandlungsfähig ist. Erst im vergangenen März hatte das Landgericht Wuppertal die Eröffnung eines Prozesses gegen einen mutmaßlichen ehemaligen SS-Wachmann in Stutthof abgelehnt. Der ebenfalls 96 Jahre alte Angeklagte sei laut ärztlichem Gutachten dauerhaft verhandlungsunfähig, teilte ein Gerichtssprecher mit. Dem Hochbetagten war Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vorgeworfen worden.
Ein Prozess gegen einen anderen ehemaligen Wachmann in Stutthof war vor einem Jahr in Hamburg zu Ende gegangen. Das Landgericht verurteilte den 93-jährigen Bruno D. zu zwei Jahren auf Bewährung. Das Gericht sprach ihn am 23. Juli 2020 wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen schuldig - mindestens so viele Gefangene wurden nach Überzeugung der Jugendkammer während der Dienstzeit des Angeklagten von August 1944 bis April 1945 in Stutthof ermordet. 30 wurden in einer geheimen Genickschussanlage im Krematorium des Lagers getötet. Mindestens 200 wurden in der Gaskammer und in einem verschlossenen Eisenbahnwaggon mit Zyklon B umgebracht. Wenigstens 5.000 Menschen starben in Folge der lebensfeindlichen Bedingungen im so genannten Judenlager von Stutthof.
Bruno D. war 1944 als nicht fronttauglicher Wehrmachtssoldat zur Bewachung der Gefangenen abkommandiert worden. Mit einem Gewehr stand der 17-Jährige auf einem Wachturm und sah die Gräuel im Lager. Das schilderte er dem Gericht. Er betonte, dass er sich für den Einsatz nicht freiwillig gemeldet hatte. "Sie haben diesem Sterben zugesehen damals und es bewacht", sagte die Vorsitzende Richterin Anne Meier-Göring bei der Urteilsverkündung. Der Angeklagte sei zwar ein Befehlsempfänger gewesen, aber er hätte in Stutthof nicht mitmachen dürfen. "Sie hätten versuchen müssen, sich zu entziehen, und Sie hätten sich entziehen können."
Da die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden war, verzichtete der Angeklagte auf eine Revision gegen das Urteil, wie sein Verteidiger Stefan Waterkamp erklärte. Ansonsten wäre sein Mandant wohl wie jeder andere der sehr betagten Angeklagten in NS-Prozessen in Revision gegangen, sei es auch nur, um Zeit zu gewinnen. "Eine Strafvollstreckung dürften diese nämlich kaum überleben."
Der Hamburger Prozess hatte sich über ein Dreivierteljahr hingezogen. Seit März 2020 musste unter Corona-Bedingungen verhandelt werden. Ehemalige Stutthof-Gefangene aus Polen, Israel und Frankreich berichteten von täglichen Misshandlungen, Hinrichtungen sowie von Hunger und einer Fleckfieber-Epidemie.
Für Aufsehen sorgte der Auftritt eines Zeugen aus den USA, der angab, dass seine jüdischstämmige Mutter ihn in Stutthof zur Welt gebracht habe. Der 76-Jährige erzählte seine Lebensgeschichte und umarmte schließlich in einer demonstrativen Versöhnungsgeste den Angeklagten - mit Zustimmung der Vorsitzenden Richterin.
Wochen später erschütterten jedoch Recherchen des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" die Glaubwürdigkeit des Zeugen. Daraufhin recherchierte auch das Gericht und fand heraus, "dass der Vortrag teilweise nicht richtig sein kann", wie Meier-Göring sagte. Nach Ansicht eines Jura-Professors, der eine Stutthof-Überlebende als Nebenklägerin vertrat, hätte man nach zehn Minuten Internetrecherche feststellen können, dass die Darstellungen des Zeugen keinen Sinn machten.
Das Landgericht Itzehoe steht nun ebenfalls vor großen Herausforderungen: Wenn die letzten Überlebenden des Lagers erneut als Zeugen gehört werden sollen, drängt die Zeit. Kaum jemand von ihnen kann noch reisen. Die Angeklagte wird für jeden Verhandlungstag aus ihrem Altenheim in den Verhandlungssaal gebracht werden müssen. Auch der Schuldnachweis dürfte nach Ansicht von Juristen bei einer früheren Zivilangestellten schwieriger sein als bei einem Wachmann, der der SS angehörte.
Nach Angaben der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg sind derzeit neben einer weiteren Anklage gegen einen 100-Jährigen in Neuruppin noch zehn Ermittlungsverfahren bei deutschen Staatsanwaltschaften anhängig, darunter in Erfurt, Weiden, Celle und Hamburg. Gegen sechs weitere Personen, von denen die meisten in Kriegsgefangenenlagern eingesetzt waren, laufen Vorermittlungen.
Bildunterschrift: Nichts gewusst? Von der Kommandantur im KZ Stutthof aus überblickte die Angeklagte das gesamte Lager.
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Neues Deutschland Online, 18.07.2021:
Esther Bejarano / Mit dem Blick liebevoll wachsamer Augen
18.07.2021 - 21.30 Uhr
Tausende nahmen in Hamburg bei einer ergreifenden Trauerfeier Abschied von der Antifaschistin Esther Bejarano
Von Susann Witt-Stahl
Es war ein großer Ansturm trauernder Genossen und Mitstreiter, vor allem Antifaschisten, erwartet worden - und er kam. Zwischen 2.000 und 3.000 Menschen versammelten sich auf und vor dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf im Norden der Hansestadt Hamburg, um Esther Bejarano das letzte Geleit zu geben. Die Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in Deutschland war am 10. Juli im Alter von 96 Jahren gestorben.
In der vergangenen Woche hatte es bundesweit unzählige Gedenkveranstaltungen der Partei Die Linke, der DKP, des VVN-BdA und anderen linken Parteien und Organisationen gegeben. In Hamburg und anderen Großstädten waren Plakate mit Parolen, wie "Dein Kampf geht weiter" an Häuserwänden zu sehen.
Auf dem Friedhof verabschiedeten sich Musiker von der Sängerin und dem ehemaligen Kopf der Gruppen Coincidence und Microphone Mafia mit "El pueblo unido", der Hymne des proletarischen Internationalismus. Auf den Trauerbändern vieler Kränze war die Losung "Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg!" zu lesen, die für Esther Bejarano seit ihrer Befreiung am 3. Mai 1945 zum unteilbaren kategorischen Imperativ ihres Lebens geworden war.
Zur Zeremonie in der Trauerhalle, deren religiöser Teil von einem Rabbiner der Jüdischen Gemeinde geleitet wurde, fanden sich neben Familienangehörigen wie Bejaranos Sohn Joram - er sprach auch das Kaddisch, das jüdische Gebet zum Totengedenken - und Freunden, darunter die Journalistin Peggy Parnass, auch Politiker ein. Staatssekretärin Sawsan Chebli war aus Berlin angereist. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) würdigte Bejarano in einer rund dreiminütigen Rede als "außergewöhnliche Bürgerin", die sich für Demokratie und Gleichberechtigung verdient gemacht habe.
Hauptredner war, wie von Esther Bejarano ausdrücklich gewünscht, Rolf Becker, einer ihrer engsten politischen Vertrauten und Weggefährten. "Ich wollte immer einen beschützenden Bruder haben, und so habe ich mir Dich ausgesucht", hatte Bejarano ihm vor einigen Jahren in einem Brief geschrieben, aus dem der Schauspieler zitierte.
In seiner rund halbstündigen Ansprache, während der er immer wieder mit den Tränen kämpfen musste, rekapitulierte Becker drei Jahrzehnte gemeinsamer Initiativen und Interventionen, die stets auch als Warnungen davor verstanden werden sollten, "dass sich bei zunehmendem gesellschaftlichem Druck erneut Unsagbares ereignen kann, auch ohne dass Rauch aus Verbrennungsöfen aufsteigt". Gemäß Bejaranos Lebensmotto "Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen" erzählte er von ihren Protesten gegen die unmenschliche Asyl- und Abschiebepolitik - auch des Hamburger Senats. Ebenso erinnerte er daran, dass Bejarano sich immer wieder darüber entsetzt geäußert hatte, dass in der Bundesrepublik "alles nahtlos" weitergegangen sei, Antikommunismus und die Kriminalisierung von Antifaschisten zur Staatsräson geronnen waren. Auch ihr Engagement für die Beendigung der aggressiven Blockadepolitik gegen Kuba (noch vor vier Jahren hatte sie eine Solidaritätsreise in das sozialistische Land unternommen) versäumte er nicht zu erwähnen.
"Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht" - dieser letzte Auftrag, den Bejarano allen fortschrittlichen Kräften mit auf den Weg gegeben hat, habe für sie auch immer gegolten, wenn es darum gegangen sei, die Stimme gegen die Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser zu erheben, so Beckers deutliche Botschaft an rechte Politiker und Akteure aus dem Milieu der so genannten Antideutschen, die jüdische Linke, die israelische Regierungen kritisieren, pauschal als "Antisemiten" verunglimpfen - eine Verleumdungspraxis, der Esther Bejarano und noch mehr ihr Freund Moshe Zuckermann ausgesetzt waren. Der Historiker, mit dem Bejarano und Becker mehrere Veranstaltungen - darunter das Projekt ""Losgelöst von allen Wurzeln" - Eine Wanderung zwischen den jüdischen Welten" - bestritten hatte, konnte Pandemie-bedingt nicht aus Tel Aviv einfliegen.
"Ich habe Esther geliebt", so eine der bewegenden Zeilen, die Zuckermann von Rolf Becker verlesen ließ. Bejarano sei "die Verkörperung der Möglichkeit, persönliches Lebensleid" in eine emanzipative Emphase zu übersetzen. Konkret habe das bedeutet, entschieden gegen die bis heute real existierenden bedrohlichen "Bedingungen und Voraussetzungen" einer neuen Menschheitskatastrophe, Militarismus, Imperialismus, Faschismus, einzutreten - ein Engagement, das untrennbar "mit dem Kampf für eine andere Gesellschaftsordnung" verbunden sei, führte Zuckermann im Gespräch mit "nd" aus. Und er warnte eindringlich davor, dass nach dem Tod der letzten Zeitzeugen der Nazi-Barbarei, die wie Bejarano mit dem unausrottbaren Glauben an die Menschheit für eine bessere Welt gestritten haben, linke Stimmen im Zuge der gegenwärtigen Rechtsentwicklung noch mehr "zum Verstummen kommen" könnten. Gleiches tat Rolf Becker, indem er an Herzensintelligenz und Widerstandsgeist in dem eindringlichen "Blick der liebevoll wachsamen Augen" von Esther Bejarano erinnerte, die sie nun für immer geschlossen hat.
Bildunterschrift: Trauerfeier für die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf.
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Norddeutscher Rundfunk, 18.07.2021:
Hunderte Menschen nehmen Abschied von Esther Bejarano
18.07.2021 - 20.12 Uhr
Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano ist am Sonntag in Hamburg auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf beigesetzt worden. Politik, Familie, Freundinnen und Freunde nahmen Abschied.
Blumenkränze zierten den kleinen Andachtsraum in der Kapelle, in der nur 30 Gäste Platz fanden. Deshalb wurde die Trauerfeier auf Video-Leinwänden nach draußen übertragen. Hunderte waren auf den Jüdischen Friedhof gekommen, um Abschied zu nehmen. Ehrengäste waren unter anderem Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit und der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher (beide SPD). "Mit ihrem außergewöhnlichen Engagement hat Esther Bejarano über viele Jahrzehnte wichtige Impulse gegeben für Demokratie, Erinnerungskultur und Gleichberechtigung in Deutschland", sagte Tschentscher bei der Zeremonie. "Wir werden ihr Andenken würdigen und uns dafür einsetzen, ihre Botschaft weiterzutragen." Veit betonte anlässlich der Trauerfeier: !Als Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück hat sie wichtigste Aufklärungsarbeit an Schulen und Universitäten geleistet."
Auch der Schauspieler Rolf Becker würdigte die Verstorbene: "Ich habe Esther geliebt, war zutiefst berührt von ihrer unerschütterlichen Lebensbejahung, bewunderte die schöpferische Leidenschaft ihrer lebensbejahenden Energie", sagte er unter Tränen. Journalistin Peggy Parnass erinnerte an das große Leid, das ihre Freundin Esther Bejarano im Konzentrationslager Auschwitz erlebt hatte.
"Ihr kämpferisches Herz wird fehlen"
Ihr Lachen, ihr Mut, ihre Entschlossenheit, ihr kämpferisches Herz, all das werde fehlen, sagte ihr Sohn Yoram in seiner Trauerrede. Aus ganz Deutschland haben sich auch Menschen in ein digitales Gedenkbuch eingetragen, das das Auschwitz-Komitee für Esther Bejarano erstellt hat. Es zeigt, wie stark die Musikerin und politische Aktivistin durch ihre Vorträge und ihre politische Arbeit in ganz Deutschland Menschen beeindruckt und beeinflusst hat.
Die Musikerin und Aktivistin war am 10. Juli nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat Hamburg gestorben. Bejarano war Anfang 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden. Dort überlebte sie, weil sie im Mädchenorchester des Lagers Akkordeon spielte. Sie engagierte sich jahrzehntelang gegen Rechtsextremismus und Rassismus. Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen.
Bildunterschrift: Kränze, die bei der Trauerfeier für Esther Bejarano abgelegt wurden.
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Jüdische Allgemeine Online, 18.07.2021:
Hamburg / Abschied von Esther Bejarano
18.07.2021 - 19.10 Uhr
Die Zeitzeugin und Aktivistin wurde auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf beerdigt
Von Stephanie Lettgen
Mit einer bewegenden Trauerfeier haben sich Familie, Freunde und Politiker heute in Hamburg von der KZ-Überlebenden Esther Bejarano verabschiedet. Die Musikerin und Aktivistin war am 10. Juli nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat Hamburg gestorben.
Die Kapelle auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf durften wegen der Corona-Pandemie nur wenige Gäste. Zu den Gästen gehörten unter anderem die Publizistin Peggy Parnass, der Schauspieler Rolf Becker, Hamburgs Antisemitismus-Beauftragter Stefan Hensel, Hamburgs Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit, Bürgermeister Peter Tschentscher. Hunderte verfolgten draußen eine Übertragung.
Ein großes Foto erinnerte an die mutige Frau, die sich gegen Juden-Hass, Rechtsextremismus und Rassismus engagierte. In der Kapelle stand der Sarg, umgeben von brennenden Kerzen und zahlreichen Kränzen.
"Mit ihrem außergewöhnlichen Engagement hat Esther Bejarano über viele Jahrzehnte wichtige Impulse gegeben für Demokratie, Erinnerungskultur und Gleichberechtigung in Deutschland", sagte Tschentscher bei der Zeremonie. "Wir werden ihr Andenken würdigen und uns dafür einsetzen, ihre Botschaft weiterzutragen." Veit betonte anlässlich der Trauerfeier: "Als Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück hat sie wichtigste Aufklärungsarbeit an Schulen und Universitäten geleistet."
Unter Tränen erinnerte Schauspieler Rolf Becker an seine Freundin Bejarano. "Nicht zurückzuweichen - Esther hat es vorgelebt", sagte der 86-Jährige. Bejarano hatte in ihrem Leben zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Zusammen mit ihrem Sohn Yoram und ihrer Tochter Edna sang sie jüdische und antifaschistische Lieder, zuletzt tourten sie mit der Kölner Hip-Hop-Band Microphone Mafia durch Deutschland. Im Mai dieses Jahres hatte sie noch mit einer Lesung an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten in Hamburg erinnert.
Bejarano war unter anderem Vorsitzende des Auschwitz-Komitees und Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. "Dein Kampf geht weiter", stand auf einem Kranz der Antifaschistischen Jugend.
Geboren wurde Bejarano am 15. Dezember 1924 in Saarlouis als Tochter eines jüdischen Oberkantors. 2014 wurde sie zur Ehrenbürgerin der Stadt gewählt. Ihre Eltern wurden 1941 von den Nazis in Litauen umgebracht. Bejarano wurde Anfang 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert.
Als für das Mädchenorchester des Lagers eine Akkordeonspielerin gesucht wurde, meldete sie sich - ohne jemals ein solches Instrument in der Hand gehabt zu haben. Es gelang ihr trotzdem zu spielen. Das rettete ihr das Leben, wie sie in ihrem 2013 veröffentlichten Buch "Erinnerungen" (Laika Verlag) berichtete.
In einem langen Trauerzug gingen die Gäste hinter dem Sarg zum Grab. Dort wurde Bejarano neben ihrem bereits 1999 gestorbenen Ehemann Nissim beigesetzt. Ihr Sohn Yoram sprach Kaddisch. Bejarano hinterlässt zwei Kinder, zwei Enkelkinder und vier Urenkelkinder. (mit ja)
Bildunterschrift: Yoram Bejarano (r.) und Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky am Grab von Esther Bejarano.
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Süddeutsche Zeitung Online, 18.07.2021:
OEZ-Anschlag / Im Club der rassistischen Mörder
18.07.2021 - 19.01 Uhr
In dieser Woche jährt sich das Attentat am Olympia-Einkaufszentrum zum fünften Mal. Die Tat, bei der neun Menschen erschossen wurden, galt lange als unpolitischer Amoklauf. Inzwischen ist klar: Das war es nicht. Weltweit hat sich im Internet ein neuer Tätertyp radikalisiert, rechte Terroristen werden in der Szene gefeiert - und nachgeahmt
Von Martin Bernstein
Am kommenden Donnerstag jährt sich der rassistische Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) zum fünften Mal. Am Abend des 22. Juli 2016 ermordete der 18-jährige Münchner David S. neun zumeist junge Menschen, einige von ihnen noch Kinder, die er für muslimische Migranten vom Balkan oder aus der Türkei hielt. Obwohl schon kurz nach der Tat die rechtsextremistische Gesinnung des Massenmörders bekannt war, wurde die Tat noch jahrelang offiziell als unpolitischer Amoklauf eingestuft. Erst im Oktober 2019 bewerteten Staatsregierung und Bayerisches Landeskriminalamt den Anschlag als politisch rechts motiviert. Drei von der Stadt München beauftragte unabhängige Gutachten, eine Entscheidung des Bundesamts für Justiz, das Urteil gegen den Waffenlieferanten des Münchner Attentäters und nicht zuletzt ein jahrelanger verzweifelter Kampf der Hinterbliebenen und ihrer Anwälte waren dieser Neubewertung voraus gegangen. Vor allem aber war es die schreckliche Erkenntnis: München war kein Einzelfall. In Ecken des Internets, die oft gar nicht versteckt sind, hat sich ein neuer rechtsterroristischer Tätertyp herausgebildet. "Einsame Wölfe" nennt der Politikwissenschaftler und Extremismus-Forscher Florian Hartleb diese Täter, deren Blutspur von der norwegischen Insel Utøya (22. Juli 2011) über München (22. Juli 2016) bis Christchurch (15. März 2019), Halle (9. Oktober 2019) und Hanau (19. Februar 2020) reicht. In den vergangenen Jahren sind weit über hundert Menschen weltweit bei derartigen Anschlägen ermordet worden. Die einzeln auftretenden Täter verbindet ihr Hass auf Frauen, auf Juden, auf Muslime ebenso wie ihre Verherrlichung des Nationalsozialismus und von exzessiver Gewalt. Radikalisiert haben sie sich wie David S. im Internet.
Das Rudel
"Niemand kann sich alleine radikalisieren", hat jüngst die Münchner Forscherin Britta Schellenberg über die Vorgeschichte des Münchner Attentats gesagt. Den Begriff "Lone Wolf" findet sie problematisch. Doch auch "einsame Wölfe sind selbstverständlich Teil eines größeren ideologischen Rudels", schreibt der Extremismus-Forscher Hartleb im Vorwort zur zweiten Auflage seines gleichnamigen Buchs. Dank Hartleb kennt man das Rudel des Münchner Attentäters inzwischen ziemlich genau. Ein US-amerikanischer Hitler-Verehrer, der im Dezember 2017 bei einem rassistischen Attentat an der Aztec Highschool in New Mexico zwei Schüler mit Migrationshintergrund erschießt, und ein damals 15-Jähriger aus Gerlingen im Kreis Ludwigsburg, in dessen Schubladen Ermittler nach einem Tipp aus der Gamer-Szene die fertigen Pläne für ein Massaker an einer Schule finden, gehören dazu. Der amerikanische Rechtsextremist William A. hat den Schüler aus Baden-Württemberg mit David S. zusammengebracht. Die drei sind der Kern des Rudels, das sich auf der Spieleplattform "Steam" in einer virtuellen Gruppe trifft, die sich "Anti-Refugee Club" nennt und mehrere hundert Mitglieder hat. A. gestaltet eine Fanseite für den Münchner Attentäter, die heute noch problemlos im Netz zu finden ist. Der Jugendliche aus Gerlingen, der sich später von der Szene distanziert, war eng vertraut mit dem Münchner Attentäter. Wie eng, ist bis heute offen: War er auch derjenige, der S. am Grab des Amokläufers von Winnenden fotografierte? Und warum wählte der als Ali geborene Münchner S., als er seinen verhassten Vornamen änderte, den Namen "David" - ausgerechnet den seines engsten Freundes? Um die drei herum weitere potenzielle Attentäter mit mehr oder weniger ausgereiften Plänen: ein bis heute nicht identifizierter Account namens "Cannibalwolf"; ein weiterer Jugendlicher aus Baden-Württemberg; vielleicht auch, wie ein Extremismus-Experte vermutete, ein junger Mann, der bei einer Geiselnahme in Viernheim von der Polizei erschossen wurde - nur vier Wochen vor dem Anschlag in München. Dazu der zu mehr als sieben Jahren Haft verurteilte Waffenlieferant des Münchner Attentäters, ein Rassist, Nazi-Verehrer und "Bruder im Geiste", wie es im Münchner Prozess gegen ihn mehrfach hieß. Drumherum das Netz der Bewunderer, der Anheizer, der möglichen Nachahmer, die die Münchner Morde bejubelten, rechtfertigten, die versprachen, dem Täter ein ehrendes Andenken zu bewahren. "He did it. Neo Ger fucking did it", zeigte sich ein User, der sich "Ivan Der Judenjäger" nannte, begeistert vom Münchner Anschlag. Ivan ist im Netz noch immer zu finden - ein katalonischer Separatist, der den tödlichen Juden-Hass palästinensischer Terroristen feiert. Mit Gesichtsmaske und Gewehr im Anschlag kündigt Ivan im Mai 2021 auf Facebook an, er werde jetzt in den "White Boy Summer"-Modus übergehen. Was ist hohle Phrase, szenetypisches Posing - und was Tatankündigung? Von einem "Unterstützer-Milieu von Sympathisanten" spricht der Experte Roland Sieber.
Anführer und Anstifter
S. wählte den 22. Juli als Tag seines Anschlags nicht zufällig. Fünf Jahre zur hatte der Rechtsextremist und Islam-Hasser Anders B. in Oslo und auf der norwegischen Insel Utøya 77 zumeist junge Menschen ermordet. S. eiferte seinem "Vorbild" mit detailversessener Akribie nach. Zeitweise zeigten seine Profilbilder auf Facebook und WhatsApp das Konterfei des norwegischen Massenmörders. Das Tempelritter-Motiv aus dem Bekenner-Video des norwegischen Rechtsterroristen erschien im Gruppenbild des "Anti-Refugee Clubs". Dort wurden auch andere Attentäter und Amokläufer verehrt: die mutmaßlich rechtsextremen Mörder von der Columbine Highschool, die Täter weiterer Schulmassaker, Amokläufer wie Tim K. aus Winnenden, aber auch Rassisten wie Dylann R., der am 17. Juni 2015 neun Afroamerikaner während einer Bibelstunde in einer Kirche in Charleston ermordete - mit einer Waffe des Herstellers Glock. Eine Pistole des gleichen Typs hatte der Norweger B. bei seinen Morden benutzt. S. wollte auch da seinem Vorbild nacheifern. Als "maurächer" suchte er ein Jahr lang im Darknet nach einer Glock 17. Bei dem Händler aus Marburg wurde er schließlich fündig. Auch S.` Freund A. sowie die Attentäter von Hanau und Pittsburgh mordeten mit einer Glock. Als "Manifeste" bezeichnete Rechtfertigungsschriften und Selbstinterviews hinterließen nicht nur B. und S., sondern zahlreiche rechtsterroristische Einzeltäter in den vergangenen fünf Jahren, unter ihnen die Mörder aus Christchurch und aus Halle. Stephan B., der in Halle am Jom-Kippur-Feiertag 2019 eine Synagoge stürmen wollte und zwei Menschen ermordete, nannte nicht nur den Christchurch-Attentäter als Vorbild, sondern gab im Prozess auch zu, aus dem Münchner Attentat seine Lehren gezogen zu haben. Der Hanauer Attentäter Tobias R., der nach Einschätzung mancher Experten nicht ganz in das Schema des neuen terroristischen Tätertyps zu passen scheint, lebte zum Zeitpunkt des OEZ-Anschlags selbst in München. Die Parallelen sind so auffällig, dass sich auch das Bundeskriminalamt dafür interessierte: Wie S. trainierte R. das Schießen (sogar bei einem Münchner Schützenverein), wie S. wollte er seine Tat zunächst in einem Jugendzentrum verüben, wie S. suchte er Tatorte, an denen er viele Menschen mit Migrationshintergrund vermutete. Welche Auswirkungen ein massenmörderischer Anschlag wie im neuseeländischen Christchurch auf die Szene der Nachahmer haben kann, zeigte sich in den folgenden Monaten: 77 rechtsextreme Morde, verübt vor allem an Muslimen und Juden, begingen rassistische Einzeltäter weltweit zwischen März und Oktober 2019.
Gamifizierung des Terrors
Für "the only moral people in this situation" hielten sich die Mitglieder des "Anti-Refugee Clubs", in dem Rechtsextremisten, Nazi-Bewunderer, Frauen-Feinde und Fans von Amokläufen 2016 zusammenfanden. Sie meinten das angebliche Chaos, in dem Europa durch Flüchtlinge versinke. Wie sehr S. und andere europäische Mitglieder den Ton in dieser Gruppe angaben, zeigt die Verwendung des Begriffs "Refugees". 770 angeblich "moralische Menschen" waren es am Ende, als Steam-Betreiber Valve die Gruppe im September 2017 abschaltete. Steam ist eine Internet-Vertriebsplattform für Computerspiele. Sie verzeichnete laut Valve 2019 über eine Milliarde aktive Benutzerkonten, bis zu 50 Millionen Menschen sind Tag für Tag auf der Plattform. Steam ist nahezu in jedem Jugendzimmer. Auch in dem von S. war das so. Mehr als 4.000 Stunden soll der Münchner nach Angaben des Experten Hartleb allein das Killer-Spiel "Counter-Strike" gespielt haben - zusammengerechnet ist das fast ein halbes Lebensjahr. Auch die Attentäter von Oslo, Christchurch, Halle und Aztec waren exzessiv in der Welt der Online-Spiele unterwegs. Stephan B. inszenierte seinen Anschlag auf die Synagoge im Live-Stream wie ein Computerspiel. Bereits bei S. verschwammen die Welt von Killer-Spielen wie "Grand Theft Auto" und die Realität, etwa als er nach seinen neun Morden zahlreiche Schüsse auf leere Autos im OEZ-Parkhaus abfeuerte. Erneut ging der Attentäter von Halle einen Schritt weiter auf diesem Weg. Vor seiner Tat listete er 26 "Achievements" wie in einem Computerspiel auf - Aufgaben für den perfekten Terror. Gaming-Plattformen seien für Rechtsextremisten besonders interessant, weil es dort üblich sei, unter Pseudonym aufzutreten, und weil man sich in verdeckten Gruppen zusammenschließen könne, bilanzierte das bayerische Innenministerium bereits vor der Tat von Halle. Für noch entscheidender halten Experten aber den in der Szene allgegenwärtigen schwarzen "Humor", der zwischen Ironie und Menschenverachtung changiert. Die in der Gamer-Szene weit verbreitete Haltung, alles sei nicht so gemeint - eine Schutzbehauptung? Experten wie die Autorin Karolin Schwarz ("Hasskrieger") beschreiben den Weg der Radikalisierung so: Zunächst wird menschenverachtender Zynismus normal, dann entdeckt man viele vermeintlich und tatsächlich Gleichgesinnte, schließlich werden ganze Bevölkerungsgruppen - wie von S. - als zu vernichtende "Untermenschen" ausgegrenzt. "In dieser Szene ist das Ziel, einen möglichst hohen "Highscore" an Todesopfern zu erzielen", so Fachmann Roland Sieber. Entsprechende Listen sind im Netz zu finden. In fast allen Gruppen, denen David S. angehörte, wurde er in den Tagen nach den neun Münchner Morden zum "Gruppenspieler der Woche" gekürt. "Die Umgebung feiert mit", schreiben Jean-Philipp Baeck und Andreas Speit in ihrem Buch über "Rechte Egoshooter". Diese Umgebung bestehe eben nicht mehr nur aus dem näheren lokalen und gesellschaftlichen Umfeld, "sondern ist online international vernetzt".
Unpolitischer Hass?
"Was als Plattform für junge Männer begann, die sich in Fantasiewelten zurückzogen, weil ihr Leben nicht so abläuft wie gewünscht, politisierte sich immer mehr", bilanziert der Sozialwissenschaftler und Journalist Sebastian Erb zum Netz des Attentäters von Halle. "Es handelt sich um einen virtuellen Ort, an dem sich junge Männer radikalisieren können, ohne jemals einen Neonazi getroffen zu haben, wo junge Männer zu Rechtsterroristen werden, ohne dass es jemandem in der Offline-Welt auffällt." Und in der Online-Welt auch nur wenigen, möchte man hinzufügen. Nur deshalb konnten die Verbindungen des Münchner Attentäters im "Anti-Refugee Club" und anderen Steam-Gruppen so lange unentdeckt bleiben. Nur deshalb konnte der Münchner Anschlag so lange als angeblich unpolitischer Amoklauf gelten. Nur deshalb führt die Suche nach Kontakten in die etablierte rechte Szene so oft ins Leere. Doch auch sie gibt es. Der Attentäter von Christchurch unterstützte die "Identitäre Bewegung", der Norweger Anders B. war Mitglied einer rechtspopulistischen Partei. Und David S.? Der junge Münchner iranischer Herkunft war stolz darauf, am gleichen Tag Geburtstag zu haben wie Adolf Hitler. Durch seinen Anschlag werde die AfD "gepusht", hoffte David S. Wenn erst einmal die AfD in Deutschland an der Macht sei, werde man S. ein Denkmal errichten, schrieb einer seiner Bewunderer aus dem "Anti-Refugee Club" nur 48 Stunden nach den Münchner Morden. Im Jahr darauf griff er selbst zu einer Pistole der Marke Glock.
Bildunterschrift: München, Ende Juli 2016: Nach den rassistisch motivierten Morden legen Menschen vor dem Eingang zum Olympia-Einkaufszentrum an der Hanauer Straße Blumen und Kerzen ab und gedenken der Opfer.
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Mitteldeutscher Rundfunk, 18.07.2021:
Gewalt / Rassistischer Angriff in Bad Schlema
18.07.2021 - 15.30 Uhr
Von MDR Sachsen
Bei einem rassistischen Angriff in Aue-Bad Schlema ist am Sonnabend ein junger Mann verletzt worden. Wie die Polizei mitteilte, sollen acht Männer den 20 Jahre alten Somalier in einem Linienbus zunächst rassistisch beleidigt haben. Mindestens zwei der Männer haben ihn den Angaben zufolge dann zu Boden gestoßen und auf ihn eingetreten. Der Busfahrer rief daraufhin die Polizei, die die Männer noch im Bus stellen konnte. Die Beamten ermitteln nun wegen gefährlicher Körperverletzung. Zudem sei der Staatsschutz eingeschaltet worden.
Bildunterschrift: Acht Männer sollen einen Somalier in Aue-Bad Schlema angegriffen haben.
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Blick nach Rechts, 18.07.2021:
Braune Katastrophenhilfe
Von Horst Freires, Michael Klarmann
Auch die rechte Szene fühlt sich berufen, sich im Rahmen bundesweiter Hilfsaktionen nach der Hochwasserkatastrophe in West- und Südwestdeutschland ins Kümmerer- und Retter-Bild zu rücken, die es versteht, in Notsituationen anzupacken. Verschiedene entsprechende Aufrufe kursieren im virtuellen Netz. Zugleich wird der Klimawandel weiter als Mär gesehen.
Spätestens durch einen Politiker-Duktus, dass Solidarität und nun anstehende Hilfsmaßnahmen eine nationale Aufgabe beziehungsweise nationale Kraftanstrengung darstellen, wird Aktionismus aus der neonazistischen Ecke zu einem Pflichtprogramm von NPD etc. Damit wird angeknüpft an vorhergehende braune Hilfsaktionen bei anderen dramatischen Hochwasserlagen, etwa 2002 und 2013 in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Kurz vor der Bundestagswahl kann diesmal jegliche heroische Inszenierung natürlich als politisches Kalkül gewertet werden.
Sächsische NPD will ins Krisengebiet
Die NPD appelliert jetzt an ihre Anhänger: "Handfeste Hilfe statt durchsichtige Klima-Propaganda!" Der Deutsche Stimme-Verlag der Partei kündigt in diesem Zusammenhang zusammen mit der in Riesa beheimateten Initiative "Soziale Aktion Sachsen" eine Hilfskampagne an. Für den 24. und 25. Juli versprechen Aktivisten der Partei ihr Erscheinen im Katastrophengebiet. Als Ansprechperson wird Stefan Trautmann aus Döbeln genannt, der dort bei der Kommunalwahl 2019 sein Stadtratsmandat verlor, vor Ort aber weiterhin als Strippenzieher für NPD und Junge Nationalisten gilt. Selbstredend wurde ein spezielles Spendenkonto eingerichtet. Mit im Kampagnen-Boot ist der NPD-Ableger "Jugend packt an", der sein Engagement mit der Begründung "Wir helfen, wo der Staat versagt" erläutert. NPD-Chef Frank Franz fühlt sich laut eigenem Facebook-Kommentar genervt darüber, "dass jetzt nur noch über Klimawandel gelabert wird". Und er fügt hinzu: "Wahrscheinlich wegen der Corona-Pause."
Die Splitterpartei Die Rechte offeriert ihr Konto für Spenden, erinnert sich jovial an die Parole "Hoch die nationale Solidarität" und prangert angeblich linken Populismus an. Linke Gruppierungen würden demnach versuchen, auf "eine ekelhafte Art und Weise die Stimmung für ihre Klimapolitik zu nutzen". Zudem bemüht Die Rechte ihren Blick auf die Geschichte, indem sie darauf hinweist, dass das Gebiet an der Ahr bereits 1804 und 1910 von schweren Hochwassern betroffen gewesen sei - "und das ganz ohne den angeblichen Klimawandel". Parteien-Konkurrent Der III. Weg mit seinem Bürgerbüro in Siegen ruft ebenfalls zu Spenden für Hochwasseropfer auf.
Freie Sachsen: "Staatliche Institutionen versagen"
In der Liste der "Kümmerer" fehlen auch nicht die rechtsextremen Freien Sachsen um Martin Kohlmann aus Chemnitz. Per Ferndiagnose ist man so vermessen zu behaupten: "Die staatlichen Institutionen versagen einmal mehr." Dazu kündigt man Transporte mit Hilfsgütern an, wobei man dafür einen Sammelaufruf gestartet hat.
Der rechtspopulistisch ausgerichtete Aufbruch Leverkusen, eine Folgevereinigung aus pro NRW-Zusammenhängen, wettert als Reaktion auf die Unwetter-Katastrophe gegen Fridays for Future und deren Ankündigung von öffentlichen Klimastreiks mit der abfälligen Parole "Streiken statt Anpacken". Unterdessen ätzt die bei der AfD auf der Ausschlussliste stehende, aber noch nicht rechtskräftig ausgeschlossene ultrarechte Doris von Sayn-Wittgenstein hämisch: "So Ihr lieben Grünen! Wie soll eine solche Katastrophe mit Fahrzeugen ohne Benzin und Diesel bewältigt werden, wenn es keinen Strom mehr gibt?"
Rechtsrock- und Hooligan-Szene startet eigene Projekte
Auch die Rechtsrock- und Hooligan-Szene will in Sachen Benefiz nicht zusehen. Das Chemnitzer Label PC Records ruft dazu auf, Spenden im Laden abzugeben. Auch das relativ neue Rechtsrock-Magazin "Rock Hate" will Sachspenden zusammengetragen haben. Die Band "Gassenraudi" will exklusive Sampler-CDs in Holzboxen versteigern und "die Hälfte der Einnahmen" an "Flutopfer" weitergeben. "Vom Volk - für das Volk!" sammelt auch das "identitäre" Rap-Projekt "Neuer Deutscher Standard" (NDS) Spenden und kündigt an, zwanzig Prozent der Einnahmen eines bald erscheinenden Tonträgers an Betroffene weiterleiten zu wollen. NDS wurde einst ins Leben gerufen von dem bekannten rechtsextremen Rapper Chris Ares und wird nach dessen Rückzug aus der Szene von früheren Mitstreitern in Bautzen fortgeführt, wobei nun involvierte Musiker aus betroffenen Regionen im Rheinland stammen.
Auch die Band "Kategorie C - Hungrige Wölfe" um Hannes Ostendorf hat eine Versteigerungsaktion beworben. Die Band hat dazu 100 Live-Alben für die 100 meist bietenden Offerten versprochen. Ferner machen in Sozialen Medien Fotos mit Ostendorf die Runde, die ihn beim Zusammentragen von Sachspenden an einem Transporter zeigen. An diesem Wochenende schon will der KC-Sänger die organisierten Lebensmittel und Kleidungsstücke selbst in der Gemeinde Horhausen im Westerwald bei Mitstreitern abgeliefert haben. Ferner sammelt das rechte Rapper-Projekt "Rapbellions", zu dem auch Xavier Naidoo gehört, Geldspenden ab 50 Euro aufwärts für Merchandise-Hoodies.
Attila Hildmann wittert Verschwörung
Der rechtsradikale Blogger Stefan Raven aka Stefan Michels macht sich derweil Gedanken, statt den eigenen GEZ-Beitrag zu zahlen, diesen den Hochwasseropfern zu spenden. Ferner haben Neonazis über den Messenger-Dienst Telegram eine Hilfs- und Kontaktbörse eingerichtet. Überdies hat sich auch der nach einem Haftbefehl gegen ihn wohl in die Türkei getürmte antisemitische Verschwörungs-Koch Attila Hildmann zu Wort gemeldet: "Das Hochwasser wurde künstlich erzeugt durch militärische HAARP-Anlage in Münster. Sie brauchen Katastrophen für Militäreinsatz im Inneren, Vernichtung von Ernten, Hunger und Stromausfälle! Das Militär wird für "Delta" (gemeint ist augenscheinlich die Corona-Variante) bleiben! Es ist Krieg!"
Während "Kameraden" bundesweit also aktiv werden, zeigt sich im Westen zugleich die Schwäche der rechtsextremen Szene und Parteienlandschaft. Insbesondere NPD und Die Rechte (DR) sind nur bedingt, lokal sehr begrenzt oder gar nicht aktionsfähig in den betroffenen Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Deutlich wird das etwa daran, dass in Aachen ein Senioren-Ehepaar vom Hochwasser stark betroffen war, das sich über viele Jahre in der lokalen NPD engagiert hat. In einer lokalen Facebook-Gruppen waren es jedoch die Menschen aus dem betroffenen Ortsteil und keineswegs "Kameraden" die dazu aufriefen, den beiden im Ort bekannten Senioren zu helfen.
Wenig aktionsfähige Szene im Westen
Regionale Aufrufe zum Helfen in den von Starkregen und Hochwasser betroffenen Gebieten waren ähnlich breit gefächert wie schon bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen: "Querdenker", Esoteriker, Rechte bis Rechtsextreme, Hooligans, "Reichsbürger" und Verschwörungsgläubige wurden aktiv oder rufen zu Spenden auf. Während manche generell helfen wollen, rufen andere eher dazu auf, besonders Gleichgesinnte zu unterstützen. Verbreitet werden aber auch Hinweise auf Spenden- und Hilfsaktionen seriöser Gruppen und Organisationen, zugleich werden aber auch eigene solche gestartet. Insbesondere lokale und rechtsoffene Verschwörungsgläubige, "Querdenker" oder Vertreter der Partei "dieBasis" schufen regionale oder lokale Telegram-Chats und benannten Ansprechpartner vor Ort, über die man Hilfsprojekte koordinieren will.
Zudem riefen die beiden ebenso mit den "Rapbellions" und dem Song "Heimat" sowie Xavier Naidoo verwobenen rechtsradikalen und verschwörungsideologischen Medienaktivisten Sebastian Verboket aus Heinsberg ("Fakten Frieden Freiheit") und Miró Wolsfeld aus dem Kölner Raum ("Unblogd") unabhängig von den beiden Projekten zu Spenden auf. Diese sollen demnach direkt an Wolsfelds von der Unwetter-Katastrophe getroffenen Mutter gehen. Betroffen vom Hochwasser waren auch "Reichsbürger" in der Region rund um Aachen, die sich teils in Selbstorganisation auszuhelfen wussten, zugleich aber auch auf Hilfe jenes Staates zurückgriffen, dessen Legitimität sie sonst anzweifeln oder den sie sogar aktiv bekämpfen.
Vom bisschen Regen zum eigenen Spendenkonto
Zu staats- und behördenfeindlicher Propaganda oder dem verbreiten von Verschwörungsmythen im Stile von Hildmann nutzt die Szene den Ausnahmezustand gleichwohl ebenso. Mutmaßlich Dieter B., bis zum Spätsommer 2020 noch der Kopf der NRW-Abordnung der rechtsextremen, rassistischen und antisemitischen Splittergruppe "Patriotic Opposition Europe" und nun Kopf von "Klartext 20/21", lästerte über die Behörden in Stolberg bei Aachen. Sie hätten, hieß es in einem Posting auf dem Telegram-Kanal von "Klartext 20/21" am 14. Juli, "Blitzschnell reagiert" und gegen das Hochwasser Brücken mit "Absperrband" gesichert. Dass dies bei dem rasant und unaufhaltsam ansteigenden Hochwasser nur wegen der wachsenden Hilflosigkeit zum Schutze von Fußgängern geschah, wird in dem Posting nicht erwähnt.
Statt dessen lästerte "Klartext 20/21" im selben Posting gegen die Behörden "die mit ein paar Tagen Regen völlig überfordert" seien. Wenige Stunden später war das Hochwasser so sehr angestiegen, dass die Innenstädte von Stolberg und dem benachbarten Eschweiler nur noch einem Trümmerfeld glichen und besonders in Stolberg die komplette Infrastruktur zerstört war. Die Splittergruppe "Klartext 20/21" gilt als Sammelbecken für zuvor irrlichternde Einzel-Protagonisten aus der Szene der Rechtsextremen, "Reichsbürgern" und fremdenfeindlichen "Wutbürgern" aus dem Raum Aachen / Düren, Düsseldorf und Duisburg. B. besuchte kurz darauf dann als Videoaktivist den Rand einer überschwemmte Ortschaft in der Region und will sich Betroffenen gegenüber hilfsbereit gegeben haben. Danach bat auch der Frührentner im Namen von "Klartext 20/21" via Facebook und Telegram um Geldspenden, die über das private Paybal-Konto einer Gleichgesinnten aus der Region getätigt werden können.
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Freie Presse Online, 18.07.2021:
Asylbewerber in Linienbus angegriffen
Mindestens zwei Männer aus der achtköpfigen Gruppe haben am Samstagabend einen 20-Jährigen Asylbewerber in einem Linienbus in Aue zu Boden gestoßen und auf ihn eingetreten. Der somalische Staatsbürger wurde dabei leicht verletzt.
Wie die Polizei mitteilt, verständigte der Busfahrer am Abend die Polizei. Der junge Somalier stieg demnach in der Auer Straße zu und wurde von acht im Bus sitzenden Männern im Alter zwischen 38 und 49 Jahren zunächst ausländerfeindlich beleidigt. Die Situation spitzte sich weiter zu.
Eingesetzte Polizisten stellten schließlich sowohl die acht Tatverdächtigen als auch den Geschädigten im Linienbus fest. Die Polizei sprach gegen die acht tatverdächtigen Männer Platzverweise aus. Der 20-Jährige verzichtete auf eine ärztliche Behandlung.
"Es wurden Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung aufgenommen, wobei die Motivation der Tatverdächtigen nach derzeitigem Kenntnisstand in Ausländer- bzw. Fremdenfeindlichkeit zu sehen ist", erklärt ein Sprecher der Polizei. Aus diesem Grund wird das Dezernat Staatsschutz der Chemnitzer Kriminalpolizei in die Ermittlungen involviert. "Um die genaue Tatbeteiligung, insbesondere für den tätlichen Angriff, klären zu können, wurde unter anderem die Sicherung der Videoaufnahmen aus dem Linienbus veranlasst", so der Sprecher.
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Spiegel Online, 18.07.2021:
Parteiinterner Streit / AfD-Chef Meuthen geht auf Distanz zu eigenen Kandidaten
18.07.2021 - 22.22 Uhr
"Das sind alles nicht meine Freunde": AfD-Chef Jörg Meuthen hat sich zu mehreren Kandidaten seiner Partei kritisch geäußert - wenige Wochen vor der Bundestagswahl.
Zehn Wochen vor der Bundestagswahl hat der AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen Spannungen in seiner Partei eingeräumt. "Das sind alles nicht meine Freunde", sagte der Parteichef am Sonntag in einem ZDF-Interview auf die Frage, ob er Kandidaten wie Christina Baum aus Baden-Württemberg oder Stephan Brandner und Jürgen Pohl aus Thüringen unterstütze.
Meuthen sagte, er habe bis 2018 versucht, den 2015 vom Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke gegründeten "Flügel" in die Partei zu integrieren. "Der Versuch ist gescheitert, weil der "Flügel" auch die Partei übernehmen wollte", fügte Meuthen hinzu.
Er selbst hatte früher Veranstaltungen des Netzwerkes besucht, war später aber auf Distanz zu Höcke und anderen Führungspersönlichkeiten der inzwischen formal aufgelösten Gruppierung gegangen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet das Netzwerk mittlerweile als gesichert rechtsextremistische Bestrebung. Die AfD setzt sich aktuell gegen eine mögliche Beobachtung der Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz juristisch zur Wehr.
In dem Verfahren vor dem Kölner Verwaltungsgericht geht es auch um die Frage, welches Gewicht Ideen und Akteure der Rechtsaußen-Strömung in der AfD haben. Der Inlandsgeheimdienst hat seine aktuelle Einschätzung der AfD in einem neuen Gutachten niedergelegt. Höcke wird darin von allen Parteimitgliedern nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur mit Abstand am häufigsten erwähnt.
Kritik übte Meuthen in dem Interview auch an der jüngsten Moskau-Reise des Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla. Dass dieser auf Einladung des russischen Verteidigungsministeriums bei einer Konferenz eine Rede gehalten habe, sei ebenso "unklug" gewesen wie der Inhalt dieser Rede. Chrupalla bildet gemeinsam mit Weidel das Spitzenteam der AfD im Bundestagswahlkampf. Meuthen ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments und kandidiert nicht für den Bundestag.
Auf die Frage, wie lange er angesichts des massiven Gegenwinds aus den eigenen Reihen noch Parteichef sein werde und ob er vielleicht wie die früheren Vorsitzenden Bernd Lucke und Frauke Petry aus der AfD austreten werde, antwortete Meuthen: "Hinwerfen ist nicht meine Art, das mache ich nicht." (wal/dpa)
Bildunterschrift: AfD-Chef Jörg Meuthen im ZDF-Sommerinterview: "Hinwerfen ist nicht meine Art."
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Augsburger Allgemeine Online, 18.07.2021:
Rauer Ton im Bundestag: Die AfD und die neue deutsche Härte
Seit vier Jahren sitzen die Abgeordneten der Alternative für Deutschland im Bundestag. Der persönliche Umgang hat seitdem schwer gelitten, das Klima ist rau.
Von Christian Grimm
Wenn es im Bundestag eine Königin des Polterns gibt, dann ist es Beatrix von Storch. Die Abgeordnete der AfD brüllt dazwischen, sie schreit mit wütendem Blick, wenn ihr während der Debatte etwas gegen den Strich geht. Von Storch hat eine kraftvolle, schneidende Stimme, weshalb sie gut zu hören ist. Sechsmal ist sie in der laufenden Wahlperiode dafür namentlich verwarnt worden, wie aus den Daten der Bundestagsverwaltung mit Stand Ende 2020 hervorgeht.
Einmal wurde von Storch dafür gemaßregelt, dass sie den FDP-Parlamentarier Marco Buschmann als Terroristen bezeichnete, ein anderes Mal, weil sie im Plenarsaal keine Corona-Maske trug. "Sie tragen doch selber keine Maske", fauchte sie in Richtung Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) zurück. Die Zornesausbrüche der Beatrix von Storch verstören umso mehr, weil sie aus uraltem Adel stammt, der viel Wert auf Etikette legt.
AfD verbucht mehr Ordnungsrufe als das gesamte Parlament in 16 Jahren
An den Ordnungsrufen lässt sich ablesen, dass sich etwas verändert hat im deutschen Parlament, seit die AfD vor vier Jahren dort eingezogen ist. Zwei Drittel der seitdem verzeichneten rund 40 namentlichen Verwarnungen gehen auf das Konto der AfD. Die Gesamtzahl mag klein erscheinen, aber im Verhältnis ist sie gewichtig. Sie ist größer als die Summe der Ordnungsrufe der vier vorherigen Wahlperioden zusammen. An den Ordnungsruf ist nicht automatisch eine Strafe gebunden, er mahnt die Vertreter des Volkes zur Disziplin im Streit über die beste Politik.
Während der Ordnungsruf auf der Schauebene des Schlagabtauschs einer Debatte unter der Kuppel des Reichstages spielt, gibt es eine Ebene, von der die Öffentlichkeit nichts mitbekommt. Sie spielt in den Fluren der Bundestagsgebäude, in Aufzügen und Ausschussräumen. Dort ist, wie Mitarbeiter und Abgeordnete aller anderen Fraktion berichten, das Gefühl der Kollegialität verschwunden. Wenn die AfD dabei ist, wird es häufig hämisch, verletzend und schadenfroh.
Vor allem Frauen ist die Enge des Aufzuges ein Graus, wenn Referenten oder Abgeordnete der AfD zusteigen. "Wir fahren gerne mit einer schönen Frau", ist einer dieser Sprüche. Die AfD ist eine Männer-Partei. Die Abgeordnete Gyde Jensen ist 31 Jahre alt und sitzt für die FDP im Bundestag. Wie die Abgeordneten der AfD ist sie neu im Bundestag. "Sobald eine Frau ans Rednerpult tritt, kann man sich eigentlich schon auf irgendwelche sexistischen Sprüche und gehässigen Bemerkungen einstellen", sagt Jensen. Die Bänke der Freien Demokraten grenzen im Halbrund des Plenums direkt an die der AfD. Auch viele Abgeordnetenbüros beider Fraktionen liegen auf einer Ebene.
Nazi-Vorwürfe: Die AfD sieht sich diabolisiert
Nun ist es keineswegs so, dass die Abgeordneten der AfD keine Prügel beziehen würden. Die Polarisierung, die ihr Einzug ausgelöst hat, hat auch bei ihnen Narben hinterlassen. "Die anderen Fraktionen hatten sich von Anfang an entschlossen, die AfD als neue Konkurrenz zu diabolisieren und auszugrenzen", sagt ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann. Mit Diabolisieren meint er den schlimmsten Vorwurf, den man in Deutschland einem Menschen machen kann - ein Nazi oder Faschist zu sein.
Um die Tragweite zu verstehen, unterstreicht Baumann noch einmal, was das eigentlich heißt: Es ist ein Vergleich mit "totalitären Massenmördern", dem sich die größte Oppositionspartei ausgesetzt fühlt. Oft wird der allerdings befeuert von Äußerungen aus dem Rechtsaußen-Lager der AfD selbst. Grüne, SPD, Linke und die Union haben beschlossen, alle Anträge der neuen Konkurrenz abzulehnen, selbst wenn sie inhaltlich gut sein könnten. "Antidemokratischer geht’s kaum", findet Baumann.
Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, braucht es eine Instanz, die verhindert, dass sich die gärende Stimmung in einem Knall entlädt. Auf dem Fußballplatz ist es der Schiedsrichter. Im Bundestag ist der Schiedsrichter das Präsidium. Angeführt wird es von Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble, dem eine Reihe von Vizepräsidenten zur Seite stehen. Einer von ihnen ist Hans-Peter Friedrich von der CSU.
Hans-Peter Friedrich über Kollegialität: "Da ist etwas verloren gegangen"
Der Oberfranke war schon fast alles, was man in der Politik werden kann. Zweimal Minister, CSU-Landesgruppenchef, seit 23 Jahren Abgeordneter. Am Telefon holt er weit aus und geht zurück in die Jahre, als die Bundesrepublik von Bonn aus regiert wurde, dem Bundesdorf.
Auch damals sind die Debatten hart gewesen, aber jenseits der öffentlichen Auseinandersetzung erzählt Friedrich von einer Zusammengehörigkeit als Vertreter der Wählerinnen und Wähler. "Außerdem gab es ja nur drei Kneipen, wo sich alle getroffen haben." Schon mit dem Umzug des Bundestages nach Berlin sei dieser Geist schwächer geworden. Der Einzug der AfD hat ihm in der Wahrnehmung des erfahrenen Politikers den Garaus gemacht. "Da ist etwas verloren gegangen", sagt der 64-Jährige.
Der Parlamentsvize hat einen Mechanismus ausgemacht, der für den Klimawandel im Bundestag verantwortlich ist. Dieser funktioniert so: Die AfD provoziert, die anderen Parteien springen über das Stöckchen und schießen zurück. Die Abgeordneten der anderen Parteien erkennen, dass ein scharfer Konter Aufmerksamkeit bringt. "Sie hauen der AfD die Backen voll", wie Friedrich es nennt. Diese wiederum igelt sich ein und giftet bei nächster Gelegenheit zurück. "Das ist ein begrenztes Vergnügen, aber es wird sich auch in der neuen Wahlperiode nicht groß ändern", glaubt der CSU-Mann.
Was den Unterschied zu früher ausmacht, zeigt eine kleine Episode. In den 70er Jahren versuchte Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU) Kanzler Willy Brandt (SPD) per Misstrauensvotum zu stürzen. Das misslang, dennoch tranken Barzel und Brandt davor und danach ein Bier zusammen. Es waren auch die großen Jahre von SPD-Einpeitscher Herbert Wehner. Er hält übrigens den Rekord an Ordnungsrufen: 57.
Bildunterschrift: Der Ton im Bundestag sei mit dem Einzug der AfD vor vier Jahren rauer geworden, hört man oft aus anderen Fraktionen. Dass sich dies im Herbst ändern wird, ist unwahrscheinlich.
Bildunterschrift: Beatrix von Storch stört mit ihren Zwischenrufen regelmäßig die Debatten im Bundestag.
Bildunterschrift: Aufmarsch von Nationalsozialisten bei einem Parteitag. Der AfD wird oft vorgeworfen, eine Partei von Neonazis zu sein.
Bildunterschrift: Hans-Peter Friedrich ist seit 1998 Bundestagsabgeordneter und Vizepräsident des Parlaments. Er denkt mit Wehmut an die Kollegialität der Bonner Jahre zurück.
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