17 Artikel ,
15.07.2021 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
Norddeutscher Rundfunk, 15.07.2021:
Esther Bejarano - Das Erbe der Mahnerin gegen Antisemitismus
Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Cottbus / Schulprojekt erforscht NS-Zwangsarbeit
Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Siegen / Virtuelle Rekonstruktion erinnert an Synagoge
die tageszeitung Online, 15.07.2021:
Gerichtsverfahren gegen Franco A. / Vom Offizier zum Geflüchteten
Nordbayern.de, 15.07.2021:
Frau aus Franken vor Gericht / Terror-Prozess: Verriet Susanne G. ihre Anschlagspläne zwei NSU-Helfern?
Hanauer Anzeiger Online, 15.07.2021:
Wer ignorierte die Hilferufe aus Hanau? / Staatsanwaltschaft deckt haarsträubende Inkompetenz der Polizeiführung auf
Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Sachsen / Chemnitz: Grabsteine jüdischer Kinder geschändet
Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Mannheim / "Es ist eine Schande"
Gießener Allgemeine Online, 15.07.2021:
"Ein beispielloses Zusammenstehen"
die tageszeitung Online, 15.07.2021:
Affäre um AfD-Berater Tom Rohrböck / Alles andere als normal
Mitteldeutscher Rundfunk, 15.07.2021:
"Parteischädigendes Verhalten" / AfD strebt Ausschluss des Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel an
Frankfurter Rundschau Online, 15.07.2021:
Weg von der "Diktatur" / Xavier Naidoo, Bodo Schiffmann und Co.: Verschwörungstheoretiker zieht es ins Ausland
Berliner Morgenpost Online, 15.07.2021:
Corona / Antisemitismus: Anzeige gegen "Querdenker"-Prof. Bhakdi
Der Tagesspiegel Online, 15.07.2021:
Rechte Chat-Gruppen bei der Berliner Polizei / Grüne fordern Überprüfung der Amtshandlungen verdächtiger Beamter
Berliner Zeitung Online, 15.07.2021:
Berlin: Rechtsextremer Chat bei der Polizei wird Thema im Innenausschuss
Blick nach Rechts, 15.07.2021:
Wieder rechte Chat-Gruppe bei Berliner Polizisten
MiGAZIN, 15.07.2021:
Menschenverachtende Inhalte / Berliner Polizei ermittelt gegen rechte Chat-Gruppe in eigenen Reihen
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Norddeutscher Rundfunk, 15.07.2021:
Esther Bejarano - Das Erbe der Mahnerin gegen Antisemitismus
15.07.2021 - 16.00 Uhr
Esther Bejarano überlebte in der Nazi-Zeit das KZ Auschwitz - und wurde zur Mahnerin gegen Antisemitismus. Am 10. Juli ist die 96-jährige Holocaust-Überlebende nach kurzer, schwerer Krankheit in ihrer Wahlheimat Hamburg gestorben. Ein Porträt.
Von Oliver Diedrich, NDR.de
"Frech wie Oskar", nannte ihr Vater sie, als Esther Bejarano ein kleines Kind war. "Brav" sein wollte sie auch in hohem Alter immer noch nicht: Wenn in ihrem Wohnort Hamburg ein Prozess gegen einen früheren KZ-Wächter lief, saß sie im Saal und nannte die Verhandlung "eine Farce" und "furchtbar". Wenn in ihrer Stadt Flüchtlinge drangsaliert wurden, schimpfte sie öffentlich, das sei "eine Schande für die Stadt". Und wenn irgendwo Neonazis aufmarschierten, sang sie laut mit Rappern gegen Rassismus und Antisemitismus an.
Bejaranos Engagement gegen das Vergessen
Bejarano mischte sich ein, weil sie aus Erfahrung wusste, dass allzu viele Menschen lieber weggucken. Als junge Frau hatte sie Auschwitz überlebt. Danach ging sie nach Palästina. In den 1960er-Jahren kehrte Bejarano nach Deutschland zurück. Damals merkte sie rasch, dass auch der Rechtsextremismus überlebt hatte. Jahrzehntelang engagierte sich Bejarano dafür, Auschwitz nicht zu vergessen. Sie war eine vielfach ausgezeichnete Friedensaktivistin und bekam das Große Bundesverdienstkreuz.
"Du wirst noch Schlimmeres erleben"
Bejarano wurde als Esther Loewy im Saarland geboren. Ihr Vater Rudolf Loewy war Kantor einer jüdischen Gemeinde. Esther war das jüngste von vier Geschwistern. In ihrem Buch "Erinnerungen" beschrieb sie ihre unbeschwerte Kindheit in einem musikalischen Elternhaus. Doch als Esther zehn Jahre alt war, änderte sich ihre Welt: "Der Antisemitismus machte sich breit." Sie und ihre Geschwister, alle jüdischen Kinder, durften plötzlich nicht mehr auf "arische" Schulen. Bejarano erzählte, wie damals die Repressionen zunahmen. Wie Freunde und Familienmitglieder ins Ausland flohen vor der immer wilderen NS-"Rassenpolitik".
Esther wurde schließlich von ihren Eltern in ein Vorbereitungslager zur Auswanderung nach Palästina geschickt. Doch zur Emigration kam es nicht mehr. 1941 steckten die Nazis sie und andere Auswanderungswillige in Zwangsarbeiterlager. Bei einer Konfrontation mit Polizisten brach die 16-jährige Esther in Tränen aus. "Hab dich nicht so, du wirst noch Schlimmeres erleben", sagte man ihr da.
Im Viehwaggon nach Auschwitz
Am 20. April 1943 stieg Esther in Auschwitz aus einem Viehwaggon. In ihrem Buch erinnerte sie sich, wie bei der Ankunft alle Kranken, Mütter mit kleinen Kindern, Schwangere und Ältere ausgesondert wurden. "Sie fuhren in die Gaskammern, was wir damals noch nicht wussten." Die anderen Gefangenen mussten sich vor den SS-Männern ausziehen und nackt die Haare scheren lassen. Dann wurde ihnen eine Nummer auf den Arm tätowiert. "Ich bekam die 41948. Namen wurden abgeschafft, wir waren nur noch Nummern." Sie und ihre Mitgefangenen schliefen auf Brettern, ohne Stroh und ohne Decken. Sie erhielten wenig Essen, mussten Steine schleppen. "Sie waren so schwer, dass einige Frauen schlappmachten." SS-Wächter prügelten auf die Geschwächten ein. Esther war zierlich und nur 1,48 Meter groß. "Ich glaube, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, aus dieser Kolonne rauszukommen, wäre ich elendig zugrunde gegangen."
Esther muss die Musik zum Sterben spielen
Doch Esther hatte Glück. Sie wurde gefragt, ob sie im Lager-Orchester mitwirken kann. Gesucht wurde eine Akkordeonspielerin. Obwohl sie das Instrument gar nicht beherrschte, sagte sie zu. Es gelang ihr, die richtigen Töne zu treffen. Das war ihre Rettung. Zwar war die Verpflegung für die Orchester-Mitglieder genauso karg wie für alle anderen, doch die schwere, tödliche Arbeit in den Außenlagern von Auschwitz blieb ihnen erspart. "Täglich sahen wir abgemagerte Leichen auf den Straßen liegen. Wir sahen tote Frauen am Stacheldraht hängend. Frauen, die aus ihrer Verzweiflung an den geladenen Zaun liefen, um ihrem Leben ein Ende zu machen." Das Orchester spielte, wenn die anderen zur Arbeit abmarschierten. Bejarano erzählte auch, wie sie am Tor stehen und Musik machen mussten, wenn neue Opfer für die Gaskammern angeliefert wurden. "Als die Menschen die Musik hörten, dachten sie sicher, wo Musik spielt, kann es ja so schlimm nicht sein."
Das Akkordeon ist die Rettung
Esther erkrankte an Typhus. Mit hohem Fieber kam sie ins Lazarett. Wie alle jüdischen Häftlinge bekam sie keine Medikamente. Sie war dem Tode nah. Doch offenbar rettete sie ihre Bedeutung für das Orchester: Ein wichtiger SS-Mann sorgte dafür, dass Esther doch Medizin erhielt und gesund gepflegt wurde. Ihr Fürsprecher war Otto Moll, der in Auschwitz-Birkenau die Gaskammern und Krematorien leitete. Ausgerechnet der gefürchtete Sadist Moll fühlte sich für die Musik im Lager verantwortlich. Ein Mann, der Gefangene von seinen Hunden zerfleischen ließ und Kinder bei lebendigem Leib verbrannte.
Nach einigen Wochen spielte Esther wieder im Orchester mit, wenn andere Gefangene zum Sterben abgeführt wurden. Als eine bessere Akkordeonistin auftauchte, übernahm sie die Blockflöte. Doch dann bekam sie Keuchhusten und konnte vorerst nicht mehr spielen. Moll sorgte dafür, dass sie eine Zeit lang nicht bei den Proben mitmachen musste. "Was ihn dazu bewegt hat, weiß ich nicht."
Genug "arisches Blut", um leben zu dürfen?
"Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück", sagte Bejarano Jahrzehnte später. Eines Morgens wurden die Gefangenen, die "arisches Blut in ihren Adern" hatten, aufgefordert sich zu melden. Sie sollten verlegt werden. Esther hatte eine christliche Großmutter. Es sei ihr schwer gefallen, ihre Mithäftlinge zu verlassen, doch: "Meine Freundinnen meinten, ich hätte geradezu die Pflicht zu versuchen herauszukommen, damit ich erzählen könnte, was für schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden." Esther wurde mit 70 weiteren Frauen ins KZ im brandenburgischen Ravensbrück gebracht. Dort musste sie für die Siemens-Werke arbeiten. Als sich im April 1945 die Sowjettruppen näherten, zwangen die Nazis die Insassen zum "Todesmarsch" ins mecklenburgische Malchow. Esther überlebte. In den Wirren der letzten Kriegstage konnte sie entkommen. Sie wurde von US-Soldaten gerettet. Diese hätten ihr sogar ein Akkordeon geschenkt. In ihren Erinnerungen beschrieb Bejarano, wie die Sieger auf einem Marktplatz ein großes Porträt von Adolf Hitler anzündeten. "Die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum, und ich spielte Akkordeon."
Nach 15 Jahren Israel Rückkehr nach Deutschland
Erst nach dem Krieg erfuhr Esther, dass ihre Eltern und ihre Schwester Ruth umgebracht wurden. Sie verbrachte die nächsten 15 Jahre in Israel, machte eine Ausbildung als Sängerin. Sie heiratete Nissim Bejarano und bekam zwei Kinder. Ihr Mann war Kommunist - er kam mit den politischen Verhältnissen immer weniger zurecht. Und Esther ertrug die Hitze in Israel nicht. 1960 beschlossen sie, das Land zu verlassen. Trotz vieler Zweifel entschieden sie sich, nach Deutschland zu gehen. Sie zogen nach Hamburg, weil sie von Freunden hören, dass die Stadt schön sei und die Menschen freundlich. Sie eröffneten eine kleine Wäscherei. Nissim arbeitete zusätzlich in einem Hähnchen-Grill auf der Reeperbahn, später eröffnete er in Uetersen eine Diskothek. Doch sie mussten den Club dort wieder schließen, laut Bejarano wurden sie von antisemitischen Einwohnern vertrieben. Zurück in Hamburg ging es aufwärts. Esther eröffnete eine Boutique, ihr Mann wurde Feinmechaniker, ihr Sohn Versicherungskaufmann, ihre Tochter Sängerin.
Vergangenheit holt sie ein
In den 70er-Jahren holte ihre Vergangenheit sie wieder ein. Bejarano erzählte, wie in der Nähe ihres Ladens Mitglieder der rechtsextremen NPD einen Infostand aufbauten. Sie musste mit ansehen, wie die Polizei gewaltsam gegen Menschen vorging, die gegen die Neonazis protestierten.
"Ich sah, wie Neonazis ihre Flugblätter verteilten, wie sie auf Gegner einschlugen. Ich sah, wie die Polizisten daraufhin die Antifaschisten verhafteten. Das war zu viel für mich. Die Polizisten schützten die Nazis. Ich sagte denen, ich sei im KZ gewesen und ich könne nicht begreifen, dass sie die Nazis schützten. Da sagte einer der Polizisten, in Russland gäbe es auch KZs und außerdem sollte ich nach Hause gehen, sonst würde ich noch einen Herzinfarkt bekommen."
Erinnerungen der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano 30 Jahre nach Auschwitz
"Jetzt wusste ich, dass ich anfangen musste, antifaschistische Arbeit zu machen", sagte sie rückblickend.
Bejaranos Engagement gegen Rechts
Esther Bejarano war danach auf Hunderten Veranstaltungen gegen Rechtsextremismus. Über ihr Leben schrieb sie gemeinsam mit anderen Autorinnen zwei Bücher. Sie erzählte in Schulen von ihrer Zeit in Auschwitz.
Sie protestierte auf Demos gegen Neonazis. Sie übernahm den Vorsitz des deutschen Auschwitz-Komitees. Sie ergriff das Wort für Flüchtlinge und sang mit der Band Microphone Mafia auf Konzerten gegen Rechts. Sie mischte sich ein, wo immer sie es für notwendig hielt: Kurz vor ihrem 95. Geburtstag zum Beispiel schrieb sie einen offenen Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), nachdem der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN-BdA) wegen des Verdachts des Linksextremismus die Gemeinnützigkeit aberkannt wurde. "Das Haus brennt - und Sie sperren die Feuerwehr aus!", beklagte Bejarano. Sie war Ehrenvorsitzende der VVN-BdA.
Zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs hatte sie sich im vergangenen Jahr noch in einer Petition dafür eingesetzt, den 8. Mai zum bundesweiten Feiertag zu machen.
Obwohl Bejarano hier lebte, sei Deutschland nie wieder ihre Heimat geworden: "Weil noch zu viele Nazis hier herumlaufen, die mich an das Vergangene erinnern."
Würdigung durch den Bundespräsidenten
Nach dem Tod der 96-Jährigen am 10. Juli kondolierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihren beiden Kindern. "Wir verlieren mit ihr eine mutige Persönlichkeit, die sich bis zuletzt für die Verfolgten des Nazi-Regimes eingesetzt hat", schrieb er. Es sei der Verstorbenen eine innere Verpflichtung gewesen, die Erinnerung an die Gräueltaten des Nazi-Regimes wach zu halten. Steinmeier erinnerte auch an Bejaranos Auftritte als Sängerin. "Wer sie je in ihrem musikalischen Element erlebt hat, wird sich immer daran erinnern: So mitreißend war sie!"
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter: "Heute Nacht ist eine wichtige Stimme im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus von uns gegangen."
Bildunterschrift: Esther Bejarano engagierte sich auch mit Mitte 90 noch gegen Antisemitismus und Rassismus.
Bildunterschrift: In Hamburg eröffnete Esther Bejarano Anfang der 1960er-Jahre eine Wäscherei.
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Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Cottbus / Schulprojekt erforscht NS-Zwangsarbeit
15.07.2021 - 14.33 Uhr
Einer der Aufträge der Gleis- und Tiefbaufirma Richard Reckmann war die so genannte Todesrampe von Auschwitz
In Brandenburg wird die Beteiligung eines Cottbusser Unternehmens am Holocaust in einem Schulprojekt erforscht. Das Kulturministerium stelle für die geplante Wanderausstellung zum Thema NS-Zwangsarbeit 11.000 Euro aus Lottomitteln zur Verfügung, teilte das Ministerium am Donnerstag in Potsdam mit.
Parallel zur Ausstellung "Die Firma Richard Reckmann aus Cottbus und der Holocaust" soll auch eine Publikation mit Aufsätzen der Schülergruppe in Zusammenarbeit mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten entstehen.
Hungerlöhne
"Daimler, Siemens, IG Farben, Thyssen-Krupp: Diese deutschen Unternehmen fallen einem sofort ein, wenn es um Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg geht und um unmenschliche Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen", betonte Kulturministerin Manja Schüle (SPD). Welchen Anteil auch regionale Firmen daran hatten, sei hingegen nur wenig bekannt.
Die Schülerinnen und Schüler hätten nun mit Partnern aus Brandenburg und Polen Material über den Gleis- und Tiefbauunternehmer Richard Reckmann zusammengetragen, betonte Schüle: "Sein Unternehmen hat mit osteuropäischen Juden, die aus ihrer Heimat verschleppt wurden und jederzeit den Tod erwarten mussten, Profit gemacht." Dass Jugendliche über den Besuch von Gedenkstätten und Zeitzeugen-Gespräche hinaus offenen Fragen nachgingen, verdiene Respekt.
Die Gleis- und Tiefbaufirma Richard Reckmann verlegte den Angaben zufolge 1944 das Gleis Nr. 3 an der Rampe im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Die so genannte Todesrampe sei einer von vielen Aufträgen gewesen, die die Firma im Zusammenhang mit der Ermordung der europäischen Juden ausführte. (epd)
Bildunterschrift: KZ-Gedenkstätte Auschwitz.
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Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Siegen / Virtuelle Rekonstruktion erinnert an Synagoge
15.07.2021 - 16.40 Uhr
Video- und Klanginstallation soll an die von den Nazis zerstörten Synagogen und Bethäuser erinnern
Die Siegener Synagoge soll zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November virtuell wieder auferstehen. In einer animierten Video- und Klanginstallation solle sich die im Jahr 1938 von Nationalsozialisten niedergebrannte Synagoge aus den Trümmern erheben, kündigte die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit am Mittwoch in Siegen an. Sie werde an der Außenwand des Hochbunkers am Obergraben in ihrer einstigen Gestalt projiziert.
Premiere
Die Premiere der ersten virtuellen Rekonstruktion einer Synagoge in Deutschland solle stellvertretend die über 1.400 Synagogen und Bethäusern ins Gedächtnis rufen, die in der Pogromnacht im November 1938 zerstört wurden.
Die Installation sei auch Warnung und Mahnung vor wachsender Juden-Feindlichkeit. Die Künstler stammten aus Ländern, in denen wie in Ungarn und Polen nationalistisch-autokratische Regierungen die Demokratie in autoritäre Staatsformen umwandelten.
Das 1904 eingeweihte Zentrum der Siegerländer Juden wurde den Angaben zufolge am 10. November 1938 von SA- und SS-Männern in Brand gesteckt. 1941 baute die Stadt Siegen auf dem Grundstück einen Luftschutzbunker.
Bildunterschrift: Die Siegener Synagoge wurde während der Novemberpogrome 1938 von den Nazis niedergebrannt.
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die tageszeitung Online, 15.07.2021:
Gerichtsverfahren gegen Franco A. / Vom Offizier zum Geflüchteten
Franco A. plante mutmaßlich rechten Terror und hatte als vermeintlicher Syrer einen Schutzstatus. Der Prozess gegen ihn zeigt, wie das möglich war.
Daniel Schulz, Sebastian Erb
Frankfurt am Main (taz). Am letzten Prozesstag vor der Sommerpause will ein Verteidiger von Franco A. noch einmal einen Knaller hochgehen lassen. Er beantragt, der Chef des Bundesamts für Flüchtlinge und Migration (BAMF) persönlich möge im Gerichtssaal bestätigen, dass es eine Weisung des Bundesinnenministeriums gab, "die Regeln des damals geltenden Asylverfahrens bei Personen aus Syrien nicht anzuwenden".
Seit Beginn des Prozesses versucht die Verteidigung, Deutschland als einen von Angela Merkel autokratisch regierten Staat darzustellen, der die Aufnahme von Hunderttausenden Geflüchteten regelwidrig durchgedrückt habe. Der Vorsitzende Richter reagiert am Donnerstag entspannt: Man werde diesen Antrag in Ruhe beraten. Dann verliest er mit einer Richterkollegin eine Stunde lang Akten.
Der Bundeswehroffizier Franco A. steht in Frankfurt am Main vor Gericht, weil er eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben soll, einen Terroranschlag oder Attentate auf Personen aus Politik und Zivilgesellschaft, womöglich in seiner Identität als syrischer Geflüchteter. 15 Monate lang hatte er ein Doppelleben geführt. Aber wie konnte Franco A. eigentlich so lange als Asylbewerber "David Benjamin" durchgehen? Dazu haben die jüngsten Verhandlungstage neue Einzelheiten ans Licht gebracht.
Der entscheidende Tag war offenbar der 7. November 2016, damals wird Franco A. vom BAMF angehört. Ihm gegenüber sitzt zufälligerweise ein anderer Bundeswehrsoldat, ein Feldwebel, der Amtshilfe leistet, denn das BAMF ist mit der Anzahl der Antragstellerinnen, Antragsteller völlig überfordert. Als der Feldwebel vor Gericht aussagt, macht er eins klar: Seine zweiwöchige Ausbildung reicht für den Job eigentlich nicht. Er sagt: "Landeskunde und so weiter gab es in der Ausbildung nicht."
Franco A.s Legende wird nicht hinterfragt
Soweit bekannt, sehen sich Franco A. und der ihn befragende Bundeswehrsoldat bei der Anhörung zum ersten Mal. Auch eine Übersetzerin ist dabei, die nicht sehr gut Deutsch spricht. Das kann man im Gerichtssaal hören, weil Franco A. das Gespräch in Teilen aufgezeichnet hat und die Aufnahme im Gericht abgespielt wird. A. führt das Gespräch auf Französisch, was er fließend spricht.
Seine Legende: Er sei Angehöriger einer französischsprachigen Minderheit und katholischer Christ. Daher spreche er auch kaum Arabisch. Ihm drohe auf Grund seines Glaubens und seines jüdisch anmutenden Namens Diskriminierung und Verfolgung.
Der kaum geschulte Feldwebel, der Franco A. gegenübersitzt, stellt diese Erzählung nicht in Frage. Und die Übersetzerin hilft A. teilweise bei der Vervollständigung seiner Antworten. Sie wurde bisher nicht als Zeugin befragt, ihre Motive bleiben ungeklärt. Eine Sprachsachverständige sagt aus, dass die Übersetzerin nur sehr schlecht Französisch spricht.
Asyl bekommt Franco A. als David Benjamin nicht. Das Bundesamt schreibt ihm unter anderem, er gehöre als Christ "keiner besonders vulnerablen Gruppe an". Aber er bekommt subsidiären Schutz.
Beschränkter Spielraum des BAMF-Entscheiders?
Der Mann, der das entschieden hat, ist Anfang 50 und arbeitet eigentlich bei der Künstlervermittlung der Arbeitsagentur in Leipzig. Als das BAMF um Unterstützung bat, hat er sich freiwillig gemeldet. Amtshilfe als Entscheider, vom normalen Arbeitsplatz aus. Vor Gericht sagt er, er könne sich an den Fall Franco A. gar nicht mehr erinnern. Aber er kann erklären, wie das damals so ablief.
Der Entscheider bekam jeden Tag einen Schwung digitale Akten zugewiesen, er hatte Zugriff auf alle Dokumente. Wenn es einen Pass oder Führerschein gab, mussten die überprüft werden. Wenn nicht, eben nicht. Er habe immer auch die Protokolle der Anhörungen durchgelesen. Geschaut, ob politische Verfolgung dargelegt wurde und ob es irgendwelche Hinweise auf Systemnähe oder Terrorismus gibt.
Sein Spielraum aber war beschränkt, er hatte nicht viel zu entscheiden. "Es gab Weisungslagen, dass Fälle aus Syrien nicht abgelehnt werden", sagt der Zeuge. Was aber, wenn die syrische Herkunft erfunden ist? Es habe eine Dienstanweisung gegeben: "Wenn es in der Anhörung kein Zweifel an der Staatsangehörigkeit gab, war es nicht unsere Aufgabe, das anders zu bewerten." Er habe in manchen Fällen seine Koordinatorin auf Widersprüche hingewiesen. Die Antwort: Er solle nicht so oft nachfragen.
Was der Entscheider damit sagen will: Er hätte Franco A. alias David Benjamin gar nicht stoppen können. Die Fake-Identität hätte schon bei seiner Anhörung am 7. November 2016 auffallen müssen. Der Verteidigung von Franco A. passen diese Aussagen für ihre Erzählung, Franco A. habe ja nur die Schwächen des deutschen Asylsystems aufdecken wollen. Der Prozess wird Mitte August fortgesetzt.
Bildunterschrift: Wie konnte er sich so lange als Flüchtling ausgeben? Franco A. im Gerichtssaal (ganz links).
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Nordbayern.de, 15.07.2021:
Frau aus Franken vor Gericht / Terror-Prozess: Verriet Susanne G. ihre Anschlagspläne zwei NSU-Helfern?
15.07.2021 - 06.09 Uhr
Von Elke Graßer-Reitzner und Andrea Beck
Leinburg / München. Im Prozess um eine mutmaßliche Rechtsterroristin aus dem Nürnberger Land sollten am Donnerstag auch zwei NSU-Helfer aussagen. Wussten sie von den Anschlagsplänen auf Kommunalpolitiker? Weil sie sich vermutlich selbst belasten müssten, verweigern sie die Aussage.
Hat Susanne G. aus Leinburg zwei NSU-Helfer in ihre Terror-Pläne eingeweiht? Die 55-jährige Heilpraktikerin aus dem Nürnberger Land soll den Landrat sowie den Bürgermeister von Schnaittach mit dem Tod bedroht und einen Moschee-Verein und ein Flüchtlingsprojekt für weitere Anschläge im Visier gehabt haben. Der Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin sollte heute Licht ins Dunkel bringen. Doch jetzt kommt es vermutlich ganz anders.
Die beiden Nürnberger Anwälte Maximilian Bär und Harald Straßner, die in der Nebenklage den Schnaittacher Bürgermeister Frank Pitterlein und Landrat Armin Kroder vertreten, hatten sich vom heutigen Verhandlungstag vor dem Oberlandesgericht München neue Erkenntnisse versprochen. Denn sie hatten erwirkt, dass die Rechtsextremisten Ralf Wohlleben und André Eminger als Zeugen geladen wurden.
Wohlleben hatte dem NSU die Tatwaffe beschafft, mit der zehn Menschen in Deutschland ermordet wurden. Eminger hatte Beate Zschäpe aus dem NSU-Kerntrio bei der Flucht geholfen. Beide erscheinen nun aber auch "als enge Vertraute und wichtige Bezugsperson" von Susanne G., betont Anwalt Maximilian Bär.
Denn im Haus der Heilpraktikerin fanden die Ermittler neben einer Hakenkreuz-Fahne über ihrem Bett und Sachbücher über Sprengstoff und Waffen auch 34 Briefe von Wohlleben und 13 von Eminger. Der Schriftwechsel war entstanden, als die beiden Männer noch in Haft saßen. Fotos der beiden zusammen mit Susanne G. bei gemeinsamen Grillpartys und Familienfeiern entdeckte man auch auf ihrem Handy.
Noch aus der Haft heraus riet Wohlleben Susanne G., sie möge doch einmal auch Kontakt mit seiner Frau aufnehmen. In einem Brief heißt es dazu: "Mein Vorschlag war dann, dass ich Dir einfach mal ihre Nummer gebe, so könnt ihr euch auch mal "kennenlernen" und alles Weitere miteinander besprechen. ( ... ) Sag einfach Du bist die Susl mit den Zauberhänden. Habe ihr nämlich ein bisschen was von Dir erzählt."
Mit ihren "Zauberhänden" hatte G. nicht nur ihre Kunden massiert, sondern sie soll auch Patronen in Umschläge gesteckt und als Morddrohung an die Kommunalpolitiker verschickt haben. Es sei wahrscheinlich, dass sie später bei den privaten Treffen Wohlleben und Eminger von ihren Absichten erzählt habe, argumentieren deshalb die beiden Nebenklagevertreter.
Mit der Begründung, sie könnten sich möglicherweise selbst belasten, kündigten die geladenen Zeugen vorab die Verweigerung ihrer Aussage an. Denn jeder Bürger ist in Deutschland gesetzlich verpflichtet, mögliche Anschlagspläne, die ihm zu Ohren kommen, der Polizei zu melden. Tun sie das nicht, machen sie sich strafbar. Das Gericht stimmte der Begründung zu und lud die Zeugen wieder aus.
Auch Norman Kempken erhielt die gerichtliche Ausladung, nachdem er signalisiert hatte, er werde sich nicht äußern. Der Neonazi aus Nürnberg ist Aktivist der rechtsextremen Kleinpartei "Der III. Weg" in Mittelfranken. Susanne G. hatte der Partei angehört und war zeitweise für sie im Einsatz.
"Diese gerichtliche Entscheidung können wir nicht nachvollziehen", sagte Harald Straßner, Vertreter von Landrat Armin Kroder. Er und Kollege Bär hegen massive Zweifel an der These, Susanne G. sei eine Einzeltäterin gewesen.
Bildunterschrift: Ralf Wohlleben ist vor drei Jahren als Unterstützer des NSU vom Oberlandesgericht München verurteilt worden. Jetzt sollte er in München als Zeuge im Terror-Prozess gegen Susanne G. aussagen. Doch sein Platz bleibt heute leer.
Bildunterschrift: Die Angeklagte Susanne G. (vorne) wird von den Szene-Anwälten Wolfram Nahrath (links) und Nicole Schneiders (rechts) vertreten.
Bildunterschrift: Ralf Wohlleben und André Eminger hielten Kontakt zum untergetauchten NSU-Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe (Fahndungsbild). Was sie über die Pläne von Susanne G. wussten, wollen sie nicht sagen.
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Hanauer Anzeiger Online, 15.07.2021:
Wer ignorierte die Hilferufe aus Hanau? / Staatsanwaltschaft deckt haarsträubende Inkompetenz der Polizeiführung auf
15.07.2021 - 15.52 Uhr
Von Thorsten Becker und Yvonne Backhaus-Arnold
Die Staatsanwaltschaft Hanau hat die Vorgänge der lokalen Polizei überprüft. Dabei stößt sie auf gravierende Missstände.
Hanau. Personell unterbesetzt, Technik völlig veraltet, Versagen bei der Organisation: Auf der Wache Hanau I am Freiheitsplatz herrschen bereits seit rund zwei Jahrzehnten derart chaotische Zustände, dass die Polizisten ihrer eigentlichen Aufgabe, die Bürger vor Straftaten zu schützen, offenbar nicht mehr in vollem Umfang gerecht werden können. Schlimmer noch: Die Beamten aus Hanau haben mehrfach die Missstände intern gemeldet und um Hilfe gerufen. Doch weder die Polizeipräsidenten in Offenbach, der Landespolizeipräsident noch das Hessische Innenministerium in Wiesbaden haben - außer größeren Arbeitsgruppen und Ausreden - etwas unternommen.
Staatsanwaltschaft in Hanau untersucht Organisationsversagen
Diese haarsträubenden Ergebnisse gehen aus dem kompletten Abschlussbericht zu den Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft Hanau hervor, mit denen die Vorgänge auf der Polizeiwache während der fremdenfeindlichen Morde vom 19. Februar 2020 unter die Lupe genommen worden sind.
In der vergangenen Woche hatten die Ermittler eine insgesamt 24 Seiten umfassenden Pressemitteilung veröffentlicht, in der es zunächst um den vom Attentäter Tobias Rathjen verübten Mord an Vili-Viorel Paun ging. Der 22-Jährige hatte den Attentäter bis zum Kurt-Schumacher-Platz verfolgt und war dort erschossen worden. Mindestens dreimal hatte er versucht, die Polizei über den Notruf 110 zu erreichen.
Terror-Nacht in Hanau: Drei Beamte abkommandiert
Pauns Vater hatte gegen die eingesetzten Beamten Strafanzeige wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet, als im Januar bekannt wurde, dass der Notruf auf der Wache am Freiheitsplatz offenbar nicht richtig funktioniert habe. Die Staatsanwaltschaft hat nun festgestellt, dass gegen die lediglich noch vier auf der Wache verbliebenen, vollständig ausgebildeten Beamten sowie zwei Praktikanten keinerlei Verdacht bestehe, und ein Ermittlungsverfahren abgelehnt. Es waren nur noch sechs Polizisten verfügbar, weil der Dienstgruppenleiter sowie zwei weitere Polizisten in dieser Nacht in das 32 Kilometer entfernte Zeppelinheim abkommandiert worden waren, da dort eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden sollte.
Die Anklagebehörde hat jedoch auch die Organisation der Wache I und deren Notrufsystem sehr genau unter der Lupe genommen, diese Ermittlungsergebnisse zu einem möglichen Organisationsverschulden jedoch aus Gründen der internen Dienstgeheimnisse der Polizei nicht veröffentlichen können und in der Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass dieser Abschnitt gekürzt worden ist.
Organisationsmängel in Hanau seit 2003 bekannt
Dieser Abschnitt, etwa sieben Seiten lang, liegt unserer Redaktion nun vor. Er zeigt erneut, dass die eingesetzten Beamten unter unzumutbaren Zuständen arbeiten mussten und sich seit mindestens 2003 über die Organisationsmängel mehrfach bei ihren Chefs im Polizeipräsidium Südosthessen in Offenbach beschwert hatten. Zahlreiche davon wurden an das Landespolizeipräsidium weitergeleitet. Und die sieben Seiten entlarven die haarsträubende Inkompetenz der politisch Verantwortlichen.
Besonders traurig: Die letzte Beschwerde aus der Wache I stammt vom 29. Januar 2019, rund ein Jahr vor dem grausamen Anschlag mit zehn Toten. Darin heißt es, dass die personelle Unterbesetzung dazu führe, dass "ein Beamter auf der Wache sitzt, während alle drei Streifen außerhalb der Wache unterwegs sind. Nicht selten klingen beide Notruf-Apparate gleichzeitig, es stehen Funkgespräche an und im Foyer stehen mehrere Besucher vor einer leeren Loge. Wenn dann noch im Gewahrsam ein Insasse klingelt, weil er beispielsweise auf die Toilette muss, ist das Chaos perfekt."
Hanau: Wer ignorierte die Hilferufe der Polizei?
Geschehen ist nichts. Der Antrag auf Verstärkung wurde vom Polizeipräsidium Südosthessen, damals unter der Leitung von Roland Ullmann, abgelehnt. Ullmann ist inzwischen zum Landespolizeipräsidenten befördert worden. Bereits in den Jahren zuvor sind die Hilferufe aus Hanau entweder in Offenbach oder in Wiesbaden verhallt. Selbst dann noch, als festgestellt worden ist, dass die Wache am Hanauer Freiheitsplatz im Jahre 2010 jährlich fast genauso viele Notrufe bearbeitet habe wie die deutlich stärker besetzte Zentrale des Polizeipräsidiums in Offenbach, das mit vier Notruf-Plätzen ausgestattet ist.
Detailliert hat die Hanauer Staatsanwaltschaft sogar die mehrfachen Beschwerden aus Hanau chronologisch aufgelistet und die angeblichen Gründe, warum angeblich nichts getan worden sei. Der Kern des Problems scheint demnach die landespolitisch gewollte Verschmelzung der ehemaligen Polizeidirektion Hanau mit dem Präsidium Offenbach zum Kunstnamen "Polizeipräsidium Südosthessen" zu sein.
Staatsanwalt: Polizeistation Hanau könnte Voraussetzungen nicht genügt haben
Denn seitdem ist die Polizeiwache Hanau für alle Notrufe aus dem Altkreis - rund 200.000 Bürger - zuständig. Die Technik ist jedoch veraltet, denn selbst eine Weiterleitung der Notrufe an andere Zentralen im Falle der Überbelastung - wie am 19. Februar 2020 geschehen - fehlte. Seitdem hat es über ein Jahr gebraucht, diese Sicherheitslücke für die Bürger zu schließen. Innenminister Peter Beuth (CDU) hatte diesen Fehler bereits öffentlich eingeräumt.
Die nun bekannt gewordenen Feststellungen des ermittelnden Staatsanwalts sind daher eine erneute schallende Ohrfeige für die politische Führung der hessischen Polizei, denn er verweist darauf, dass die Polizei "ein Beschützergarant für die öffentliche Sicherheit" ist, und kommt zu dem Schluss, dass die Ermittlungen "erste mögliche Anhaltspunkte dafür geben, dass der Notruf der Polizeistation Hanau diesen Voraussetzungen nicht genügt haben könnte".
Hanau: Oberbürgermeister Kaminsky fordert Innenminister Beuth zum Rücktritt auf
Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky hält unterdessen an der Rücktrittsforderung an Hessens Innenminister Beuth fest. "Beinahe jeden Tag kommt ein Grund dazu", erklärte Kaminsky nach den aktuellen Entwicklungen auf Nachfrage unserer Zeitung. Beuth stehe, so der Oberbürgermeister, mittlerweile für eine "Kultur des Verschleierns und Verschweigens".
Bildunterschrift: Die Beschwerden der Hanauer Polizisten sind offenbar jahrelang in Offenbach und Wiesbaden verhallt. Das hat nun die Staatsanwaltschaft festgestellt.
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Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Sachsen / Chemnitz: Grabsteine jüdischer Kinder geschändet
15.07.2021 - 15.54 Uhr
Das Dezernat Staatsschutz der Kriminalpolizei ermittelt
Auf dem Jüdischen Friedhof in Chemnitz haben bisher unbekannte Täter drei Grabsteine geschändet und umgeworfen. Die betreffenden Grabsteine standen, so die Polizeidirektion Chemnitz, an den Gräbern jüdischer Kinder.
Das Dezernat Staatsschutz der Chemnitzer Kriminalpolizei hat Ermittlungen wegen Störung der Totenruhe und gemeinschädlicher Sachbeschädigung aufgenommen.
Sicherheit
Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, Ruth Röcher, reagierte laut einem Medienbericht mit großer Bestürzung und Fassungslosigkeit. Sie forderte bessere Sicherheit am Friedhof. Die meisten der etwa 80 bis 100 Kindergräber wurden in der NS-Zeit geschändet. Nur wenige Grabsteine sind übrig geblieben - von ihnen sind nun drei umgestoßen worden.
"Kriminaltechniker haben am gestrigen Tag die Grabstellen begutachtet. Jetzt muss man schauen, ob es verwertbare Spuren gibt", teilte ein Sprecher der Polizeidirektion Chemnitz auf Anfrage dieser Zeitung mit. Bislang hätten sich noch keine Zeugen gemeldet, die sachdienliche Angaben machen könnten. (ja)
Bildunterschrift: Auf dem jüdischen Friedhof in Chemnitz wurden drei Grabsteine umgeworfen.
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Jüdische Allgemeine Online, 15.07.2021:
Mannheim / "Es ist eine Schande"
15.07.2021 - 13.20 Uhr
Die Jüdische Gemeinde ist Ziel eines Anschlags geworden - der Staatsschutz ermittelt
Von Heide Sobotka
Der Sachschaden sei relativ gering, sagt Rita Althausen. "Aber es ist eine Schande und nicht einfach nur eine Tat von randalierenden Jugendlichen", stellt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mannheim fest. In der Zeit zwischen Dienstag um 13 Uhr und Mittwochmorgen 7.50 Uhr hat ein bislang unbekannter Täter offenbar einen Absperrpoller gegen eine schützende Plexiglasscheibe vor der Synagoge geworfen und diese durchstemmt.
Der Hausmeister habe den Schaden am Mittwochmorgen entdeckt. Bei seinem Rundgang am Dienstagmittag sei noch alles in Ordnung gewesen, erklärt Althausen. Sie könne das Ereignis schwer einschätzen und habe umgehend mit dem Polizeivizepräsidenten gesprochen. Auch er wisse nicht, wie dieser Akt der Gewalt einzuordnen sei.
"Es ist widerwärtig, es ist scheußlich", sagt Althausen. Der Vorfall zeige, dass das Gewaltpotenzial groß sei. Egal in welche Richtung man denke, die Tat sei schändlich und erschreckend, und sie frage sich, welche Intention dahinterstehe. "Wir kennen die Täter nicht, es ist alles noch unbekannt. Wenn es wirklich ein antisemitischer Anschlag war, dann ist es sehr bedenklich", betont die Gemeindevorsitzende. "Dann ist es ein Zeichen, dass der Täter oder die Täter uns treffen wollte." Aus ihrer Sicht könnten es keine Kinder gewesen sein: "Der Poller ist ja sehr schwer, die Tat kann nur von einem sehr kräftigen Menschen oder zu zweit begangen worden sein."
Zeugenbefragung
Inzwischen seien Bewohner in der näheren Umgebung befragt worden. "Es muss ja einen Schlag gegeben haben", meint Althausen. Doch Zeugen habe man bislang noch nicht ermitteln können. "Der Staatsschutz ermittelt, das Landeskriminalamt, die Spurensicherung - alles ist in der Auswertung. Das kostet Nerven, kein Mensch braucht das."
Mannheim sei für das friedliche Zusammenleben der unterschiedlichen Religionen bekannt, sagte Althausen. "Wir hatten jetzt wieder ein Treffen des Forums der Religionen, darin sind viele Religionsgemeinschaften vertreten. Einmal im Jahr gibt es ein Sommerfest, in diesem Jahr konnte es stattfinden, und mehr als 20 Beteiligte waren da." Man habe sehr gute Gespräche geführt.
"Die Menschen, die sich daran beteiligen, sind offen, sie wollen den Dialog, sind ehrlich. Und sie wirken auch auf ihre Gemeinde ein." Es gebe allerdings viele Jugendliche, die die muslimischen Verbände selbst nicht erreichten und von ihnen als sehr hasserfüllt und radikal eingeschätzt würden. Darin liege eine gewisse Gefahr.
Aus welcher Motivation heraus dieser Gewaltakt erfolgt sei, sei zur Stunde jedoch noch vollkommen unklar. Althausen findet es gefährlich, zu denken, dass es sich um einen muslimischen Anschlag handeln könnte. "Das will ich nicht", betont sie. "Dann kommen wir in ein ganz schlechtes Licht. Es kann auch ein Rechtsradikaler gewesen sein, ein dummer Streich, ein Betrunkener oder sonst wer." Man dürfe in diesem Zusammenhang nicht spekulieren.
"Wir haben keine Probleme mit Muslimen", sagt Althausen. Man tauscht sich aus, besucht sich gegenseitig, erzählt die Gemeindevorsitzende. Muslime kämen in die Synagoge, Juden besuchten die Moschee. "Wir bleiben weiter im Dialog, das haben wir gerade jetzt am Montag beim Sommer-Treffen klargemacht. Wir sind auf Augenhöhe, wir stehen mit allen Religionsgemeinschaften in engem Kontakt. Mannheim ist da wirklich offen."
Stadtgesellschaft
Althausen betont, dass es viele Kooperationspartner gibt, mit denen gemeinsam eine jüdische Kulturwoche im Herbst geplant ist. "Wir sind ganz fest in dieser Stadtgesellschaft verankert. Deswegen ist es ja so traurig, wenn es solche verlorenen Seelen gibt, die meinen, sie müssten hier ihr Gewaltpotenzial ausleben."
Sie nehme den Anschlag sehr ernst, ebenso die Polizei, die jetzt verstärkt Streife ums Haus fahre. "Vielleicht finden sich ja doch Fingerabdrücke. Wir müssen die Ergebnisse der Ermittlungen abwarten. Die Polizei ist sehr flexibel. Auf sie lasse ich nichts kommen. Es ist nur gut, dass kein Mensch zu Schaden gekommen ist", zeigt sich Rita Althausen erleichtert.
Bildunterschrift: Die Synagoge in Mannheim.
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Gießener Allgemeine Online, 15.07.2021:
"Ein beispielloses Zusammenstehen"
15.07.2021 - 21.34 Uhr
Von Marc Schäfer
Heute vor zehn Jahren demonstriert die NPD in Gießen. Die Polizei riegelt große Teile der Stadt mit einem massiven Aufgebot ab. Etwa 3.000 Gegen- Demonstranten stellen sich den Nazis entgegen. In der Innenstadt setzt die Zivilgesellschaft mit dem Straßenfest "Gießen bleibt bunt" ein überwältigendes Zeichen.
"Nazis raus, Nazis raus, haut ab, haut ab!" Es ist der seit Jahren größte Sprechchor Gießens, der auf den Tag genau vor zehn Jahren, am Mittag des 16. Juli 2011, hinter einer Bollwerk aus Gittern, Polizeibeamten und Mannschaftswagen am Oswaldsgarten in der prallen Sonne steht. Zusammen etwa 2.000 Menschen, die im Kreuzungsbereich und hinter einer weiteren Polizeisperre in der Neustadt die gut 130 Teilnehmer einer Demonstration der rechtsextremen NPD mit einem kollektiven Schrei der Empörung empfangen. Eskortiert von Bereitschaftspolizei ziehen die Neonazis über die Westanlage zur Sachsenhäuser Brücke, wo sie eine Kundgebung abhalten und ihre Tiraden gegen das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik mit ohrenbetäubendem Lautsprecherlärm verbreiten. Näher werden sich Rechte und Gegendemonstranten an diesem Tag nicht mehr kommen.
Doch es sind nicht nur die insgesamt etwa 3.000 Menschen, die an diesem Samstag an der Demo-Strecke gegen den Aufmarsch der Hessen-NPD protestieren. Zeitgleich werden die ungebetenen Gäste beim großen Straßenfest "Gießen bleibt bunt" von weiteren 1.500 Menschen sozusagen aus der Stadt hinausgefeiert. Farbenfroh und facettenreich geht es bei dem "politischen Stadtfest" zu, bei dem mehr unzählige und unterschiedliche Gruppen gemeinsam dokumentierten, dass sie keine menschenverachtende Ideologie in ihrer Mitte dulden. Das friedliche Fest pendelt zwischen ausgelassener Fröhlichkeit und ernsthaften Augenblicken, in denen die Empörung über die Demonstration der Neonazis zum Ausdruck kommt. Mit dabei sind die Gruppe Bloco Baiano mit lateinamerikanischen Rhythmen. Vor der Johanneskirche jubeln die Besucher der Sängerin Manuela Wirth zu, wenige Minuten später spenden sie dem damaligen hessischen SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel Beifall, als er ein Verbot der NPD einforderte. Ihren Ärger über die Demonstration der NPD äußerte an diesem Samstagnachmittag auch Esther Bejarano. Die Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz, die am vergangenen Samstag im Alter 96 Jahren gestorben ist, ist für ein Konzert aus Hamburg nach Gießen gekommen. Vor dem DGB-Haus spielt sie gemeinsam mit ihrer Tochter Edna und ihrem Sohn Joram sowie zwei Hip-Hop-Musikern "Lieder für den Frieden".
Bejarano galt als Mahnerin gegen Antisemitismus und engagierte sich bis zuletzt gegen Neonazis. Sie hatte im Mädchenorchester des Konzentrationslagers Auschwitz Akkordeon gespielt und den täglichen Marsch der Arbeitskolonnen durch das Lagertor musikalisch begleiten müssen. Das Fest mit dem Motto "Gießen bleibt bunt" fand Bejarano damals "wunderbar".
Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz ist zehn Jahre danach immer noch gerührt. "Auch mit dem großen zeitlichen Abstand steht für mich zweifelsfrei fest: Die Aktion "Gießen bleibt bunt" war ein bis heute beispielloses gelungenes Auf- und Zusammenstehen unserer Stadt gegen Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Rassismus und Demokratie-Feindlichkeit", sagt die OB. Es sei ein gemeinsamer, überparteilicher, gewaltfreier Protest von über 200 Organisationen, Initiativen, Verbänden, Parteien, Vereinen und unzähligen einzelnen Bürgern gewesen, die für Tausende Menschen standen. "Es war eine breite Bewegung über alle Grenzen hinweg unter dem Dach der evangelischen Kirche, die sich in einem völlig einig war: Gießen ist eine weltoffene, vielfältige und tolerante Stadt; Menschen verschiedener Herkunft, Hautfarbe, Religion, Kultur, politischer Überzeugung und geschlechtlicher Orientierung leben hier friedlich zusammen und getragen von gegenseitigem Respekt. Deshalb gibt es bei uns keinen Platz für alte und für neue Nazis", betont Grabe-Bolz. Noch heute denke sie gerne daran zurück. Es sei damals eine Dynamik entstanden, die immer mehr Akteure motivierte, dabei zu sein und kreative Ideen des Protests zu entwickeln. "Es tut bis heute gut, zu wissen, dass unsere Stadt die Kraft hat zusammenzustehen, das Gemeinsame zu leben und das sonst oft Trennende hintenanzustellen, wenn es darauf ankommt. Es war ein überwältigendes und grandioses Zeichen für Engagement der Zivilgesellschaft."
In Erinnerung bleibt indes auch der massive Polizeieinsatz: Die Polizei hat schon in den Morgenstunden ein Großaufgebot in der westlichen und nördlichen Innenstadt sowie im Bahnhofsbereich zusammengezogen, darunter Einheiten aus vier Bundesländern und der Bundespolizei. Bereits ab sieben Uhr sind ganze Bereiche der Stadt gesperrt, darunter die beiden Lahnbrücken. An den Sperren lässt die Polizei nach einer Personenkontrolle nur Anwohner passieren.
Das Demonstrationsgeschehen beginnt nach 9.30 Uhr am Bahnhof, als die ersten Züge mit Gegendemonstranten und Teilnehmern der NPD-Demo eintreffen. Auf den Gleisen 1, 2 und 4 werden von der Polizei Hunderte Personen zunächst aufgehalten, um sie dann aus dem Bahnhof zu führen; die Neonazis über die Fußgängerbrücke zur Lahnstraße, die Gegendemonstranten via Bahnhofstraße in die Innenstadt. Während sich die Rechten, darunter in Holger Apfel, dem damaligen Vorsitzenden der NPD im sächsischen Landtag, einer der führenden Köpfe der Neonazi-Partei, auf dem Parkplatz der Stadtwerke sammeln und sich dann auf ihren Zug durch den Westen Gießens begeben, strömen immer mehr Gegendemonstranten zum Oswaldsgarten. Die Polizei bilanziert später einen "überwiegend friedlichen" Verlauf.
Bildunterschrift: In der Neustadt verhindert die Polizei ein Zusammentreffen der Gegendemonstranten mit der NPD.
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die tageszeitung Online, 15.07.2021:
Affäre um AfD-Berater Tom Rohrböck / Alles andere als normal
Die AfD wirbt mit der Wiederherstellung der "Normalität". Eine Affäre um Strippenzieher Tom Rohrböck kommt da ungelegen und sorgt intern für Streit.
Gareth Joswig
Berlin (taz). "Deutschland. Aber normal", heißt die AfD-Wahlkampfkampagne für die Bundestagswahl. Der zugehörige Imagefilm ist aufwendig produziert und kontrastiert ein bürgerliches Idyll mit trister Corona-Gegenwart. Der Spot wirkt wie eine Ode an die Kleinbürgerlichkeit und deutet den Rassismus der Partei nur an.
"Sichere Grenzen" werden mit einer blonden Frau bebildert, die ihren Gartenzaun streicht. "Saubere Straßen" mit einer Nahaufnahme von klickenden Handschellen eines festgenommenen Mannes untermalt. Bei einer Familienfeier kuschelt ein Kleinkind mit einem Opa. Das Corona-Virus existiert auf diesen Bildern nicht. Am Ende heißt es: "Normal ist das, was wir alle wieder brauchen. Klingt gut, oder?"
Alles andere als normal ist hingegen die derzeitige Realität der AfD. Denn die Skandale innerhalb der rechten Partei reißen nicht ab. Kleine Kostprobe nur aus dieser Woche: Die vorgeblich gemäßigte Berliner Landesvorsitzende Kristin Brinker hat einem geschichtsrevisionistischen Magazin ein Interview gegebenen - der Interviewer hatte wohl Bezüge zur NPD, wie der Tagesspiegel berichtete. Und der NRW-Landesvize und aussichtsreiche Bundestagskandidat Matthias Helferich hat in einem Facebook-Chat laut WDR-Recherche ein Bild von sich mit "das freundliche Gesicht des NS" kommentiert.
Am verheerendsten aber dürften derzeit die innerparteilichen Verwerfungen um das Netzwerk des Polit-Strippenziehers Tom Rohrböck sein, der vor ein paar Wochen durch Recherchen von NDR, WDR und Zeit als "Phantom" oder "Schattenmann" der AfD bekannt wurde.
AfD Bayern ficht Liste an
Demnach sei Rohrböck zwar kein Mitglied, aber bestens in der AfD vernetzt und als "Königsmacher" und mächtiger Strippenzieher im Hintergrund einflussreich. Es soll sogar Abgeordneten Geldangebote gemacht haben, die allerdings niemand angenommen haben will. Die Zeit berichtet, dass Rohrböck konkrete politische Anweisungen gegeben haben soll und strategische Manöver angestellt habe.
Ob jemand hinter Rohrböck steht und wenn ja, wer, bleibt vorerst schleierhaft. Recht gut belegt ist, dass Rohrböck seit der Anfangszeit beim Aufbau der AfD sowohl finanziell als auch beratend geholfen haben soll - offenbar mit der Zielsetzung, in Deutschland eine dauerhaft starke rechte Partei nach dem Vorbild der österreichischen FPÖ zu schaffen. Der Rechercheverbund berichtet zudem, dass Rohrböck in Gesprächen mit AfD-Abgeordneten mehrfach den Namen des konservativen Milliardärs August von Finck erwähnt haben soll, Belege dafür fehlten allerdings.
Rohrböck verfüge demnach über Kontakte zu etwa der Hälfte der Bundestagsabgeordneten, wie AfD-Spitzenkandidatin und Bundessprecherin Alice Weidel vor laufender Kamera schätzte. Auch hat sie selbst eingeräumt, zwei Jahre lang mit dem Mann in Kontakt gestanden zu haben - und im November 2017, kurz nach ihrer Wahl zur Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, auf Rohrböcks Kosten und unter falschem Namen in einem Luxus-Hotel in Bayern eingecheckt zu haben. Einfluss auf ihre politische Arbeit habe Rohrböck allerdings nicht genommen, behauptet Weidel. Sie wolle nun außerdem dazu beitragen, den Einfluss Rohrböcks aufzuklären.
Die bayerische Basis versucht derzeit sogar, die Liste für die im September anstehende Bundestagswahl anzufechten, weil diese mit der Bundestagsabgeordneten Corinna Miazga von exakt jener Kandidatin angeführt wird, die maßgeblich von Rohrböck protegiert worden sein soll.
Wildwest-Steckbriefe Rohrböcks kursierten
Die bayerische Landeswahlleitung will sich dazu nicht konkret äußern. Entsprechende Vorwürfe gehörten zum Tagesgeschäft, allgemein würde dann ein Vorprüfungsverfahren eingeleitet, sagt der stellvertretende Landeswahlleiter Karsten Köhne zur taz. Ob ein solches Verfahren im konkreten Fall bereits liefe, dazu könne er nichts sagen. Die SZ berichtet, dass entsprechende Anfechtungen von AfD-Mitgliedern formal bei der Landeswahlleitung eingereicht worden seien.
Anlass für die Anfechtung ist, dass Rohrböck Miazga 2019 zur Kandidatur für den Landesvorsitz der AfD Bayern ermuntert haben soll, wie aus Chat-Protokollen hervorgehen soll. Einem Gegenkandidaten soll er hingegen geschrieben haben, dass dieser "in eine Falle" laufe und nicht mehr als 30 Prozent bekommen werde. Der Gegenkandidat zog auf dem Parteitag Minuten vor der Wahl zurück, Miazga wurde schließlich gewählt.
Auch sie hat bestätigt, dass Rohrböck sie mehrfach in Luxus-Hotels eingeladen hat, bestreitet aber, dass er ihr zu politischer Bedeutung verholfen habe. Auch bei der Vorstandswahl in Baden-Württemberg 2020 soll Rohrböck sich eingemischt haben.
Die mögliche Einflussnahme blieb auch innerhalb der AfD nicht ohne Folgen. Abgeordnete begannen, über die Rolle Rohrböcks zu sprechen. Im März 2020 kursierten in der Bundestagsfraktion zudem Zettel, die wie Wildwest-Steckbriefe mit Foto von Rohrböck aufgemacht waren ("Wanted? Tom Rohrböck, Politische Beratung der CDU & AfD sucht weitere MdB und MdL - machen Sie Karriere, aber richtig!"). Ein bayerischer AfD-Abgeordneter soll die Steckbriefe verteilt haben, um auf die mögliche Einflussnahme aufmerksam zu machen.
Bundesvorstand richtet Untersuchungskommission ein
Peter Felser, Teil der bayerischen Landesgruppe in der AfD im Bundestag sowie stellvertretender Vorsitzender der Fraktion, sagt, dass auch er damals diesen Steckbrief wahrgenommen habe. Auch wisse er von den aktuellen Anfechtungen der bayerischen Landesliste. "Wenn ein Außenstehender Einfluss nimmt, geht das natürlich gar nicht", sagt Felser, es müsse im Fall Rohrböck allerdings erst bewiesen werden, dass tatsächlich Gelder geflossen seien. Felser selbst will nicht mit Rohrböck in Berührung gekommen sein, er halte auch die Zahl von 40 mit Rohrböck vernetzten Abgeordneten für zu hoch gegriffen, sagt er.
Der Bundesvorstand der AfD findet das alles jedenfalls auch nicht mehr normal und gibt zumindest nach außen hin vor, die Berater-Affäre aufklären zu wollen. Zu diesem Zweck wurde eine Untersuchungskommission ins Leben gerufen.
Die aus Bundesvorstandsmitgliedern und Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern der Bundesgeschäftsstelle bestehende Kommission will alle Landtags- und Bundestagsmitglieder der AfD anschreiben, um sie nach Kontakten zu Rohrböck zu befragen. Ebenso sollen künftig Compliance-Regeln gelten, heißt es von Bundesschatzmeister Carsten Hütter auf taz-Anfrage. In den Regeln sollen demnach Verhaltensrichtlinien für Abgeordnete festgelegt werden - etwa, dass Mandatsträgerinnen, Mandatsträger etwaige Zuwendungen offen legen.
Hütter selbst will keinen Kontakt zu Rohrböck gehabt haben, geht aber von bis zu 30 Abgeordneten aus, die mit Rohrböck vernetzt seien. Er sagt: "Es gab sehr viele Mitglieder, die auf Grund der Berichte irritiert waren." Er werde sich dafür einsetzen, "möglichst transparent aufzuklären, was dort passiert ist". Für ihn gebe es allerdings noch keine Belege für finanzielle Zuwendungen oder Vorteile. Angesprochen auf belegte Aufenthalte im Luxus-Hotel entgegnete Hütter: "Das sind Ausnahmen, die auch von einer gewissen Naivität in einer jungen Partei zeugen."
Tino Chrupalla, der im Osten verankerte Spitzenkandidat neben Alice Weidel, gibt sich bisher zugeknöpft. Er sagte der taz: "Für Antworten ist es noch zu früh." Die Untersuchungskommission sei gerade erst eingerichtet worden und werde allen Fragen nachgehen, die sich im Zusammenhang mit der Affäre stellten.
Übrigens: Rohrböck soll ebenso versucht haben, Verbindungen zu anderen Parteien neben der AfD aufzubauen. Er scheiterte demnach bei der Linken und den Piraten. Guten Kontakt soll Rohrböck hingegen zu einer anderen rechten Partei haben: Er soll Beziehungen zu NPD-Funktionären pflegen, etwa dem Bundesvorsitzenden Frank Franz.
Bildunterschrift: Dubios: Die Hälfte der AfD-Bundestagsabgeordneten soll Kontakt zu Tom Rohrböck gepflegt haben.
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Mitteldeutscher Rundfunk, 15.07.2021:
"Parteischädigendes Verhalten" / AfD strebt Ausschluss des Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel an
15.07.2021 - 10.00 Uhr
Von Bastian Wierzioch und Sebastian Kaiser, MDR Thüringen
Wegen parteischädigenden Verhaltens soll Dirk Spaniel die AfD verlassen. Derzeit lässt der Landesvorstand in Baden-Württemberg prüfen, ob ein Parteiausschlussverfahren gegen den Bundestagsabgeordneten erfolgreich wäre.
Der Landesvorstand der AfD in Baden-Württemberg lässt bei einer Anwaltskanzlei die Erfolgsaussichten eines Parteiausschlussverfahrens gegen den Bundestagsabgeordneten und ehemaligen baden-württembergischen AfD-Landeschef Dirk Spaniel prüfen. Das bestätigten mehrere AfD-Funktionäre auf Anfrage.
Spaniel selbst teilte mit, dass er darüber bisher vom Landesvorstand weder informiert noch dazu befragt worden sei. Nach Recherchen von MDR Thüringen und der Badischen Zeitung ist der Anlass für die Prüfung ein parteiinterner Brief Spaniels, in dem er Alice Weidel, die derzeitige Landeschefin in Baden-Württemberg und Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl, kritisierte. In dem Schreiben ging es um Weidels Umgang mit illegalen Spenden aus der Schweiz.
Spaniels kritischer Brief
Im Jahr 2017 waren rund 132.000 Euro in 17 Tranchen auf dem Konto von Weidels Kreisverband Bodenseekreis eingegangen. Weil die Partei das illegale Spendengeld nicht unverzüglich zurück überwiesen hatte, verhängte die Bundestagsverwaltung eine Strafzahlung in Höhe von 396.000 Euro. Dagegen klagte die Partei vor dem Berliner Verwaltungsgericht und verlor.
In seinem Schreiben bezeichnete Spaniel dieses Gerichtsverfahren als "sinnlos". Zudem warf er Weidel mit Blick auf die gesamte Aufarbeitung der Spendenaffäre "Vertuschung", "völlige Intransparenz", sowie "fehlenden Willen zur internen Aufklärung" vor. Alice Weidel wies Spaniels Vorwürfe entschieden zurück und bezeichnete sie als "haltlos".
Dauerstreit um unerwünschte Kontakte Spaniels
Querelen um den erbitterten Weidel-Gegner und ehemaligen Automobil-Manager Spaniel beschäftigen die AfD seit Längerem. So hatte der AfD-Bundesvorstand bereits vor eineinhalb Jahren bei einer Anwaltskanzlei in Essen ein juristisches Gutachten über Spaniels Verhalten in der Partei in Auftrag gegeben. Bei dieser Prüfung, über die zuerst "Die Zeit" berichtet hatte, war es um Spaniels Nähe zum Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke sowie zum "Flügel" gegangen.
Die offiziell aufgelöste AfD-Parteiströmung wird vom Bundesamt für Verfassungsschutz inzwischen als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" eingestuft. Missfallen hatten dem Bundesvorstand zudem Spaniels Kontakte zu der Gewerkschaft "Zentrum Automobil" sowie zum extrem rechten "Compact"-Magazin.
Auf Grund des Essener Gutachtens beschloss der AfD-Bundesvorstand im April des vergangenen Jahres, beim Landesschiedsgericht Baden-Württemberg eine zweijährige Ämtersperre gegen Spaniel zu beantragen. Dieses Parteiordnungsverfahren, teilte ein Sprecher der AfD-Bundesgeschäftsstelle in Berlin auf MDR-Anfrage mit, sei beim Landesschiedsgericht anhängig, bislang aber noch nicht entschieden. Nun könnte also ein zweites Verfahren hinzukommen - je nachdem wie die Einschätzung der vom baden-württembergischen AfD-Landesverband beauftragten Rechtsanwaltskanzlei über Dirk Spaniel ausfallen wird.
Bildunterschrift: Der AfD-Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel.
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Frankfurter Rundschau Online, 15.07.2021:
Weg von der "Diktatur" / Xavier Naidoo, Bodo Schiffmann und Co.: Verschwörungstheoretiker zieht es ins Ausland
15.07.2021 - 10.59 Uhr
Von Sina Alonso Garcia
Verschwörungstheoretiker wie Xavier Naidoo entdecken aktuell das Ausland für sich - dort sind sie weit weg von der "Diktatur Deutschland".
Marbella. Bereits im April 2021 wurde bekannt: Sänger Xavier Naidoo ist offenbar in Spanien untergetaucht. Auf einem Telegram-Foto erkannten Naidoos Follower die andalusische Stadt Marbella. Er ist nicht der einzige Kritiker der Corona-Maßnahmen, der ins Ausland flüchtet: Vegan-Koch Attila Hildmann hat es in Folge eines Haftbefehls in die Türkei verschlagen, den Querdenker-Arzt Bodo Schiffmann nach Afrika. In dem SWR3-Satire-Format Walulis Story nimmt Moderator Philipp Walulis die "Querdenker und anderen Schwurbler" auf die Schippe. "Die Corona-Kasper ziehen jetzt hinaus in die Welt - in die Freiheit", so Walulis. Wie BW24 berichtet, flüchten Xavier Naidoo, Ken Jebsen & Co. ins Ausland.
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Berliner Morgenpost Online, 15.07.2021:
Corona / Antisemitismus: Anzeige gegen "Querdenker"-Prof. Bhakdi
15.07.2021 - 11.37 Uhr
Der Arzt Sucharit Bhakdi ist bei Querdenkern und Corona-Kritikern beliebt. Nun ist er auch mit antisemitischen Aussagen aufgefallen.
Berlin.
Der Mediziner Sucharit Bhakdi verbreitet Unwahrheiten oder nicht belegbare Theorien über Corona, Todeszahlen und die Impfung
Bei Querdenkern ist der Bundestagskandidat sehr beliebt
Nun ist er auch mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen - seine Partei sieht kein Problem
Der Arzt und Corona-Kritiker Sucharit Bhakdi hat mit antisemitischen Aussagen in einem Video-Interview für einen Skandal gesorgt. Als Antwort auf die bereits absurde Frage, ob es sich bei der Impf-Kampagne der Bundesregierung um kalkulierten Mord handele, verbreitete Sucharit Falschaussagen über einen angeblichen Impf-Zwang in Israel. "Sie haben ihr eigenes Land in etwas verwandelt, das noch schlimmer ist als Deutschland (während der nationalsozialistischen Diktatur. Anmerkung der Redaktion) war", sagte Bhakdi. Das Schlimme an den Juden sei, dass sie sehr gut lernen würden. "Aber sie haben das Böse jetzt gelernt", so Bhakdi weiter.
Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter wurde der entsprechende Ausschnitt des Interviews geteilt und hunderttausendfach angesehen. Der Sturm der Entrüstung ist groß. Der Antisemitismus-Beauftragte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, hat Strafanzeige gegen Bhakdi wegen Volksverhetzung gestellt. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat den Erhalt der Anzeige bestätigt. Es werde derzeit überprüft, ob auf Grund der Aussagen Bhaktis Ermittlungen eingeleitet werden müssen. "Dass ein ehemals führender, intelligenter und sogar ausgezeichneter Mediziner so etwas von sich gibt, erschreckt mich", sagte Königsberg unserer Redaktion. "Es zeigt aber auch, dass Antisemitismus bei höher gebildeten Menschen durchaus gang und gäbe ist."
Bhakdi ist ein Star in der "Querdenker"-Szene
Bhakdi ist Facharzt für medizinische Mikrobiologie und war bis zu seinem Ruhestand als Professor an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz tätig. Do leitete er bis 2012 das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene. Seit Beginn der Corona-Pandemie ist Bhakdi mehrfach als Kritiker der Corona-Maßnahmen in Erscheinung getreten. Zudem verharmloste er in Interviews und Videos die Gefährlichkeit des Corona-Virus, verbreitete nicht belegbare oder falsche Thesen und wurde zum Impf-Gegner. Schnell erlangte er mit seinen Aussagen Berühmtheit und Beachtung in der "Querdenker"-Szene.
Laut dem Antisemitismus-Beauftragten des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, soll Bhakdi auch bereits mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen sein. Er habe einer deutschen Ministerin jüdischer Herkunft wegen der Masken-Pflicht die Vergiftung von Kindern durch CO2 vorgeworfen, schrieb Blume in einem Gastbeitrag für die "Zeit" im April dieses Jahres.
Auch andere "Querdenker" fallen mit antisemitischen Aussagen auf
Das nun aufgetauchte Video-Interview mit den antisemitischen Aussagen wurde laut Angabe der Produzenten ebenfalls im April dieses Jahres aufgenommen. Der ehemalige Sportfotograf Kai Stuht hat das Interview geführt und jetzt auf seiner Website veröffentlicht. Stuht gehört seit längerem zur "Querdenker"-Bewegung und nahm an mehreren Corona-Demonstrationen teil. Auf seiner Website finden sich auch Interviews mit dem "Querdenken"-Gründer Michael Ballweg, dem Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen sowie dem "Querdenker" und Arzt Bodo Schiffmann. Gegen Schiffmann ermittelt die Heidelberger Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung.
Königsberg sieht eine enge Verbindung zwischen der "Querdenker"-Bewegung und antisemitischen Aussagen in deren Umfeld. Die Organisatoren hinter den "Querdenken"-Protesten hätten nie dafür gesorgt, dass Reichsbürger und Rechtsextreme von den Demos verbannt wurden, so Königsberg. "Bereits bei so genannten Hygiene-Demos im April 2020 wurden der gelbe Stern getragen und so der Holocaust bagatellisiert."
Durch die Tolerierung habe man der Verbreitung von antisemitischen Ansichten und Unwahrheiten Tür und Tor geöffnet. Kritik oder Widerspruch habe innerhalb der Bewegung nicht stattgefunden. "Die Aussagen von Herrn Bhakdi sind jetzt eines der Ergebnisse davon", sagt Königsberg.
"Die Basis" weist Vorwürfe gegen Mitglied Bhakdi zurück
Bhakdi kandidiert für die Partei "Die Basis" als Bundestagskandidat. Die Partei ist im Zuge der "Querdenken"-Proteste als Nachfolger der Bewegung "Widerstand 2020" entstanden. Die Verbindung zu den teils vom Verfassungsschutz beobachteten "Querdenker"-Szene gilt als eng. "Die Basis" selbst sieht in den Aussagen Bhakdis keinen Antisemitismus, wie sie auf Twitter mitteilte. Dabei handele es sich um eine "absurde Unterstellung".
Neben Sucharit kandidieren bei der Bundestagswahl 2021 auch andere "Querdenker"-Ikonen wie der Arzt Wolfgang Wodarg oder der Rechtsanwalt Reiner Fuellmilch für "Die Basis". Fuellmilch nahm als Redner an "Querdenken"-Protesten teil und verglich die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung mit dem Holocaust.
Verlag beendet Zusammenarbeit mit Bhakdi
Neben seiner Tätigkeit für "Die Basis" ist Bhakdi zusammen mit seiner Ehefrau Karina Reiß auch als Autor tätig. In ihren Büchern, die teilweise Bestseller waren, verbreitete das Paar ebenfalls mindestens strittige Thesen zur Corona-Pandemie.
Auf Grund seiner antisemitischen Aussagen hat der Verlag Goldegg nun aber die Zusammenarbeit mit Bhakdi und Reiß beendet, wie die Deutsche Presse-Agentur mitteilt. (jas mit dpa)
Bildunterschrift: Im Interview mit Kai Stuht verbreitete der Mediziner Sucharit Bhakdi antisemitischen Aussagen für einen Skandal.
Bildunterschrift: Dr. Karin Reiss und Dr. Sucharit Bhakdi, eingeblendet auf einer Videoleinwand während einer Kundgebung auf dem Domplatz in Magdeburg.
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Der Tagesspiegel Online, 15.07.2021:
Rechte Chat-Gruppen bei der Berliner Polizei / Grüne fordern Überprüfung der Amtshandlungen verdächtiger Beamter
15.07.2021 - 19.06 Uhr
Die Grünen warnen vor dem Einfluss rassistischen Gedankenguts auf die Arbeit der Polizei. Die Linken sehen Verbindungen zur Anschlagsserie in Neukölln.
Von Madlen Haarbach
Es ist bereits die dritte Chat-Gruppe mit rassistischen und rechtsextremen Inhalten, die bei Berliner Polizistinnen, Polizisten entdeckt wurde. Gleichzeitig wirkt sich der Fall womöglich auch auf die Ermittlungen in der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln aus.
Nachdem die Polizei am Mittwoch Wohnungen und Dienstadressen von fünf beteiligten Polizistinnen, Polizisten durchsuchte, wollen Grüne und Linke die Ermittlungen nun im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses thematisieren.
Die Grünen fordern eine Überprüfung der bisherigen Amtshandlungen der betroffenen Polizistinnen, Polizisten. Der Verdacht: Wer verfassungsfeindliche und menschenverachtende Inhalte mit Kolleginnen, Kollegen austauscht, verhält sich womöglich auch während der Dienstzeit nicht "maßvoll und neutral", sondern lässt sich vielleicht von seiner offenbar rechtsextrem geprägten Grundhaltung leiten.
Die Grünen–Abgeordneten June Tomiak und Benedikt Lux haben eine schriftliche Anfrage an den Innenausschuss gestellt, die in der Sitzung am 16. August thematisiert werden soll. Darin fragen sie unter anderem auch nach dem genauen Ablauf der Ermittlungen, weiteren Details zu den verdächtigten Polizistinnen, Polizisten und ob die fünf Beamtinnen, Beamten Kontakte zu bekannten Rechtsextremen hatten.
"Es ist wichtig, dass Polizisten, die einer solchen Chat-Gruppe hinzugefügt werden, entsprechende Inhalte nicht dulden", sagte Benedikt Lux dem Tagesspiegel. "Zusehen heißt mitmachen." Er kenne aus seiner beruflichen Praxis als Anwalt und Politiker Fälle, bei denen etwa Menschen mit Migrationshintergrund von Polizistinnen, Polizisten nicht neutral behandelt worden seien. Daher fordert er, dass alle bisherigen Amtshandlungen der beteiligten Polizistinnen, Polizisten zumindest stichprobenartig überprüft werden sollten.
Zudem solle auch das Umfeld der Polizistinnen, Polizisten analysiert werden - denn wer rechtsextremes Gedankengut habe, vernetze sich in der Regel auch mit anderen Menschen, die ähnlich denken.
Die Chat-Gruppe war bei der Durchsuchung des Handys des Beamten Detlef M. aufgefallen, allerdings, wie die Polizei selbst sagt, eher zufällig. Gegen Detlef M. wird seit einiger Zeit wegen des Verdachts des Geheimnisverrats ermittelt: Er soll nach dem Terroranschlag am Breitscheidplatz Polizei-Interna in einer Chat-Gruppe der Neuköllner AfD verbreitet haben.
Ein Mitglied dieser Chat-Gruppe war auch der ehemalige Kreisvorstand der AfD, Tilo P. - einer der beiden Hauptverdächtigen in der rechtsextremen Anschlagsserie in Neukölln, der mindestens 72 Straftaten zugerechnet werden.
Linke bezweifelt bisherige Erkenntnisse von Ermittlungsgruppen
Speziell diese Verbindung beschäftigt die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, die ebenfalls eine Anfrage an den Innenausschuss eingereicht hat. "Wir sind verärgert. Obwohl bei den zwei Ermittlungsgruppen zum Neukölln-Komplex immer wieder die mögliche Verbindung zu Polizisten und speziell Detlef M. thematisiert wurde, hieß es stets, dass es keine Hinweise auf entsprechende Verbindungen gäbe", sagte die Abgeordnete Anne Helm dem Tagesspiegel.
Die neu entdeckte Chat-Gruppe stelle aus ihrer Sicht die Ergebnisse der Ermittlungsgruppe "Fokus" sowie der externen Expertenkommission in Frage. Es sei unklar, wie verlässlich deren Erkenntnisse seien, wenn offenbar Hinweise bislang übersehen wurden.
"Wir fragen uns auch, ob über den Beamten M. womöglich weitere Polizei-Interna, abseits des Attentats am Breitscheidplatz, an die AfD und damit auch den Hauptverdächtigen der Anschlagsserie geflossen sind", sagte Helm weiter. Linke und Grüne fordern seit längerem einen Untersuchungsausschuss zu der Anschlagsserie.
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Berliner Zeitung Online, 15.07.2021:
Berlin: Rechtsextremer Chat bei der Polizei wird Thema im Innenausschuss
15.07.2021 - 18.18 Uhr
In dieser Woche gab es erneut den Vorwurf von Rassismus bei der Polizei. In den Skandal könnten auch Verdächtige rechtsextremer Straftaten verwickelt sein.
Berlin. Nach Ermittlungen gegen eine rechte Chat-Gruppe bei der Berliner Polizei haben Mitglieder der Grünen-Fraktion einen Fragenkatalog für die nächste Sitzung des Innenausschusses Mitte August vorgelegt. Am Mittwoch waren nach dem Verdacht der Volksverhetzung Wohnungen und andere Räume von fünf Berliner Polizisten durchsucht worden.
Sie sollen in einer Chat-Gruppe mit zwölf Mitgliedern Nachrichten mit "menschenverachtenden Inhalten" verschickt haben. Das hatte die Polizei am Mittwoch selbst mitgeteilt. Weitere Einzelheiten nannte die Behörde mit dem Verweis auf das laufende Verfahren am Donnerstag nicht.
Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, und June Tomiak, Sprecherin für Verfassungsschutz, begrüßten die Ermittlungen. "Rechtsextreme Inhalte haben in der Polizei nichts zu suchen", teilten sie mit. Wer solche Ansichten unterstütze oder teile, sollte keinen Dienst mehr ausüben. Aber auch, wer in einer Chat-Gruppe solche Inhalte dulde, weder widerspreche noch austrete, sollte mindestens mit disziplinarrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen.
Rechtsextreme suchen Verbündete in Chats
Es sei bekannt, dass Rechtsextreme nach Verbündeten in den Sicherheitsbehörden suchten und "dass Teile der Polizei strukturell anfällig dafür" seien, meinen die Fraktionsmitglieder. In ihrer Frageliste für den Innenausschuss wollen Lux und Tomiak unter anderem wissen, ob die entdeckten Handy-Daten auch von mutmaßlichen Haupttätern einer rechtsextremen Straftaten-Serie in Neukölln stammen.
Denn ursprünglich war gegen einen der Polizisten wegen des Verdachts des Geheimnisverrats ermittelt worden. Dabei fand die Kriminalpolizei in dem Handy des Kollegen auch die Chat-Gruppe mit den verbotenen Inhalten. Gegen den Handy-Besitzer und vier weitere Gruppenmitglieder wurden Strafermittlungen eingeleitet, damit dann auch die Durchsuchungen.
Die weiteren Teilnehmer der Chat-Gruppe sollen selber keine Straftaten begangen haben. Allerdings prüft die Polizei bei ihnen Disziplinarmaßnahmen.
Immer wieder Nachrichten mit rassistischen Inhalten
In den vergangenen Jahren waren bei der Berliner Polizei mehrere problematische Vorfälle bekannt geworden, darunter im Oktober 2020 eine Chat-Gruppe von Polizeischülern mit 26 Mitgliedern, von denen mehrere laut Staatsanwaltschaft Nachrichten mit rassistischen Inhalten oder Hakenkreuzen austauschten.
Nach Angaben der Polizei vom Donnerstag liefen mit Stand Ende Juni in der Behörde 15 Strafverfahren wegen des Verdachts politischer Motivation. Dazu kamen 58 Disziplinarverfahren aus demselben Grund. Eine Entlassung aus dem Dienst sei ab einem Jahr Freiheitsstrafe möglich oder bei besonders ehrenrührigem Verhalten, sagte ein Sprecher. Dabei gehe es zum Beispiel um das Annehmen von Geld. Bei der Berliner Polizei arbeiten insgesamt rund 26.000 Polizeibeamte und Angestellte.
Bildunterschrift: Benedikt Lux, innenpolitischer Sprecher der Grünen in Berlin, fordert Aufklärung. Der Abgeordnete will wissen, ob verdächtige Rechtsextremisten Kontakt zu den Polizisten hatten.
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Blick nach Rechts, 15.07.2021:
Wieder rechte Chat-Gruppe bei Berliner Polizisten
Von Theo Schneider
Durchsuchungen bei fünf Berliner Polizisten machten gestern eine dritte rechte Chat-Gruppe in der Behörde bekannt. Diese war ein Zufallsfund auf dem Handy eines im Neukölln-Komplex bekannten Beamten.
Gestern fanden bei fünf Berliner Polizisten Hausdurchsuchungen statt, weil sie Teil einer rechten WhatsApp-Chat-Gruppe sein sollen und dort "Nachrichten mit menschenverachtenden Inhalten versandt" hätten, wie die Pressestelle der Polizei mitteilte. Dabei soll es sich um Bilder mit rassistischen und extrem rechten Inhalten handeln, der Vorwurf lautet auf Volksverhetzung und das Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole.
Insgesamt bestand die Chat-Gruppe aus zwölf Teilnehmern, die übrigen Mitglieder sollen aber selbst keine Straftaten begangen haben. Gegen sie werden aber Disziplinarmaßnahmen geprüft, heißt es. Die Durchsuchungen gestern fanden in Kleinmachnow, Königs Wusterhausen, Schöneiche und Berlin sowie zwei Dienststellen der Beschuldigten statt. Laut Berliner Zeitung sollen die meisten Tatverdächtigen aus der Direktion 3 (Ost), zuständig für die Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick, stammen. Ihre Handys wurden beschlagnahmt.
Chat-Gruppe war Zufallsfund
Aufgeflogen war der rechte Chat nur durch Zufall bei der Handy-Auswertung in einem anderen Verfahren, das wegen des Verdachts des Geheimnisverrats geführt wird. Laut verschiedenen Medien soll es sich dabei um den Fall des Neuköllner AfDlers Detlef M. handeln, der kurz nach dem islamistischen Anschlag auf dem Breitscheitplatz 2016 Polizei-Interna in einem Telegram-Chat an seine Neuköllner AfD-Kollegen weitergeleitet haben soll.
In jener Chat-Gruppe befand sich damals auch Tilo P., einer der Hauptverdächtigen der rechtsextremen Anschlagsserie in Berlin und ehemaliges Vorstandsmitglied des AfD-Bezirksverbands. Wie berichtet, beschäftigt diese Tat-Serie mit über 70 Angriffen auf politische Gegner Berlin seit 2016. Neben P. steht vor allem Sebastian Thom, ehemaliger Neuköllner NPD-Kreisvorsitzender und mittlerweile dem "III. Weg" zuzurechnen, im Fokus der Ermittlungen.
Bereits dritter Fall in Berlin
Bei der nun aufgedeckten Chat-Gruppe handelt es sich mittlerweile um den dritten Vorfall dieser Art in Berlin. Anfang Oktober 2020 wurde vom ARD-Magazin "Monitor" eine Chat-Gruppe aufgedeckt, in der mehr als 25 Berliner Beamte eine Dienstgruppe regelmäßig rassistische Inhalte verbreiteten. Ermittlungen wurden zwar aufgenommen, die den Journalisten zugespielten Informationen reichten aber nicht aus, Täter namhaft zu machen. Knapp zwei Wochen später wurde eine 26-köpfige Gruppe bekannt, in der Polizeischüler Hakenkreuze verwendet und den Holocaust verharmlost hatten. Sechs Schüler wurden in der Folge suspendiert und konnten ihre Ausbildung nicht mehr fortsetzen.
Bildunterschrift: Berliner Polizei im Einsatz (Symbolbild).
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MiGAZIN, 15.07.2021:
Menschenverachtende Inhalte / Berliner Polizei ermittelt gegen rechte Chat-Gruppe in eigenen Reihen
15.07.2021 - 05.23 Uhr
Volksverhetzung, Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole und Geheimnisverrat - eine neu gegründete Einheit ermittelt gegen fünf Berliner Polizeibeamte. Sie sollen in Chats mit weiteren Teilnehmern menschenverachtende Inhalte geteilt haben.
Gegen fünf Polizeibeamte wird in Berlin wegen mutmaßlicher Volksverhetzung und des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole ermittelt. Den Polizisten werde vorgeworfen, in einer Chat-Gruppe mit zwölf Teilnehmern Nachrichten mit menschenverachtenden Inhalten versandt zu haben, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Mittwoch in Berlin mit. Die Ermittlungen führt den Angaben zufolge die neu gegründete Ermittlungsgruppe "Zentral" beim Staatsschutz der Polizei.
Auf richterliche Anordnung seien am Mittwoch Wohn- und Aufenthaltsorte der Beschuldigten sowie zwei Dienstanschriften durchsucht worden, hieß es weiter. Die Auswertungen der Beweismittel dauerten an. Neben der strafrechtlichen Relevanz prüfe die Polizei für alle Beteiligten der Chat-Gruppe disziplinar- beziehungsweise dienstrechtliche Maßnahmen.
Die Ermittler sind den Angaben zufolge durch ein anderes Verfahren wegen Verdachts des Geheimnisverrats auf die Chat-Gruppe gestoßen. Bei der Auswertung eines Handys habe es Anhaltspunkte für weitere Straftaten gegeben, hieß es. (epd/mig)
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