17 Artikel ,
13.07.2021 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
Süddeutsche Zeitung Online, 13.07.2021:
Erinnerungskultur / Ausgrenzung beenden
Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 13.07.2021:
Antiziganismus-Bericht / Ein Bild im Kopf
Norddeutscher Rundfunk, 13.07.2021:
Der Hamburger Senat will Esther Bejarano würdigen
Hamburger Morgenpost Online, 13.07.2021:
Hamburg schuldet Esther Bejarano mehr als eine Ehrenbürgerschaft
Neues Deutschland Online, 13.07.2021:
"Hammerskins" / Brutal und an der Waffe ausgebildet
Der Tagesspiegel Online, 13.07.2021:
Neue Forschung zum Antiziganismus / "Für Sinti und Roma gab es keine Befreiung"
MiGAZIN, 13.07.2021:
Urteil im Ballstädt-Prozess / Neonazis kommen nach Deal mit Bewährungsstrafen davon
Süddeutsche Zeitung Online, 13.07.2021:
Reichsbürger im Landkreis / Post aus der Parallelwelt
Gießener Allgemeine Online, 13.07.2021:
17 Regeln für den Ausstieg
Dresdner Neueste Nachrichten Online, 13.07.2021:
Gegen den Hass / Land Sachsen fördert Projekte gegen Antisemitismus mit 579.000 Euro
hessenschau.de,13.07.2021:
EKHN und jüdische Gemeinden / Klare Haltung gegen Antisemitismus
Focus Online, 13.07.2021:
"Gemäß §1 RuStAG" / AfD-Mann lehnt Kreistagsmandat ab, weil er Reichsbürger ist
Blick nach Rechts, 13.07.2021:
Zwei Ex-Funktionäre berichten aus dem AfD-Innenleben
SauerlandKurier Online, 13.07.2021:
Dortmund: Nazi-Affäre um AfD-Mann - belastende Chat-Verläufe überschatten Wahlkampf
Bayerischer Rundfunk, 13.07.2021:
Telegram droht Ärger - bis hin zur Sperrung?
die tageszeitung Online, 13.07.2021:
Corona-Leugnung auf Telegram / Der digitale Strippenzieher
MiGAZIN, 13.07.2021:
Rechtsextremismus-Kommission / Bei hessischer Polizei kritischer Moment erreicht
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Süddeutsche Zeitung Online, 13.07.2021:
Erinnerungskultur / Ausgrenzung beenden
13.07.2021 - 18.44 Uhr
Roma und Sinti wurden im Nationalsozialismus verfolgt, entrechtet und ermordet. Und immer noch leiden sie auch in der Bundesrepublik unter Vorurteilen. Es wird Zeit, das Unrecht anzuerkennen und etwas gegen die Diskriminierung dieser Minderheit zu unternehmen.
Kommentar von Jan Bielicki
Es ist ein Ort des stillen Gedenkens. Ein kreisrundes Becken, schwarz spiegelndes Wasser, in der Mitte ein Stein, auf dem eine Blume liegt. Im Sommer schützt das Laub hoher Bäume die Ruhe um das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlins Tiergarten. Einige der Bäume könnten bald fallen. Ihre Wurzeln sind einem projektierten S-Bahn-Tunnel im Weg - nach einer Planung, die tiefbautechnisch sinnvoll sein mag, aber sehr geschichtsvergessen ist.
Die Unabhängige Kommission Antiziganismus dokumentiert die Schandtaten
Wie sehr die leidvolle Geschichte der Sinti und Roma ins Heute wirkt, war kürzlich unter der Kuppel des benachbarten Reichstagsbaus zu sehen - wenn denn jemand schauen wollte. Zu einer späten halben Stunde debattierte der Bundestag über den Bericht der von ihm selbst eingesetzten Unabhängigen Kommission Antiziganismus. Es war eine durchaus würdige Aussprache, nur ein AfD-Abgeordneter pöbelte mit einem unsäglichen Lamento darüber, Menschen der Minderheit künftig womöglich nicht mehr mit dem Z-Wort beleidigen zu dürfen. Aber die öffentliche Aufmerksamkeit war schwach, der Himmel über Berlin schon dunkel - was zwar zum düsteren Inhalt des Berichtes passte, aber dessen Bedeutung keineswegs angemessen war.
Es ist darum richtig, dass Innenminister Horst Seehofer den Bericht nun noch einmal bei Tageslicht vorstellte. Denn diese 500 Seiten sind ein historisches, ein wirklich erschütterndes Dokument. Sie dokumentieren einen der schändlichsten Aspekte der deutschen und leider auch der bundesrepublikanischen Geschichte.
Die Deutschen blenden das Jahrhundert-Verbrechen an den Roma und Sinti aus
Es geht dabei natürlich um den Porajmos, wie das schreckliche "Verschlingen" auf Romanes heißt, der Völkermord, bei dem eine sechsstellige Zahl von Sinti und Sintize, Roma und Romnja, Männer, Frauen und Kinder der Rassenideologie der Nazis zum Opfer fielen, vergast, erschossen, erschlagen, verschleppt und ausgehungert. Es war ein Jahrhundert-Verbrechen, doch bis heute hat es sich leider noch nicht wirklich in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt.
Denn da gab es noch das große Unrecht nach der monströsen Untat. Für die Überlebenden, ihre Verwandten und ihre Nachkommen ging es in der Bundesrepublik (und in der DDR) weiter mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Stigmatisierung. Das Land der Täter versagte ihnen viel zu lange die Anerkennung der erlittenen Verfolgung, jede noch so schäbige Entschädigung, die Rückgabe des geraubten Eigentums, ja sogar ihrer deutschen Staatsbürgerschaft. Es war eine Schande, und sie ist noch keineswegs vollständig beseitigt.
Je nach Studie hegt immer noch jeder fünfte bis jeder zweite Deutsche harsche antiziganistische Vorurteile gegen Mitbürger, die sich als Sinti oder Roma zu erkennen geben. Und das kann mörderische Folgen haben: Unter den neun Opfern des rassistischen Mordanschlags von Hanau vor gut einem Jahr waren eine Romni und zwei Roma.
Umso wichtiger und nötiger ist es, den Empfehlungen der Kommission baldmöglichst zu folgen. Wenn wie vorgeschlagen ein eigenes Gremium die zweite Verfolgung der Sinti und Roma in der Bundesrepublik ins Bewusstsein der Deutschen holt, wenn ein Bundesbeauftragter beständig seinen Finger auf die offene Wunde des nach wie vor grassierenden Antiziganismus legt, kann das nur helfen. Denn darum geht es: das Unrecht sichtbar zu machen. Das vergangene, um daraus lernen, das gegenwärtige, um es bekämpfen zu können.
Bildunterschrift: Mahnmal für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma am Reichstag in Berlin.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 13.07.2021:
Antiziganismus-Bericht / Ein Bild im Kopf
13.07.2021 - 17.14 Uhr
Von Helene Bubrowski, Berlin
Sinti und Roma werden in Deutschland verbreitet als Fremde wahrgenommen. Wie weit die Diskriminierung reicht, hat nun eine Kommission analysiert - und der Politik einige Vorschläge unterbreitet.
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, hat am Dienstag auch eine positive Botschaft parat. Im Kampf gegen Antiziganismus sei auf politischer Ebene viel geschehen, das vor dreißig oder vierzig Jahren unvorstellbar gewesen sei, sagte Rose.
Die Diskriminierungen durch staatliche Institutionen sei zurückgegangen, Sinti und Roma seien als nationale Minderheit anerkannt, sagte Rose und hob hervor, dass unweit des Reichstags in Berlin das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas stehe. Die Bundesregierung gelte international als "beispielhaft".
Die Fortschritte in der Politik fehlten aber noch in der Gesellschaft. "Wir werden als Fremde wahrgenommen", so Rose. Er nannte zwei Beispiele: In Bremen gebe es in einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft die interne Anweisung, nicht an Sinti und Roma zu vermieten. Im Mittagsmagazin habe die Moderatorin von "Zigeunerleben" gesprochen und damit so etwas wie einen Schlendrian gemeint.
Systematisch kriminalisiert und ausgegrenzt
"Das ist ein Bild, das sitzt im Kopf", sagte Rose und wies auf eine Studie aus dem Jahr 2014, nach der 60 Prozent der Deutschen Sinti und Roma als Nachbarn oder Arbeitskollegen ablehnten. Zwischen kultureller und nationaler Identität dürfe kein Unterschied gemacht werden, so Rose, "Wir sind in erster Linie Deutsche", und zwar seit 600 Jahren.
In dieser Zeit seien Sinti und Roma oftmals die "Sündenböcke" gewesen, sagt Rose und erinnerte daran, dass 90 Prozent der damals in Deutschland lebenden Sinti und Roma von den Nationalsozialisten ermordet worden seien. Doch auch nach dem Krieg beschreibt Rose Antiziganismus als "Teil der Grundhaltung" vieler Mitarbeiter in staatlichen Einrichtungen, die die gesamte Minderheit "systematisch kriminalisiert und ausgegrenzt" hätten. Er nennt hier insbesondere das Bundeskriminalamt, das sich aber mittlerweile mit seiner Geschichte auseinandergesetzt hat.
Rose warnt davor, sich an den falschen Stellen zu verkämpfen. Das Gedenken an die Opfer des Völkermordes sei, "um es in aller Deutlichkeit zu sagen, etwas völlig anderes als der Streit um Zigeunersauce oder den "Zigeunerbaron" von Johann Strauss". Ein solcher Streit ziehe "die Auseinandersetzung mit den oftmals massiven Diskriminierungen ins Lächerliche".
Forderung nach Untersagung von Abschiebungen
Anlass für Roses Worte war das Gutachten einer von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission, das er am Dienstag zusammen mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) vorstellte. Die Kommission empfiehlt unter anderem die Einsetzung eines Beauftragten gegen Antiziganismus und den Abschluss eines Staatsvertrags zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Sinti und Roma. Aus Roses Sicht müsse das Ziel eines Staatsvertrags sein, dass sich die Bundesregierung "zu Sinti und Roma als festem Teil der deutschen Gesellschaft bekennt" und ihnen eine "gleichberechtigte Teilhabe" zusichere.
Aus Seehofers Sicht ist ein Staatsvertrag "notwendig", allerdings in einer Legislaturperiode nicht mehr zu schaffen. Auch für die Forderung nach einem Beauftragten gegen Antiziganismus äußerte er Sympathie. Andere Mitglieder der Bundesregierung sind indes der Meinung, diese Aufgabe solle der Beauftragte gegen Rassismus wahrnehmen, der im kommenden Jahr berufen werden soll.
Der Forderung der Sprecherin der Expertenkommission, Elizabeta Jonuz, dass Abschiebungen von Sinti und Roma in Ermangelung sicherer Herkunftsländer per se untersagt werden sollten, wollte sich Seehofer "in dieser Pauschalität" nicht anschließen. Die Frage der Abschiebung müsse immer mit Blick auf die konkrete Situation im Herkunftsstaat beantwortet werden.
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Norddeutscher Rundfunk, 13.07.2021:
Der Hamburger Senat will Esther Bejarano würdigen
13.07.2021 - 16.12 Uhr
Nach dem Tod von Esther Bejarano will der Hamburger Senat die Auschwitz-Überlebende und Kämpferin gegen Rassismus würdigen. Momentan prüft er, ob und wo es eine Esther-Bejarano-Straße oder einen Esther-Bejarano-Platz in der Stadt geben wird.
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) unterstützt diesen Vorschlag, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer am Dienstag auf der Landespressekonferenz. "Der Senat hat Esther Bejarano heute noch einmal gedacht", so Schweitzer. Sie sei eine außergewöhnliche Person gewesen. Für die Würdigung und Ehrung ihrer Leistung werde der Senat entsprechende Möglichkeiten schaffen. "Der Senat wird prüfen, wie diese Würdigung erfolgen kann und welche Straße oder welcher öffentliche Platz sich hierfür eignet", ergänzte er.
Boeddinghaus: "Bejarano war ein Vorbild"
Die Hamburger Linksfraktion hatte am Montag gefordert, Esther Bejarano mit einer Straße, einem Platz oder auch einer Schule zu ehren. Sie war am Sonnabend im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben. Bejarano sei ein Vorbild mit ihrer Haltung, ihrem Engagement und auch mit ihrem Optimismus, hatte die Hamburger Linken-Fraktionsvorsitzende Sabine Boeddinghaus gesagt. "Sie hat ihre Stimme genau deshalb mit einer unglaublichen Kraft erhoben gegen alle Formen rechter Hetze und Gewalt. Hamburg hat ihr so viel zu verdanken - es ist nur angemessen, wenn der Senat nun rasch handelt und einen wichtigen Ort oder eine Schule in unserer Stadt nach Esther Bejarano benennt", so Boeddinghaus.
Eine Esther-Bejarano-Schule ist wahrscheinlich
Auch stehen die Chancen gut, dass es in Zukunft eine Esther-Bejarano-Schule in Hamburg geben wird. Ihr Name steht bereits auf einer Liste für neue Schulnamen. Die Schulbehörde hatte im vergangenen Jahr dazu aufgerufen, Vorschläge zu machen. Denn in den kommenden zehn Jahren entstehen 44 neue staatliche Schulen in Hamburg. Mehr als 700 Namensvorschläge gingen bei der Behörde ein - darunter eben auch der Name von Esther Bejarano. Es könnte aber auch die Schulkonferenz einer bestehenden Schule beschließen, sich nach der Antifaschistin umzubenennen.
Gedenken an Esther Bejarano
Das Auschwitz-Komitee hatte Bejarano am Sonntag am Platz der Bücherverbrennung in Hamburg gedacht. Freunde und Bekannte legten Blumen nieder und stellten Kerzen auf. Nach der Nachricht über ihren Tod am Sonnabend gab es zahlreiche Würdigungen durch Vertreterinnen und Vertreter aus der Zivilgesellschaft und der Politik. "Mit dem Tod von Esther Bejarano verliert Hamburg eine außergewöhnliche Bürgerin, die sich bis ins hohe Alter für das Gemeinwohl engagierte", sagte Hamburgs Bürgermeister Tschentscher laut einer Mitteilung am Sonnabend. Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) erklärte: "Hamburg und Deutschland haben einen ganz besonderen Menschen verloren. Darüber bin ich sehr traurig." Bejarano habe wie kaum jemand an die Gräuel der NS-Verbrechen erinnert und jahrzehntelang Menschen aller Altersgruppen für dieses Thema wachgerüttelt.
Musikerin und Auschwitz-Überlebende
Bejarano hatte das NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt, weil sie dort im Mädchenorchester spielte. Später gründete sie das Auschwitz-Komitee in Deutschland. Bis ins hohe Alter engagierte sie sich gegen das Vergessen und gegen Rechtsextremismus. Hierfür besuchte sie auch zahlreiche Schulen und erzählte Kindern und Jugendlichen von ihrem Leben.
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Hamburger Morgenpost Online, 13.07.2021:
Hamburg schuldet Esther Bejarano mehr als eine Ehrenbürgerschaft
13.07.2021 - 12.41 Uhr
Pastor Ulrich Hentschel wirft den Regierenden in Hamburg vor, viel zu wenig auf die Auschwitz-Überlebende gehört zu haben, die am vergangenen Samstag im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Sein Standpunkt in der MOPO:
Mit Mathias Petersen äußerte immerhin ein prominentes SPD-Mitglied öffentlich seine Scham, dass seine Partei nicht willens war, Esther Bejarano zur Hamburger Ehrenbürgerin zu machen. Welche Gründe mag es dafür geben? Kann es sein, dass Senat und Bürgerschaftsfraktionen diese unbeugsame Zeitzeugin weniger verehrten als jetzt in den zahlreichen Trauerbekundungen behauptet?
Esther Bejarano: Die "unerschütterliche Stimme" gegen Rassismus und Antisemitismus
Denn Esther Bejarano war für viele Menschen bedeutsam nicht nur als Zeitzeugin für das ihr und Millionen anderer Menschen angetane Verbrechen. Sie begleitete und kritisierte auch die aktuelle Politik in Deutschland und in Hamburg. Sie hat sich nicht nur gegen die antisemitischen und faschistischen Aufwallungen (von der AfD bis zum NSU) engagiert, sondern hat auch die unzumutbaren Bagatellisierungen der Nazi-Herrschaft hierzulande durch die regierenden Parteien (ob CDU, SPD oder Grüne) angeprangert. Das eine zu preisen und das andere schweigend zu übergehen, halte ich für respektlos.
Werter Herr Bürgermeister Tschentscher, werte Damen und Herren Katharina Fegebank, Carola Veit und Carsten Brosda, Sie vermissen die "unerschütterliche Stimme" von Esther Bejarano? Hier ist sie:
Am 22. Februar 2021 protestiert Esther Bejarano mit dem Auschwitz-Komitee gegen die Planungen für den Dokumentationsort Hannoverscher Bahnhof: "Wir finden es unzumutbar, dass ein NS-Nachfolgekonzern seinen Konzernsitz nun direkt in dem Gebäude einnehmen will, in dem an die Opfer der Deportationen gedacht werden soll … Wir sagen Nein zur Vermietung an die Wintershall Dea GmbH und fordern die Aufhebung der Verträge. Haben wir den Mut und den Anstand und nehmen Rücksicht auf die Überlebenden, ihre Angehörigen und Freundinnen, Freunde."
Schon am 20. Februar 2018 unterstützte sie einen offenen Brief an die Fraktionen der Bürgerschaft, der gegen die Einführung des Luther-Reformationsfeiertages am 31. Oktober als staatlichen Feiertag protestiert und als Alternative den 27. Januar vorschlug. Seit 2019 gibt es den breit unterstützten Appell von Esther Bejarano zur Einführung des 8. Mai als Tag der Befreiung.
Am 2. Mai 2018 erhob Esther Bejarano ihre klare Stimme gegen die beschämende Reduzierung der Erinnerung durch den Hamburger Senat im ehemaligen Polizei- und Gestapo-Hauptquartier Stadthaus: "Wir aber, die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, Bund der Antifaschisten, deren Ehrenvorsitzende ich bin, und das Auschwitz-Komitee, denken an alle diejenigen, die genau wie wir sehr betroffen und unsagbar entsetzt sind, wie Hamburgs Regierenden anscheinend der Konsum wichtiger erscheint als ein ehrenvolles Gedenken."
Esther Bejarano ist tot, aber ihre klare Stimme ist nicht verstummt
Esther Bejarano muss es jetzt nicht mehr miterleben, dass gleich zwei Abgesandte des Senats dieser Kommerzialisierung bei der Eröffnung des "Gartensommers" in den Stadthöfen am Dienstag (13. Juli) ihre Aufwartung machen. In der Einladung wird nicht nur für das Hotel mit dem doppeldeutigen Namen "Tortue" geworben, sondern auch für den "Lesesaal", "in dem Sie entspannt während einer Tasse Kaffee zwischen Büchern aller Art stöbern können". In diesem entspannenden Lesesaal ist auch die Info-Ecke untergebracht, in der mit Fotos und Dokumenten an die Torturen erinnert wird, der zahlreiche Frauen und Männer des Widerstandes unterworfen wurden.
Esther Bejarano ist tot, aber ihre klare Stimme ist nicht verstummt. Sie wird von all den Frauen und Männern weitergetragen, die gemeinsam mit ihr für ihre Forderungen eingetreten sind. Ohne Esther Bejarano wird es nicht einfacher. Aber wer erwartet schon, dass der Kampf gegen Vergessen und Verdrängen leicht werden würde?
Ob späte Ehrenbürgerschaft oder die Widmung einer Straße mit ihrem Namen - jede politische und staatliche Erinnerung an Esther Bejarano wird sich daran messen lassen müssen, ob und wie sie auf ihre uneingelösten Proteste und Forderungen eingeht. Sonst sollte man es lieber lassen.
Bildunterschrift: Esther Bejarano ist am Samstag im Alter von 96 Jahren in Hamburg gestorben.
Bildunterschrift: Ulrich Hentschel (71) war bis 2010 Pastor an der St. Johannis-Kirche in Altona, arbeitete außerdem als Studienleiter für Erinnerungskultur an der Evangelischen Akademie der Nordkirche.
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Neues Deutschland Online, 13.07.2021:
"Hammerskins" / Brutal und an der Waffe ausgebildet
13.07.2021 - 21.30 Uhr
Recherche beleuchtet Neonazi-Netzwerk der "Hammerskins". Scharfe Kritik an Sicherheitsbehörden
Von Sebastian Bähr
Erneut hat die antifaschistische Recherche-Gruppe "Exif" eine umfassende Untersuchung über eine Neonazi-Organisation veröffentlicht. Dieses Mal beleuchtet sie das Agieren des klandestin agierenden Netzwerks der "Hammerskins". Es versteht sich demnach als internationale "Bruderschaft" und "Elite" der rechten Szene und versucht, die Öffentlichkeit zu vermeiden. Die Organisation militanter Rassisten schreckt laut Recherche nicht vor Gewalt und Terror zurück und bereitet sich seit Jahren auf einen "Tag X", den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung, vor. "Exif" wurde auch ein geheim aufgenommenes Video des "Hammerfestes" 2019 aus Frankreich zugespielt, dem wichtigsten Gruppentreffen des Jahres. Die Aufnahmen zeigen unter anderem den Hitlergruß gebende Massen und Auftritte von Rechtsrock-Bands.
Als eine Art Dachverband fungiert Exif zufolge die "Hammerskin Nation" (HSN). Lokale Gruppen, nach Rocker-Vorbild "Chapter" genannt, gibt es weltweit. Der HSN sind zwölf Ableger in europäischen Ländern, zehn Chapter im außereuropäischen Ausland, darunter in den USA, Neuseeland und Brasilien, sowie 13 aktive Chapter in Deutschland angeschlossen.
Gruppen existieren in mehreren Bundesländern. Das Chapter "Mecklenburg" etwa habe sich gar eine eigene Lebenswelt geschaffen. "Sie besuchen gemeinsam Aufmärsche, organisieren Kinderfeste, feiern zusammen Hochzeiten und Geburtstage, sind aktiv in Vereinen oder "Bürgerinitiativen", besitzen Immobilien und Firmen", schreibt Exif. Das lokale Netzwerk erstrecke sich von Kameradschaften über extrem rechte Parteien und Rocker-Clubs bis hin zu rechtsterroristischen Netzwerken wie "Nordkreuz". Ebenso ließen sich illegaler Waffenbesitz, "Wehrsport" und Schießtrainings im Schützenverein belegen.
Als "tonangebend" gelten dem Recherche-Team die Chapter "Westwall" und "Sarregau". Ersteres umfasst die südwestdeutsche Gegend vom Odenwald bis ins Saarland, wobei sich 2019 im Saarland noch eine eigene Gruppe gründete. "Immer wieder schaffen sich die südwestdeutschen "Brüder" Treffpunkte, die auch der europäischen Struktur als Anlaufstellen dienen", schreibt Exif.
Die Gegend von Bremen bis in den Ruhrpott wird vom Chapter "Westfalen" betreut. Dieser Gruppe können rund fünfzehn Personen zugerechnet werden. Das "Infoportal Antifaschistischer Gruppen aus Bochum" hatte jüngst erklärt, dass zwei Mitglieder für die Stadt Bochum arbeiten würden. Einer sei als Gartenlandschaftsbauer bei den Technischen Betrieben der Stadt tätig, der andere habe sein Büro im Tiefbauamt des technischen Rathauses. Einem weiteren Chapter in Sachsen gehört wiederum zwar nur noch eine "Handvoll" Neonazis an, diese hätten jedoch in der Szene "höchstes Ansehen als "verdiente politische Soldaten"".
Nach Einschätzung der Antifaschisten geht von den Hammerskins große Gefahr aus. 2012 ermordete in den USA ein Mitglied sieben Menschen, in Deutschland hatten im Netzwerk organisierte Neonazis enge Bezüge zum NSU-Komplex und zu den "Hells Angels". Darüber hinaus waren Mitglieder in zahlreichen anderen Fällen mit Waffentrainings, rassistischen Übergriffen und Gewalt aufgefallen. 2011 überfiel eine Gruppe von Hammerskins auf einem Gartengrundstück in Winterbach in Baden-Württemberg neun Migranten. Diese flohen in eine Gartenhütte, die daraufhin angezündet wurde. Sie konnten sich in letzter Sekunde retten, leiden aber noch heute unter den Folgen des Angriffs.
Umso bemerkenswerter scheint, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz trotz dieser Gewaltbereitschaft in seinem letzten Bericht die Hammerskins mit keinem einzigen Wort erwähnt. "Staatliche Institutionen, die sich auf die Fahne schreiben, das "Frühwarnsystem der Demokratie" zu sein, verharmlosen seit 30 Jahren diese Struktur. Auch, um etliche ihrer V-Leute - von denen bereits eine Handvoll aufgeflogen sind - zu schützen", erklärt Exif. Die Notwendigkeit eines Verbots der Organisation liegt für die Recherche-Gruppe auf der Hand. "Schaut man aber auf das Verhältnis der Geheimdienste zu den Hammerskins, wird klar, dass weder der Wille besteht, die Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu informieren, noch das Handeln der Gruppe zu unterbinden."
Auch in der Linkspartei gibt es Unmut über den Unwillen zum Handeln. "Die Hammerskins finden im letzten Verfassungsschutzbericht keine Erwähnung, obwohl sie extrem gut organisiert, hoch vernetzt, militant und bewaffnet sind", sagte die Bundestagsabgeordnete Martina Renner gegenüber "nd". Der Recherche des Exif-Kollektivs sei es zu verdanken, dass das Netzwerk und seine Organisationsstruktur nun umfassend offen liege. "Das zeigt, dass auf den deutschen Staat bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus und rechtem Terror kein Verlass ist", moniert Renner. Es brauche stattdessen eine "Sicherheitspolitik von links", die das Gefahrenpotenzial rechter Netzwerke endlich ernst nimmt und konsequent bekämpft.
Lorenz Blumenthaler von der Amadeu Antonio Stiftung zeigte sich ebenfalls besorgt. "Bei den Hammerskins handelt es sich um eines der gefährlichsten Netzwerke überhaupt: Die mehr als 150 Mitglieder in Deutschland sind brutal, an der Waffe ausgebildet und für die Gewalt auf der Straße trainiert. Dennoch interessierten sich die deutschen Sicherheitsbehörden bisher kaum für sie", sagte der Referent für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung gegenüber "nd". "Streng hierarchisch und konspirativ organisiert, entfalten sie mit der zentralen Figur Malthe R., der sich anders als andere Szene-Größen nicht als Rampensau gibt, eine besondere Schlagkraft und können deswegen auf einen großen Kreis, oftmals auch älterer Unterstützender zurückgreifen", so die Einschätzung des Referenten.
Auch Blumenthaler kritisiert, dass die Hammerskins bisher nicht in den Verfassungsschutzberichten auftauchten, "trotz oder vielleicht sogar wegen aktiver V-Männer" in ihren Strukturen. "Man könnte fast sagen, sie wurden aktiv geschont", sagt Blumenthaler. Hier müsse radikal gegengesteuert werden, und das nicht nur durch ein Verbot. "Vielmehr müssen Mitglieder ermittelt, Haftbefehle vollstreckt und die weitläufigen Organisationsstrukturen ausermittelt und zerschlagen werden." Dass ein einfaches Verbot nicht ausreicht, zeige das Verbotsverfahren gegenüber "Combat 18" und "Blood and Honour": "Die betroffenen Organisationen konnten sich ewig auf ein solches Verbotsverfahren vorbereiten und auch die etablierten rechtsextremen Netzwerke bestehen nach wie vor."
Bildunterschrift: Fundstücke einer Razzia bei den "Hammerskins" 2002 in Dresden.
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Der Tagesspiegel Online, 13.07.2021:
Neue Forschung zum Antiziganismus / "Für Sinti und Roma gab es keine Befreiung"
13.07.2021 - 17.50 Uhr
Der völkische Antiziganismus wirkt bis in die Gegenwart, sagen Expertinnen, Experten. Sie fordern eine lückenlose Aufarbeitung der "Zweiten Verfolgung" in der Bundesrepublik.
Von Christoph David Piorkowski
Die Hälfte der Deutschen würde Sinti und Roma gerne von den Innenstädten fernhalten. 60 Prozent attestieren ihnen einen Hang zur Kriminalität. Beinahe genauso viele Bundesbürgerinnen, Bundesbürger möchten sie ungern in der Nachbarschaft haben. Diese Zahlen der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018 haben sich bis heute kaum verändert - je nach Studie sind zwischen 26 und 55 Prozent der deutschen Bevölkerung von antiziganistischen Ressentiments durchdrungen.
In vielen Erhebungen sind Sinti und Roma die am schlechtesten beleumundete Minderheit. Dass das Problem des spezifischen Rassismus gegen Angehörige dieser Communitys in weiten Teilen der Öffentlichkeit kaum je Gehör findet, gründet wohl in eben dieser Ablehnung.
Demnach braucht es einen "grundlegenden Perspektivwechsel", eine "nachholende Gerechtigkeit" und "langfristige Teilhabekonzepte", um dem für die meisten Mehrheitsdeutschen unsichtbaren, für Sinti und Roma jedoch täglich erfahrbaren Antiziganismus entgegenzuwirken. Dies konstatierte jetzt die vom Bundestag eingesetzte "Unabhängige Kommission Antiziganismus" in einem durch 15 empirische Studien abgestützten Expertenbericht.
Genozid nicht ausreichend erforscht
Die Kontinuitäten des Antiziganismus vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart beleuchtet der zeitgleich erschienene Forschungsband "Sinti und Roma. Der Nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive".
"Für Sinti und Roma hat es im Grunde nie eine Befreiung gegeben", sagt die Heidelberger Historikerin Karola Fings, Kommissionsmitglied und Mitherausgeberin des Buches im Gespräch mit dem Tagesspiegel. Rassismus gegen Sinti und Roma sei bis heute ein viel zu wenig beachtetes Problem, der Genozid an der Minderheit noch immer nicht ausreichend erforscht und in den gängigen Erinnerungskulturen meist unterrepräsentiert.
Zwar sei der Antisemitismus die zentrale völkische Mobilisierungsideologie gewesen, "der Jude" zum Hauptfeind des NS erkoren worden - auch Sinti und Roma jedoch seien als "Artfremde" rassistisch markiert gewesen. "Ein Völkermord trifft alle Angehörigen einer Gruppe, vom Säugling bis zum Greis, dieser Art von Verfolgung waren im Nationalsozialismus nur Juden sowie Sinti und Roma ausgesetzt", sagt Karola Fings.
Unterschied zwischen Antiziganismus und Antisemitismus
Den Unterschied zwischen antisemitischem und antiziganistischem Stigma hat indes der Politikwissenschaftler Markus End beschrieben: Wo Juden vorgeworfen wurde, dass sie die Gesellschaft als heimliche Herrscher schrittweise von oben zersetzen, wurde Sinti und Roma unterstellt, sie zersetzten die Gesellschaft von unten. Das rassistische Phantasma der "Asozialität", mit dem man im Nationalsozialismus sukzessive Entrechtung, Ausgrenzung aus dem Berufsleben, totale Erfassung, Deportation, Zwangssterilisation und Vernichtung legitimierte, sei in der jungen Bundesrepublik ungebrochen übernommen worden, sagt Fings. Die Täterinnen, Täter hielten die Vorstellung aufrecht, Sinti und Roma hätten ihre Auslöschung selbst zu verantworten. "Bis heute werden für den Antiziganismus die Opfer des Hasses verantwortlich gemacht."
Wie die Forschung zeige, stünden Angehörige der Minderheit oft nach wie vor unter dem Generalverdacht, gewohnheitsmäßig kriminell zu sein. So gebe es auf behördlicher Ebene eine fortlaufende Kontinuität antiziganistischer Rassismen, sagt Fings. Im Bildungswesen und in den Gesundheitsämtern, besonders aber bei der Polizei. In den Communitys von Sinti und Roma spricht man für die Zeit nach 1945 denn auch von der "Zweiten Verfolgung".
Erfolge der Bürgerrechtsbewegung
Jenseits dieser Missstände habe die Bürgerrechtsbewegung seit den 1980er-Jahren aber durchaus emanzipatorische Erfolge erstritten, meint Fings. So markierte der Hungerstreik von elf Sinti und einer Münchener Sozialarbeiterin auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau an Ostern 1980 einen erinnerungspolitischen Wendepunkt.
Unter den "Streikenden" waren auch drei Überlebende der Konzentrationslager, die unter anderem eine gesellschaftliche Aufarbeitung des Genozids und ein Ende der nach 1945 fortgesetzten "Sondererfassung" von Sinti und Roma durch Justiz- und Polizeibehörden forderten. Schließlich lenkte das Bayerische Innenministerium ein und bekannte sich öffentlich dazu, dass Diskriminierungen verhindert werden müssten.
Die offensive Bürgerrechtsarbeit bewirkte außerdem, dass Bundeskanzler Helmut Schmidt im März 1982 eine Delegation des frisch gegründeten Zentralrats der Sinti und Roma empfing und den Völkermord offiziell anerkannte. Auch die Historiographie öffnete sich mit der 1996 publizierten Habilitationsschrift von Michael Zimmermann über "Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der "Zigeunerfrage"" allmählich dem vernachlässigten Thema.
So erklärte der seit 1982 amtierende Vorsitzende des Zentralrates, Romani Rose, jüngst bei einer Podiumsdiskussion des "Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte", dass es jene "Form der Apartheid, wie sie unsere Leute in dem demokratischen Rechtsstaat nach dem Holocaust erleben mussten", heute so nicht mehr geben würde. Trotzdem sei der Antiziganismus in Medien, Behörden und anderen Bereichen der Öffentlichkeit noch immer ein drängendes Problem.
Rassistische Kontinuität
Ein biologistischer Rassismus sei in Deutschland und anderen europäischen Ländern leider noch sehr virulent, sagt auch Fings. So unterstreicht eine Studie aus dem Bericht der vom Bundestag eingesetzten Kommission etwa die enormen Schwierigkeiten, die Sinti und Roma in den Bereichen Arbeit, Bildung und Wohnen haben.
Ungeachtet der tatsächlichen schulischen Leistungen bekämen Roma-Kinder vergleichsweise selten eine Gymnasialempfehlung, sagt Fings. Wer sich als Anwärterin auf eine Wohnung als Romnja oute, habe kaum mehr eine Chance auf den Mietvertrag. "Ganz gleich, wer die Person ist oder was sie macht - wenn rauskommt, dass sie eine Angehörige der Minderheit ist, wird dies zum bestimmenden Merkmal."
Auch wenn die Tradition des Antiziganismus bis ins Mittelalter zurückreiche, habe dieser im Nationalsozialismus eine völkische Radikalisierung erfahren, die nach 1945 weder tabuisiert noch abgelegt wurde und deren unheilvolles Erbe bis in die Gegenwart wirke.
"Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden zwar bestimmte Personen, die etwa ein Wandergewerbe unterhielten, von der Polizei als "Zigeuner" adressiert", erklärt Karola Fings. Wenn Sinti und Roma in Sportvereinen, katholischen Gemeinden oder in der Reichswehr auftraten, seien sie damals jedoch keineswegs auf Abstammung und Herkunft reduziert worden.
"Es gab eine breite sozioökonomische Differenzierung, die historische Forschung belegt, dass Sinti und Roma in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten anzutreffen waren, in der Arbeiterklasse genauso wie im Groß- oder Kleinbürgertum." Alles in allem sei die sozioökonomische Stellung von Sinti und Roma in der Weimarer Republik besser gewesen als heutzutage, sagt Fings.
Nicht von ungefähr konstatiert die Unabhängige Kommission Antiziganismus in ihrem Bericht ein "Versagen deutscher Politik, deutscher Gesetzgebungen und deren Rechtsanwendung". Die diversen empirischen Studien belegten einen institutionellen Antiziganismus von der kommunalen Verwaltung bis hin zu den Schulen.
Aufarbeitung der "Zweiten Verfolgung"
Demnach brauche es in allen Bundesländern Antiziganismus-Beauftragte, die Schaffung einer ständigen Bund-Länder-Kommission sowie eine ehrliche Aufarbeitung der "Zweiten Verfolgung" in der Bundesrepublik. Der Kampf gegen Antiziganismus müsse auf höchster politischer Ebene verankert und die Defizite einer bloß halbherzigen "Wiedergutmachung" kompensiert werden.
Unter anderem sollten geflüchtete Romnja und Roma als besonders schutzwürdige Gruppe anerkannt, Abschiebungen beendet und aus Duldungen gesicherte Aufenthalte werden, erläutert Fings die Kommissionsforderungen. Auch die Partizipation von Sinti und Roma in den öffentlich-rechtlichen Medien, in der Politik und den Behörden müsse nachhaltig gefördert werden.
"Was wir brauchen ist ein Paradigmenwechsel auf allen gesellschaftlichen Ebenen, damit die Überlebenden und ihre Nachfahren in Deutschland ein selbstbestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen können."
Bildunterschrift: Erinnerungspolitische Erfolge. Seit 2012 gibt es in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma.
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MiGAZIN, 13.07.2021:
Urteil im Ballstädt-Prozess / Neonazis kommen nach Deal mit Bewährungsstrafen davon
13.07.2021 - 05.25 Uhr
Mehr als sieben Jahre nach dem brutalen Überfall auf eine Kirmes-Gesellschaft im thüringischen Ballstädt verhängt das Landgericht Erfurt Bewährungsstrafen. Eine rechtsextreme Motivation der Neonazis verneinte das Gericht. Demonstranten skandieren "Justizskandal".
Mehr als sieben Jahre nach dem Angriff auf eine Kirmes-Gesellschaft im thüringischen Ballstädt (Kreis Gotha) hat das Landgericht Erfurt am Montag Bewährungsstrafen gegen die Täter verhängt. Sieben Angeklagte erhielten Gefängnisstrafen in Höhe von einem Jahr, zwei weitere Angeklagte in Höhe von einem Jahr und zehn Monaten - alle ausgesetzt zur Bewährung. Dem Urteil waren auf Anregung der Staatsanwaltschaft Absprachen mit den Angeklagten vorausgegangen.
Die Vorsitzende der sechsten Kammer des Landgerichts, Sabine Rathemacher, begründete zum Abschluss des Verfahrens die Absprachen ausführlich. Ohne das Angebot der vergleichsweise milden Strafen hätte es keine Geständnisse der Angeklagten gegeben. Und ohne diese Geständnisse sei die Gefahr groß gewesen, die Taten nicht beweisen zu können. Dann wären einige der Verurteilten unter Umständen ganz ohne Strafe davongekommen.
Zudem verwahrte sie sich dagegen, die Rechtsprechung sei in Thüringen auf dem rechten Auge blind. Nach Überzeugung des Gerichts habe es sich bei dem Überfall auch nicht um eine rechtsextremistische Tat gehandelt, sondern um einen Akt von Selbstjustiz.
Nazis ohne rechtsextreme Motivation
Als eine Gruppe von 16 Vermummten am frühen Morgen des 9. Februar 2014 die Kirmes-Gesellschaft überfiel und dabei mindestens zehn Menschen zum Teil schwer verletzte, habe sie aus Rache gehandelt, erklärte Rathemacher. Zuvor war eine Scheibe im so genannten Gelben Haus, einer bekannten Neonazi-Immobilie im Ort, eingeworfen worden. Mit einem "überfallartigen Rollkommando" hätten die Angreifer "die Sache ein für allemal klären wollen". Ihre Aggression richtete sich gegen die unschuldige Kirmes-Gesellschaft.
Es ist bereits das zweite Mal, das am Landgericht so argumentiert wird. Obwohl es unstrittig ist, dass alle neun Verurteilten zumindest zur Tatzeit der rechtsextremen Szene angehörten, wurde ein politischer Hintergrund vom Gericht bereits 2017 im ersten Verfahren verworfen. Die damaligen Urteile hatte der Bundesgerichtshof allerdings im Januar 2020 kassiert und eine Wiederaufnahme des Prozesses angeordnet. Gegen die Hauptangeklagten waren Haftstrafen von drei Jahren und sechs Monaten verhängt worden.
"Justizskandal"
Der zweite Prozess wurde durch Streitigkeiten mit der Nebenklage bestimmt. Die Opferanwälte stellten Befangenheitsanträge und verzichteten auf Abschlussplädoyers. In einer Erklärung nannten sie das Verfahren eine Farce, was wiederum Richterin Rathemacher erzürnte. Die Nebenklage habe ihre Mandanten und die Öffentlichkeit nie richtig über die Einwände des Bundesgerichtshofs aufgeklärt, die weit über die immer wieder vorgebrachten "Formfehler" hinausgegangenen seien, sagte sie.
Vor dem Verhandlungsort riefen Demonstranten nach dem Urteil "Justizskandal". Die Linken-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss sagte: "Auf diesen Staat, auf diese Justiz ist im Kampf gegen rechts kein Verlass." Juristisch möge das alles seine Richtigkeit haben, räumte ihr Kollege Denny Möller von der SPD ein, gesellschaftlich sei die Signalwirkung aber katastrophal.
Kein Verlass auf Justiz in Thüringen
Für Franz Zobel von der Opferberatung "ezra" steht der gesamte Prozess "symbolisch für das massive Problem der Thüringer Justiz im Umgang mit rechtsmotivierten Straftaten". Immer wieder würden in Fällen von rechter und rassistischer Gewalt Verfahren über Jahre verschleppt - zu Gunsten rechter Gewalttäter. Die rechte Tatmotivation werde zudem nur selten berücksichtigt.
Solche Gerichtsurteile zeigen nach Überzeugung Zobels, dass man in Thüringen bei der politischen Umsetzung der Empfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse weiterkommen muss. "Auf die Thüringer Justiz können sich weder die Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt noch diejenigen verlassen, die gegen die bestens organisierte Neonazi-Szene und ihre rechtsterroristischen Strukturen im Freistaat vorgehen wollen." (epd/mig)
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Süddeutsche Zeitung Online, 13.07.2021:
Reichsbürger im Landkreis / Post aus der Parallelwelt
13.07.2021 - 21.18 Uhr
Während der Corona-Pandemie bekommt die Reichsbürger-Szene bundesweit Zulauf. Gegen Mitglieder im Landkreis Ebersberg läuft derzeit ein Verfahren wegen des Verkaufs falscher Dokumente - doch die Szene ist nach wie vor aktiv.
Von Johannes Korsche, Ebersberg
Auf den selbsternannten Querdenker-Demos, die während der Corona-Pandemie mal mehr, mal weniger Leute auf die Straße brachten, war ein Utensil erstaunlich häufig zu sehen: die schwarz-weiß-rote Reichsflagge. Ein Erkennungszeichen der Reichsbürger-Szene, deren Mitglieder den Staat Deutschland in seiner heutigen Form nicht anerkennen wollen. Reichsbürger sind auch im Landkreis Ebersberg seit Jahren aktiv, besonders im Plieninger Ortsteil Landsham. Gegen die Mitglieder dieser Reichsbürger-Gruppe läuft derzeit ein Verfahren. Doch hat die Szene im Landkreis trotzdem Zulauf?
Der Verfassungsschutzbericht 2020 des bayerischen Innenministeriums führt die dort beheimatete Gruppe "Volksstaat Bayern" unter der Überschrift "sicherheitsgefährdende Bestrebungen". Die Gruppe zähle etwa 30 Mitglieder und sei vor allem in Bayern und Rheinland-Pfalz aktiv. Der "Volksstaat" habe sich im Dezember 2015 gegründet, hieß zunächst allerdings "Bundesstaat Bayern" und taufte sich erst drei Jahre später auf seinen derzeitigen Namen, heißt es weiter. Eine Umbenennung erscheint per se nicht unpassend, schließlich befinde sich der "Volksstaat Bayern" in "Reorganisation", wie es auf der Internetseite der Gruppierung heißt. Neben allerlei bekannten Reichsbürger-Argumenten findet sich auf der "Weltnetzseite", wie sich die Webseite in Frakturschrift selbst bezeichnet, auch ein heikler "Online-Shop". Bis heute können sich Reichsbürger über die Seite illegale Ausweispapiere bestellen.
Und dieser "Ausweis-Shop" ist auch Grund für Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in München. Die "führt ein umfangreiches Verfahren gegen eine Vielzahl von Mitgliedern und Beteiligten", wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft sagt. Dabei gehe es unter anderem um Urkunden-Delikte, wie das Vertreiben und Erwerben von gefälschten Personaldokumenten und Führerscheinen. Bei mehreren Hausdurchsuchungen bei Führungspersonen des "Volksstaates" - unter anderem in Pliening - seien laut Verfassungsschutz bereits Waffen, Munition, die so genannte "Staatskasse", falsche TÜV-Plaketten und Ausweispapiere sichergestellt worden. Das Verfahren "wegen des dringenden Tatverdachts der banden- und gewerbsmäßigen Urkundenfälschung sowie Amtsanmaßung" läuft demnach seit 2017. Da die Ermittlungen hierzu noch nicht "zur Gänze gegen alle Beteiligten" abgeschlossen seien, könne man keine umfassenden Auskünfte geben, ergänzt die Staatsanwaltschaft.
Liest man im entsprechenden Gesetz nach, könnte es für die Beschuldigten bei einer Verurteilung aber ernst werden. Für Urkundenfälschung kann eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren verhängt werden. Allerdings dürfte es sich bei dem Landshamer "Volksstaat" um einen besonders schweren Fall handeln, bei dem "gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande" gehandelt wurde. Dann sieht das Gesetz ein Mindeststrafmaß von sechs Monaten vor - und erlaubt bis zu zehn Jahre Haft.
Auch am Amtsgericht Ebersberg ist die Reichsbürger-Szene keine Unbekannte. Alleine seit Juli vergangenen Jahres seien insgesamt 13 Verfahren gegen Reichsbürger aus dem Landkreis Ebersberg verhandelt worden, teilt das Amtsgericht mit. Etwa die Hälfte davon in einer Hauptverhandlung, die restlichen per Strafbefehlsverfahren, bei dem das Gericht ohne Verhandlung entscheidet. Aktuell sei kein anhängiges Strafverfahren bekannt. Die Reichsbürger haben sich laut Amtsgericht hauptsächlich wegen "Urkundenfälschung in Tateinheit mit Beihilfe zur Amtsanmaßung" strafbar gemacht. Wieder lag der örtliche Schwerpunkt der Beschuldigten in Landsham. Mindestens zehn der Verfahren seien direkt den Landshamer Reichsbürgern zuzuordnen.
Immerhin scheinen die Bemühungen der Polizei und der Staatsanwaltschaft eine abschreckende Wirkung zu haben. Wie das Polizeipräsidium Oberbayern Nord, das für die Reichsbürger-Szene in Landsham zuständig ist, mitteilt, seien die Mitgliederzahlen aus Sicht der Polizei dort rückläufig. Allerdings verweist auch die Polizei auf die laufenden Ermittlungen. Das Verfahren soll laut Verfassungsschutzbericht voraussichtlich 2021 beginnen. Wie die Staatsanwaltschaft mitteilt, seien aber noch keine Verhandlungen terminiert.
Bildunterschrift: Seit 2017 laufen die Ermittlungen gegen die Reichsbürger-Szene in Landsham. An deren Umtriebe scheint das allerdings nicht viel geändert zu haben.
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Gießener Allgemeine Online, 13.07.2021:
17 Regeln für den Ausstieg
13.07.2021 - 20.03 Uhr
Wer dem Rechtsextremismus den Rücken kehren will, dem bietet das Land Hilfe an. Der Ausstieg kann Jahre dauern, denn oft müssen viele Probleme bewältigt werden, wie die Leiterin des Programms "IKARus" berichtet.
Kontaktabbruch, keine rechte Demo und kein Rechtsrock-Konzert mehr - die 17 Regeln, die Aussteiger aus der rechten Szene unterschreiben, wenn sie am Landesprogramm "IKARus" teilnehmen wollen, sind klar und streng. Im Gegenzug bietet der Staat Hilfe auf vielen Ebenen an, darunter Unterstützung bei der Suche nach Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und bei Suchtproblemen. Manche erhalten jahrelange Begleitung auf dem Weg in ein normales Leben. Ihre rechte Einstellung wurzelt oft in der Biografie, wie die Leiterin des Programms, Marion Hohmann, sagt.
"IKARus" steht für "Informations- und Kompetenzzentrum Ausstiegshilfen Rechtsextremismus" und ist dem Landeskriminalamt angegliedert. Es ist nach Angaben Hohmanns das einzige bundesweit, das zur Polizei gehört - ein Vorteil, wie die Kriminalbeamtin sagt: So könnten alle Angaben zu Straftaten direkt überprüft werden. "Wir können auch Sicherheit und Schutz bieten, wenn wir eine Person haben, die als gefährdet eingestuft ist oder bedroht wird." Dass Aussteiger vor ehemaligen Kameraden geschützt werden müssten, sei aber die Ausnahme.
Neben Leiterin Hohmann zählt "IKARus" fünf Kriminalbeamte. Die Nachfrage ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Grund sei der höhere Bekanntheitsgrad unter anderem bei den Institutionen, die mit dem potenziellen Klientel zu tun haben, wie Bewährungs- und Jugendgerichtshilfen und die Polizei selbst. Seit der Gründung im Jahr 2003 seien rund 80 ehemalige Rechtsextreme bis zum Ausstieg betreut worden. Im Schnitt würden parallel bis zu 20 Aussteiger und Aussteigerinnen beraten. Diese seien meist zwischen 20 und 35 Jahre alt, derzeit steige der Schnitt. Auch über 60-Jährige seien dabei.
Hauptsächlich handele es sich um Männer mit meist geringem Bildungsstand, oft sind sie arbeitslos. Doch auch Studenten und Hochschulabsolventen gebe es darunter. Viele Teilnehmer kommen aus zerrütteten Familien, der Vater war nicht anwesend oder gewalttätig.
"Zwar sagt man, "Ein guter Deutscher säuft nicht und nimmt auch keine Drogen", aber wir haben viele Klienten mit Alkoholproblemen oder Drogenproblem", sagt Hohmann. Zum Programm gehört ein Persönlichkeitstraining. Um szenetypische Tattoos zu ändern oder entfernen, kann es finanzielle Hilfe geben. Gegenleistung wäre dann beispielsweise Mitarbeit in einer Holocaust-Gedenkstätte.
Immer mehr Gewalt von rechts
Die Beamten gingen auch direkt auf Szene-Mitglieder zu, sagt Hohmann: "Uns ist ganz selten die Tür vor der Nase zugemacht worden." In zwei Fällen sei es bisher zum Rückfall mit einschlägigen Straftaten gekommen. Auch Abbrecher gebe es, ebenso wie Klienten, die das Programm wegen Regelbruchs verlassen mussten.
Ein Thema war "IKARus" auch beim Prozess um den rechtsextrem motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilte Angeklagte Stephan Ernst hatte davon berichtet, mit "IKARus" in Kontakt zu stehen.
Der vergangenen Oktober vorgestellte Jahresbericht des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) 2019 warnt vor steigender Gewalt von rechts und einer wachsenden Szene. In dem Jahr wurde Lübcke erschossen, auch auf einen Mann aus Eritrea war im osthessischen Wächtersbach geschossen worden. Im Jahr darauf wurden neun Menschen mit Migrationshintergrund beim rassistischen Anschlag von Hanau ermordet.
Die Zahl als gewalttätig, gewaltbereit, gewaltunterstützend und gewaltbefürwortend eingestufter Rechtsextremisten stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr nach Erkenntnissen des LfV deutlich um 160 auf 840. Von den mehr als 1.000 extremistischen Straf- und Gewalttaten wurden 886 Rechtsextremisten zugeordnet. Aktenkundig wurden allein 803 rechtsextremistische Propaganda-Straftaten.
Szene bietet einfache Antworten
"IKARus"-Leiterin Hohmann sagt, der Einstieg in die Szene erfolge nicht aus ideologischen Gründen, eher auf der Suche nach Geborgenheit, Anerkennung, Wertschätzung oder Schutz. "Wir hatten mal eine Klientin, die wurde von ihrem gewalttätigen Vater durch die Straßen getrieben und in dem Ort gab es eine kleine rechtsextreme Gruppe, die hat das gesehen und ihr geholfen." Die rechte Szene biete zudem einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Fragen wie "Hätte sich der Lehrer nicht so viel um die ausländischen Schüler gekümmert, hätte ich die Schule gepackt."
Bevor Rechtsextreme den Weg zu "IKARus" suchen, gebe es meist eine Drucksituation: Es drohe Haft, es gebe Ärger mit dem Arbeitgeber oder in der Partnerschaft werde der Ausstieg gefordert. Oder es kämen Zweifel an der Ideologie auf. Ehemalige Kameraden oder Straftaten müsse niemand benennen. Die Teilnahme ist freiwillig: "Wir machen keine Gehirnwäsche. Wenn jemand nicht will oder nicht in einer Situation ist, die er verändern möchte, dann werden wir auch nichts bewirken", sagt Hohmann.
Bildunterschrift: Das Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten "IKARus" registriert in den vergangenen Jahren eine steigende Nachfrage. Seit der Gründung im Jahr 2003 sind rund 80 Frauen und Männer bis zum Ausstieg betreut worden.
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Dresdner Neueste Nachrichten Online, 13.07.2021:
Gegen den Hass / Land Sachsen fördert Projekte gegen Antisemitismus mit 579.000 Euro
13.07.2021 - 12.52 Uhr
Antisemitismus und Rassismus treten im Zuge von Nahost-Konflikt und Corona-Pandemie erschreckend offenkundig zu Tage. Das Land Sachsen hat deshalb das Budget für Projekte gegen Hass und Diskriminierung aufgestockt.
Dresden. Das Land Sachsen unterstützt mit dem Landesprogramm "Weltoffenes Sachsen für Demokratie und Toleranz" 26 Projekte gegen Antisemitismus sowie Rassismus gegen Sinti und Roma mit 579.000 Euro. Insgesamt seien dazu 45 Anträge eingegangen, teilte das Sozialministerium am Dienstag mit.
Gerade mit Blick auf den Nahost-Konflikt und der Zunahme von Verschwörungsmythen im Zuge der Corona-Pandemie sei der Kampf gegen Antisemitismus noch wichtiger geworden, teilte Ministerin Petra Köpping (SPD) mit. Das Budget wurde deshalb aufgestockt.
Die Hemmschwelle, Antisemitismus nach außen zu zeigen, sei in den letzten Jahren stark gesunken, beklagte der Landesbeauftragte für das Jüdische Leben, Thomas Feist. Es brauche zivilgesellschaftlich verankertes Wissen, um Antisemitismus zu erkennen. Notwendig sei "Rückgrat, um ihm entschlossen entgegenzutreten".
Von den 26 ausgewählten Projekten widmen sich zwei Vorhaben der Bekämpfung des Antiziganismus - etwa gegen Sinti und Roma. Zwölf der Projekte finden zum Jubiläum "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" statt und wollen den interkulturellen und interreligiösen Austausch stärken. (dpa/epd)
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hessenschau.de,13.07.2021:
EKHN und jüdische Gemeinden / Klare Haltung gegen Antisemitismus
13.07.2021 - 11.00 Uhr
Spitzenvertreter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) und der jüdischen Gemeinden haben bei einem Treffen auf die anhaltend wichtige Bedeutung klarer Distanzierung bei antisemitischen Übergriffen hingewiesen.
Eskalationen bei Protesten gegen Israel hätten jüngst gezeigt, wie schnell sich anti-jüdische Kräfte in Deutschland nach wie vor Bahn brechen könnten, sagte der Direktor des Jüdischen Landesverbandes, Neumann, am Dienstag.
Die Spitzen der EKHN mit Kirchenpräsident Jung betonten, bei Antisemitismus sei klarer Widerspruch gefordert.
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Focus Online, 13.07.2021:
"Gemäß §1 RuStAG" / AfD-Mann lehnt Kreistagsmandat ab, weil er Reichsbürger ist
13.07.2021 - 14.14 Uhr
In Leipzig lehnt ein AfD-Politiker ein Mandat für den Kreistag ab. Seine Entscheidung begründet er mit einem Paragraphen aus einem Gesetz der Kaiserzeit, auf das sich meist Reichsbürger beziehen.
Weil er Reichsbürger ist, hat AfD-Politiker Torsten Klemmer auf ein Mandat im Leipziger Kreistag verzichtet. Das berichtet die "Leipziger Volkszeitung".
Demnach habe der Nachrücker der AfD-Fraktion im Gespräch mit der Kreisverwaltung erklärt, den für das Ehrenamt notwendigen Verpflichtungstext nicht sprechen zu können. Dazu sei er als "gesetzlicher Deutscher gemäß §1 RuStAG" (Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz) nicht in der Lage.
AfD in Leipzig: Politiker lehnt Mandat ab, weil er Reichsbürger ist
Das Gesetz stammte aus der Zeit des Kaiserreichs und war im Namen des Deutschen Reiches und nach Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags am 22. Juli 1913 in Kraft getreten.
Heute hat das RuStAG keine Gültigkeit mehr. Dennoch beziehen sich Anhänger der Reichsbürger-Bewegung darauf. Sie sind der Meinung, dass das Deutsche Reich weiterhin existiert und die Bundesrepublik illegal gegründet wurde.
"Wer die Grundregeln unserer Demokratie ablehnt, hat auch im Kreistag nichts zu suchen"
Aus welchen Gründen AfD-Fraktionsmitglied Klemmer sein Mandat tatsächlich ablehnte - dazu wollte er sich auf Anfrage der "LVZ" nicht äußern. Wie Landrat Henry Graichen (CDU) der Zeitung mitteilte, sei noch nie ein Mandat abgelehnt worden. "Wer die Grundregeln unserer Demokratie ablehnt, hat auch im Kreistag nichts zu suchen", sagte er.
Bildunterschrift: Ein Mann hält ein Heft mit dem Aufdruck "Deutsches Reich Reisepass" in der Hand.
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Blick nach Rechts, 13.07.2021:
Zwei Ex-Funktionäre berichten aus dem AfD-Innenleben
Von Armin Pfahl-Traughber
Nicolai Bodaghi und Alexander Leschik gehörten zu den jüngeren Funktionären der AfD. In ihrem Buch "Im Bann der AfD" berichten sie aus dieser Zeit. Chats voller Hass-Botschaften, Machtkämpfe um Posten und eine Fülle dubioser Spendengelder prägen das Parteileben.
Die AfD bemüht sich um ein bürgerliches, konservatives und seriöses Image. Doch immer wenn der Blick hinter die Kulissen dieser Selbstdarstellung möglich wird, zeigt sich ein ganz anderes Bild, das nicht nur von rechtsextremistischen Auffassungen, sondern auch von rabiaten Machtkämpfen, schlechtem Sozialverhalten und finanziellen Unregelmäßigkeiten geprägt ist. Davon zeugen auch einige mittlerweile vorliegende "Aussteigerberichte". Gemeint sind damit Darstellungen von ehemaligen Parteimitgliedern, die mit der AfD gebrochen haben und eine öffentliche Distanz vollziehen.
So interessant dabei der Blick in das Innenleben der Partei ist, so bedarf es vom Grundsatz her aber auch immer einer gewissen Skepsis. Denn die jeweiligen Autoren präsentieren nur eine subjektive Sicht. Sie kann durch persönliche Auffassungen mit einer inhaltlichen Verzerrung verbunden sein. Indessen: Wenn die meisten Aussteigerberichte von ähnlichen Entwicklungen und Zuständen berichten, dann spricht dies doch in der bilanzierenden Gesamtschau für eine zutreffende Schilderung.
Ehemalige jüngere AfD-Funktionäre berichten über das Innenleben
Dies gilt auch für eine neuere Buchveröffentlichung in diesem Sinne. Sie stammt von zwei ehemaligen jüngeren Funktionären der Partei: Nicolai Boudaghi, Jahrgang 1991, trat 2013 in die AfD ein und war stellvertretender Bundesvorsitzender der "Jungen Alternative", und Alexander Leschik, Jahrgang 2000, der 2015 in die Partei eintrat und dort auch der "Arbeitsgruppe Verfassungsschutz" angehörte. Boudaghi trat im September 2020, Leschik im April 2021 aus. Zusammen legten sie das Buch "Im Bann der AfD. Chats, Worte, Taten. Zwei Kronzeugen berichten" vor.
Die einzelnen Kapitel enthalten jeweils getrennte Texte beider Verfasser. Zunächst geht es auch um deren persönliche Entwicklung in die Partei, wo sie sich durchgängig als "Gemäßigte" verstanden, indessen die "Radikalen" nicht wirklich kritisch angingen. Beteiligt waren die Autoren auch an diversen Chat-Gruppen, wo der eigentliche innere "Diskurs" zumindest in der Jugendorganisation deutlich wird. Denn ausgiebig zitieren sie aus den einschlägigen Kommentaren, die ein bezeichnendes Licht auf die Partei werfen.
Chats voller Hass-Botschaften, Höcke als Kultfigur
In der scheinbaren Anonymität und Sicherheit übertraf man sich jeweils an Wut-Botschaften, die mitunter in Gewaltphantasien und NS-Anspielungen gipfelten. Gleich zu Beginn werden Beispiele aus Facebook, Telegram und WhatsApp genannt: "Das einzige Ticket, das ich einem Flüchtling wirklich geben würde, wäre ein Expresszug nach Auschwitz-Birkenau", "Es ist absurd zu behaupten, Juden sind Deutsche" oder "Schwule sind in meinen Augen meistens Viecher". Dann werden auch viele Begegnungen geschildert, wobei insbesondere die Akteure des "Flügels" thematisiert werden.
Sie hätten schrittweise immer mehr Einfluss in der Partei erlangt, auch im Jugendverband, habe sich dort doch um Höcke ein wahrer Kult entwickelt. Grußformen wie "Heil Höcke, Kameraden!" seien nicht nur provokativ-spaßig gemeint gewesen. Neben derartigen Ereignissen werden die gehässigen Machtkämpfe thematisiert. Auch "Die AfD und das Geld" ist ein kurzes Thema, wobei es allgemein um entstandene Schulden wie kuriose Millionenspenden geht.
Interessanter Einblick in das nicht-öffentliche Partei-Innenleben
Mitunter ermüden indessen bei der Lektüre die immer gleichen Schilderungen, die aber auch bezeichnende Blicke auf den Charakter vieler Parteifunktionäre werfen. Die als gemäßigt Geltenden erscheinen dabei als frühere Hoffnungsträger, wobei ihr bedenkliches Agieren nicht kritisch genug reflektiert wird. Dies gilt etwa für Uwe Junge und Georg Pazderski. Beachtlich sind randständige Anmerkungen, etwa bezogen auf die "Antifa". Sie habe "für das Teambuilding der AfD über Jahre eine wichtige Rolle gespielt" (S. 28).
Durch ein Agieren wie das von ihr seien auch Brüche nicht so einfach gewesen. Über Ausstiegswillige heißt es: "Draußen erkennen sie … überwiegend Feinde. … Es ist … nicht leicht für sie, das AfD-Milieu zu verlassen. Oft fehlen ihnen überhaupt erst mal Leute, bei denen sie nach einem Ausstieg sozial andocken können" (S. 224). Derartige Betrachtungen hätte es ruhig mehr geben können. Ansonsten enthält das Buch nicht viele neue Erkenntnisse, gibt aber mit vielen Details einen interessanten Einblick in das nicht-öffentliche Partei-Innenleben.
Nicolai Boudaghi / Alexander Leschik, Im Bann der AfD. Chats, Worte, Taten. Zwei Kronzeugen berichten, München 2021 (Europa Verlag); 232 S., 18 Euro.
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SauerlandKurier Online, 13.07.2021:
Dortmund: Nazi-Affäre um AfD-Mann - belastende Chat-Verläufe überschatten Wahlkampf
13.07.2021 - 21.51 Uhr
Zwei Monate vor der Bundestagswahl
Zwei Monate vor der Bundestagswahl bahnt sich bei der AfD ein Eklat an. Einem Bundestagskandidaten aus Dortmund werden Chats mit Nazi-Inhalten vorgeworfen.
Dortmund. Die AfD in Nordrhein-Westfalen hat einen ordentlichen Dämpfer bekommen. Der Grund: Bei einer Telefonschalte des AfD-Landesvorstands wurde bekannt, dass der Vize-Chef der AfD, Matthias Helferich, in einem privaten Chat Nazi-Aussagen gemacht haben soll. Der WDR berichtete zuerst. Jetzt wird der Fall untersucht, wie RUHR24 berichtet.
Nazi-Eklat um AfD-Mann aus Dortmund: Chat-Verläufe mit umstrittenen Aussagen aufgetaucht
Laut WDR-Bericht erklärte der NRW-Landeschef Rüdiger Lucassen (AfD) seinen Kollegen, dass ihm Chat-Verläufe zwischen Matthias Helferich und einem Parteifreund vorliegen würden. "Anonym habe ich ein Schriftstück bekommen, in dem, sag ich mal, fünf, sechs, sieben Sachverhalte sind, Themen, die indirekt oder direkt den Nationalsozialismus beinhalten, beschrieben sind."
Mehr wollte Lucassen den Landeskollegen über seinen Vertrauten offenbar nicht verraten. Der WDR veröffentlichte jedoch einige Aussagen des AfD-Landesvizen im Wortlaut.
So soll Helferich in den Jahren 2016 und 2017 in Facebook-Chats unter anderem unter einem Bild von sich mit einem AfD-Flyer vor einer Kirche geschrieben haben: "das freundliche gesicht des ns". (NS steht für Nationalsozialismus). Den Beitrag soll der AfD-Politiker im Mai dieses Jahres wieder gelöscht haben.
Matthias Helferich (AfD): NRW-Vizechef aus Dortmund wollte wie Nazi-Richter agieren
Weiter soll Helferich seinem Chat-Partner ein Video geschickt haben, das den Richter Roland Freisler zeigt. Freisler verantwortete zwischen 1933 und 1945 als Nazi-Richter tausende Todesurteile. Unter ihnen waren auch Widerstandskämpfer wie Hans und Sophie Scholl. Der AfD-Mann aus NRW soll zu dem Video folgendes geschrieben haben: "ich wollte den "demokratischen Freisler" beim landeskongress geben".
Ein anderes Bild aus dem Chat-Verlauf soll außerdem eine Vase mit einer Kornblume zeigen, die das "geheime Symbol der Nationalsozialisten während des Verbots in Österreich" gewesen sein soll, wie Helferich selbst schreibt.
Nazi-Vorwürfe gegen AfD-Bundestagskandidat Helferich aus Dortmund: Partei äußert sich
Matthias Helferich ist AfD-Landesvize in NRW. Im Mai war der gebürtige Dortmunder auf den aussichtsreichen siebten Platz der Kandidatenliste für die Bundestagswahl am 26. September 2021 gewählt worden. Dem Weg nach Berlin standen alle Türen offen. Nun belasten Helferich die umstrittenen Aussagen und setzen auch seine Partei zwei Monate vor der Bundestagswahl 2021 unter Druck.
Auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur (dpa) erklärte ein Sprecher der AfD am Donnerstag (8. Juli), dass der Partei-Bundesvorstand sich nun mit den Nazi-Vorwürfen gegen ihren Bundestagskandidaten aus NRW befassen wolle.
Trotz einer einberufenen Telefonkonferenz am Montag (12. Juli) lassen die Ergebnisse allerdings auf sich warten. Laut dpa-Informationen habe der AfD-Bundesvorstand seine Entscheidung zum Umgang den Aussagen von Matthias Helferich vertagt. Zwar seien die Nazi-Chats Thema in der Schalte gewesen - wie es aus Parteikreisen hieß - es sei aber vereinbart worden, Helferich und den NRW-Landesvorstand Rüdiger Lucassen in der nächsten Präsenzsitzung des Bundesvorstandes am Freitag (16. Juli) in Berlin erst noch persönlich zu befragen.
AfD-Mann Helferich aus Dortmund betont ablehnende Haltung zu "Neonazi-Parteien"
Fragen des WDR zu der Nazi-Affäre um seinen Vertrauten wollte Lucassen nicht beantworten. Helferich selbst bestritt gegenüber dem Sender zwar nicht, dass die Aussagen in dem Chat von ihm stammen, bestätigen wollte der AfD-Mann aus Dortmund das aber auch nicht. Stattdessen betonte er eine ablehnende Haltung zu "Neonazi-Parteien".
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Bayerischer Rundfunk, 13.07.2021:
Telegram droht Ärger - bis hin zur Sperrung?
13.07.2021 - 12.49 Uhr
Während der Pandemie wurde Telegram zum Hotspot für Verschwörungstheorien, aber schon vorher fühlten sich Rechtsextreme und Islamisten dort pudelwohl. Die Bundesregierung will nun härter gegen den Messenger vorgehen. Mit einem interessanten Kniff.
Wer ein wenig auf der Website des Messengers Telegram stöbert, findet dort diesen Satz: "Bis zum heutigen Tag haben wir 0 Byte Nutzerdaten an Dritte weitergegeben, einschließlich aller Regierungen." Dieses Eigenlob von Telegram zeigt, worin der Segen und Fluch der App liegen.
Telegram ermöglicht Menschen in autokratischen Ländern wie Belarus, Proteste zu organisieren und Informationen zu verbreiten, die Medien nicht aufgreifen. Zugleich dient Telegram aber auch Kriminellen, Verschwörungstheoretikern und Extremisten.
Todeslisten mit Politikern, die für bestimmte Pandemie-Gegenmaßnahmen gestimmt haben, sind dort laut "Spiegel" kinderleicht zu finden. Gleiches gilt für Menschenhass und Hetze, Drogen und gefälschte Dokumente. Lange Zeit galt Telegram zudem als Lieblings-Messenger des so genannten Islamischen Staates, um Terroranschläge zu planen. Auf all diese Inhalte hat der Staat bisher keinen Zugriff.
Regierung will vorgehen
Das will die deutsche Regierung nun ändern. Das Mittel: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das primär für Soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder YouTube gilt, soll auch auf den Messenger Telegram angewendet werden. Denn Telegram ist in den Augen des Bundesjustizministeriums ein Soziales Netzwerk, wie ein Sprecherin der Behörde gegenüber BR24 erklärt: "Die Möglichkeit, Kanäle einzurichten, mit denen beliebige Inhalte mit einer breiten Öffentlichkeit geteilt werden können, entspricht den Funktionen eines Sozialen Netzwerks."
Hinzu kommt, dass Telegram "Gewinnerzielungsabsichten" und mehr als zwei Millionen Nutzer aufweist. Während letzteres auch auf Messenger wie WhatsApp zutrifft, sind die die so genannten "Kanäle" eine Telegram-spezifische Innovation. User können auf Telegram Kanäle eröffnen, denen unbegrenzt viele User folgen können, während etwa bei WhatsApp die Gruppengrößen auf 256 Personen beschränkt sind. Über solche Kanäle wird Telegram quasi zu einer Art Twitter, Facebook oder auch Instagram: Beliebige Menschen folgen einem Kanal, der dann Links, Fotos oder kurze Texte enthält.
Droht eine Sperrung?
Als ein Soziales Netzwerk gelten für Telegram bestimmte Pflichten. Unter anderem muss laut Justizministerium einen "leicht erkennbaren und unmittelbar erreichbaren Meldeweg für strafbare Inhalte" geben. Sind die die Inhalte strafbar, müssen sie gelöscht und gegebenenfalls sogar den Behörden gemeldet werden. Telegram brüstet sich auf seiner Website dagegen damit, keine Anfragen zur Löschung illegaler Inhalte zu beantworten. Lediglich Urheberrechtsverletzungen, etwa bei Sticker-Paketen, gehe man nach.
Diese Haltung führt nun dazu, dass das in Dubai ansässige Unternehmen sich zwei Bußgeldverfahren des Bundesamtes für Justiz gegenübersieht. Einmal wegen fehlender Meldeverfahren, einmal weil kein Zustellungsbevollmächtigten für Ersuche von deutschen Gerichten benannt wurde. Das Unternehmen kann nun dazu Stellung nehmen, wie das Justizministerium gegenüber BR24 angibt. Angeblich drohen Strafen von bis zu 55 Millionen Euro.
Und was, wenn Telegram sich schlicht nicht meldet? Eine Betriebsuntersagung für Betreiber von Plattformen liegt nicht in der Zuständigkeit des Bundesjustizministeriums, so eine Sprecherin. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz sehe das auch nicht vor. Ein Beamter des Innenministeriums sieht das anders, wie der "Spiegel" schreibt: Im Extremfall sei auch eine Sperrung der Plattform in Deutschland denkbar, ließ er gegenüber dem Nachrichtenmagazin wissen.
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die tageszeitung Online, 13.07.2021:
Corona-Leugnung auf Telegram / Der digitale Strippenzieher
13.07.2021 - 09.55 Uhr
Frank Schreibmüller hat den Online-Kaninchenbau einer verschwörungsideologischen Bewegung gegraben, die immer mehr nach rechts driftet. Ein analoger Ortsbesuch.
Ein Artikel von Nora Belghaus, Christian Jakob
Frank der Reisende sieht eher nach Couch-Potato als nach Abenteurer aus. In Trainingsjacke, Jeans und Crocs steht der hagere 37-Jährige in der Tür eines Einfamilienhauses in einem Dorf nahe Wien und bittet herein. Ein kurzer Flur, eine Tür: Hier befindet sich das "Backoffice" der Corona-Protestbewegung. So nennt Frank - der mit Nachnamen Schreibmüller heißt, sich aber stets als "der Reisende" vorstellt - den Schreibtisch mit den vier Monitoren darauf.
Was aussieht wie der Spielplatz eines Gamers, ist in Wirklichkeit der Ort, an dem der Mann mit dem Messenger-Dienst Telegram einen virtuellen Kaninchenbau angelegt hat. Ein Labyrinth aus Chat-Gruppen und Kanälen, die durch Links miteinander verbunden sind. Schreibmüller gilt als der Strippenzieher von Tausenden Gruppen. Die taz hat ihn am Pfingstwochenende getroffen, als er digital die Stellung hielt, während seine Mitstreiterinnen, Mitstreiter nach Berlin reisten, um dort gegen die vermeintliche "Corona-Diktatur" zu protestieren.
Schreibmüller setzt sich in einen abgenutzten Sessel. Er ist in dem Haus nur zu Besuch, schon seit Oktober 2020. Sein "Gastgeber" ist der Unternehmer Alexander Ehrlich, ein Promi der österreichischen Corona-Protest-Szene, der im Sommer 2020 Hygiene-Demos anmeldete und Busreisen organisierte. Durch die Jalousien des Wohnzimmers fällt fahles Sonnenlicht, das sich in Schreibmüllers Haarspange spiegelt. An seinem Handgelenk trägt er ein gelbes Latex-Armband mit den Buchstaben WWG1WGA. Sie stehen für "Where we go one, we go all". Es ist der Slogan der rechtsextremen QAnon-Verschwörungsbewegung, deren Mitglieder die Überzeugung teilen, eine satanistische Elite entführe Kinder und trinke deren Blut.
Der Kaninchenbau wächst und wächst
Auf drei Bildschirmen vor ihm sind Telegram-Fenster geöffnet, auf dem vierten laufen Livestreams der Demonstration in Berlin. Die Bilder zeigen Menschengruppen ohne Maske, die mit kleinen Rucksäcken und Protest-Plakaten durch den Berliner Tiergarten laufen. Der Streaming-Dienst, den die Demo-Streamer vorsichtshalber nutzen, heißt D-Live. "Weil sie auf YouTube schon so oft zensiert wurden", erklärt Schreibmüller. "Zensur" ist eine wichtige Vokabel in seiner Welt. Auf Telegram gebe es die nicht, ist er überzeugt.
Dass die Corona-Protestbewegung zuweilen Tausende Menschen mobilisiert, ist zu einem großen Teil auf Schreibmüllers Aktivitäten auf Telegram zurückzuführen, sagen Beobachterinnen, Beobachter der Bewegung. Zu Beginn der Pandemie spricht sich schnell herum, was Schreibmüller auf Telegram alles kann. Michael Ballweg, der Stuttgarter "Querdenken"-Initiator, lädt ihn nach Baden-Württemberg ein, um sich schulen zu lassen. Unentgeltlich, sagt Schreibmüller, er finanziere sich über Spenden, arbeite gegen Kost und Logis.
In den folgenden Monaten wird der Kaninchenbau stetig wachsen. Schreibmüller legt Kanal um Kanal und Gruppe um Gruppe an, schafft die Infrastruktur für Initiativen wie "Honk for Hope", deren Kanäle bald Tausende Abonnentinnen, Abonnenten haben. Andere Gruppen, mit denen Schreibmüller laut dem Recherchekollektiv Anonleaks.net verbunden ist, tragen Namen wie "Die BRD ist kein Staat!", "Maskeradefrei", "PatriotischeSingles" oder "Freiheit für Haverbeck!", eine 92-jährige Aktivistin der Neonazi-Szene, die immer wieder die Shoah leugnet.
Das Bundeskriminalamt stellte 2021 fest, dass Telegram "erfahrungsgemäß nicht kooperativ" sei, extremistische Inhalte würden nicht gelöscht. Die App zählt hierzulande nach jüngsten Zahlen vom Juli 2019 rund 7,8 Millionen Nutzerinnen, Nutzer, wobei diese Zahl seither deutlich gestiegen sein dürfte. Laut dem Extremismus-Forscher Josef Holnburger vom Berliner ThinkTank Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) sind die fünf größten deutschen Telegram-Kanäle der verschwörungsideologischen Szene zuzuordnen.
Das erst im April gegründete CeMAS dokumentiert verschwörungsideologische Gruppen und Kanäle aus der Corona-Protest-Szene auf Telegram, die bis zu 170.000 Abonnentinnen, Abonnenten haben. Davon können die meisten Tageszeitungen heute nur noch träumen. Die erfolgreichsten Telegram-Nachrichten der Szene erreichen bis zu 400.000 Views, schätzt das CeMAS. Allerdings seien Views kein sicherer Indikator für individuelle Userinnen, User. Insgesamt dürfte die Zahl der Anhängerinnen, Anhänger in verschwörungsideologischen deutschen Telegram-Kanälen bei rund 200.000 liegen.
"Bewegungen starten in der Regel auf den allgemeinen Social-Media-Plattformen wie YouTube, Facebook, Twitter oder Instagram, wo sie die breite Öffentlichkeit populistisch ansprechen können", sagt Holnburgers Kollege Jan Rathje. Dort werde für die Telegram-Kanäle Werbung gemacht. "Diese dienen als Radikalisierungsort."
Dort sei viel weniger mit Widerspruch zu rechnen. "Hier festigen Gruppen sich selbst", sagt Rathje. "Man postet sich unwidersprochen nur noch Untergangsnachrichten und ruft sich gegenseitig auf, endlich etwas zu tun. So machen etwa Akteure, die in den Bereich des offenen Antisemitismus abgedriftet sind, Aufrufe für den vermeintlichen letzten Kampf." Auf Telegram könne man "ohne Probleme auf hardcore antisemitische Inhalte zugreifen".
"Es werden nur Infos rausgehauen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen", sagt Rathje. "Es gibt viele Nachrichten, die so nur auf Telegram zirkulieren, es ist eine Plattform, auf der sich das verschwörungsideologische Milieu untereinander vernetzen und Propaganda völlig ohne Hindernisse verbreiten kann." Nutzer wie Attila Hildmann - ein Ex-Kochbuchautor, der unter anderem wegen Volksverhetzung per Haftbefehl gesucht wird - könnten offen den Nationalsozialismus verherrlichen. "Auf Telegram überhaupt kein Problem", sagt Rathje. "Telegram dient so als Radikalisierungsnetzwerk, vor allen Dingen zur Kommunikation untereinander. Mit dem Blick auf die eigene Community, mit Botschaften, die sich an diese richten und zu gemeinsamen Aktionen aufrufen."
Schreibmüllers Arbeit beweist, dass Telegram nicht nur Messenger, sondern auch ein Soziales Netzwerk ist. Auch beim Aufbau der Initiative "D-Day 2.0" hat er geholfen, einer dezentral organisierten Gruppe, die Anfang Januar 2021 zu bundesweiten Corona-Aktionen aufrief. Auch ein Anschlag auf eine ICE-Strecke wurde mutmaßlich von einem D-Day-2.0-Anhänger verübt, wie eine taz-Recherche vom März zeigt.
Schreibmüller sagt dazu nur, so etwas sei nicht in seinem Sinne, aber er könne ja nicht alles überblicken und schließlich sei jeder für sich selbst verantwortlich. Wenn die Regierung "alles verbietet", bleibe den Menschen ja nichts anderes übrig.
In Berlin regnet es nun, wie der Livestream zeigt: Funktionsjacken, bunte Regenschirme, lange Gesichter. Warum ist Schreibmüller hier und nicht dort? Seitdem die Proteste in Straßenschlachten endeten, bleibe er ihnen fern, sagt er. Zu viel "schlechte Energie", da habe er selbst als "Lichtarbeiter" keine Chance, gegen anzukommen. Aber das "Österreichteam" und all die anderen in Deutschland ließen sich davon nicht abschrecken. Ein bisschen wie auswendig gelernt schiebt er nach: "Wenn nicht wir, wer dann?!" und "Wer schweigt, stimmt zu."
Weltbild mit großen Fragezeichen
Schreibmüller, in Leipzig geboren, lebte einige Jahre in Thüringen, wo er mit seiner Mutter eine Gaststätte an einer Mühle betrieb, bis ihnen "klargemacht" worden sei, dass sie dort "nicht erwünscht" seien und die Mühle zwangsversteigert wurde. Seit etwa zwei Jahren sieht er sich als "Reisender und Aussteiger". Er sei immer dort, wo Hilfe benötigt werde, das sei seine Berufung. Als ausgebildeter EDV-Techniker mache er sich vor allem mit der Telegram-Infrastruktur nützlich. 2018 hat er ein Netzwerk für den deutschen Ableger der französischen Gelbwesten erschaffen. Seit der Pandemie habe er kaum mehr Zeit für etwas anderes, manchmal sitze er bis drei oder vier Uhr nachts noch vor dem Computer und manage mit neun verschiedenen Accounts all die Kanäle der Szene.
Schreibmüller wirkt wie ein verträumter Enddreißiger, der ein zurückgezogenes, spirituelles Leben führt und aktuell Corona-Aktivistinnen, -Aktivisten unterstützt, weil man sich in ihrer Gemeinschaft so aufgehoben fühlt, wie er sagt. Doch er steckt selbst tief drin im verschwörungsideologischen Kaninchenbau der Anti-Corona-Bewegung, den er maßgeblich mit erschaffen hat. So behauptet er, die Grundrechte seien "ausgeschaltet" worden. Warum? "Um die Mehrheit besser handeln zu können." Von wem? Plötzlich weicht er aus, rutscht im Sessel hin und her, schweigt fast eine halbe Minute. Da gebe es "viel Spielraum für Spekulation", antwortet er schließlich. Er wolle sein Weltbild niemandem aufdrängen, die Reporterin solle "die Puzzleteile" lieber selbst zusammensuchen, „um die Wahrheit zu erkennen".
Sein Weltbild lässt Fragen offen. Vor einigen Jahren stellte er eine Webseite für "Deutsche Patrioten" online, wo er auch "Patriotische Gruppen bei Telegram", darunter einen "WiderstandChat" bewirbt. Was bedeutet Patriotismus für ihn? "Aufbruch, etwas Neues erschaffen", sagt Schreibmüller. Wieder wird er nervös, schaut zu Boden. Beschämt fügt er hinzu, er habe erst kürzlich gelernt, dass das Wort eigentlich etwas ganz anderes bedeute. Auf die Frage, warum er 2019 bei einem Fackelmarsch der rechtsextremen Partei III. Weg mitgelaufen sei, wie Bilder belegen, behauptet er, er habe sich nur wegen der Fackeln dem Zug angeschlossen, "wegen des Lichts".
Schreibmüller sagt, er stelle nur das Werkzeug zur Verfügung. Sein Ziel sei es, Gemeinschaft zu ermöglichen, mehr nicht. Er lehnt sich in seinem Sessel zurück. Der Stream zeigt, wie Protestierende in Berlin eine Polonaise über eine Wiese tanzen.
Warum spielt sich all das vor allem auf Telegram ab? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. So bietet die 2013 von den russischen Brüdern Nikolai und Pawel Durow gegründete App Funktionen, die der bisher verbreitetste Messenger-Dienst WhatsApp nicht hat, zum Beispiel Gruppen mit bis zu 200.000 Mitgliedern und Kanäle mit unbegrenzten Abonnentinnen, Abonnenten, also einer größeren Reichweite. Eine Moderation findet allenfalls durch Administratoren, statt, die ihre eigenen Regeln aufstellen. Das Melden von Fehlinformationen oder extremistischen Inhalten hat nur selten Folgen.
Was für die einen das Grundrecht auf private Kommunikation und Garant für die Meinungsfreiheit ist, gilt anderen als Bedrohung für die Demokratie. Es ist der Streit um die Frage, wie viel Freiheit im Netz eine Gesellschaft verträgt. Pawel Durow, der bekanntere der beiden Telegram-Gründer, sagte 2015, wer Messenger-Dienste einschränke, um demokratiegefährdende Kräfte einzudämmen, könne genau so gut "die Sprache abschaffen". Telegram geriet in dem Jahr in die Kritik, als bekannt wurde, dass sich die islamistischen Attentäter des Anschlags in Paris über diese App organisiert hatten.
Auch das Bundesministerium für Gesundheit betreibt auf Telegram einen Corona-Info-Kanal, der allen Nutzerinnen, Nutzer nach Installation der App automatisch vorgeschlagen wird. Für Schreibmüller ist das blanker Hohn: "Die verteufeln da ständig Telegram und betreiben selbst den größten Kanal!" Angesichts Abertausender Kanäle, auf denen im Sekundentakt Falschinformationen geteilt und teilweise von so genannten Bots, also programmierten Robotern, automatisch weiterverbreitet werden, wirkt der Ministeriums-Info-Kanal wie ein Akt der Verzweiflung. Eine schwache Kampfansage gegenüber Pawel Durow, der seinen Dienst von Dubai aus betreibt und dabei - das ist entscheidend - nicht unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz fällt.
Laut diesem müssen Anbieter Sozialer Netzwerke, nicht aber Messenger-Dienste wie Telegram, "offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden" nach Eingang sperren oder löschen. Deshalb gehen YouTube, Facebook und Twitter heute tatsächlich rigoroser gegen Falschinformationen vor. Die Folge aber ist eine Abwanderung zu anderen Diensten, die nicht unter das Gesetz fallen. Die Filterblasen können ihre Vernetzungskraft so im Verborgenen entfalten. Obendrein fühlt sich die Szene in dem Glauben bestätigt, sie würde von einer "mächtigen, zensurwütigen Elite" verfolgt, die andere Meinungen und abweichende Haltungen unterdrücken wolle.
Damit die Gemeinschaft gemeinschaftlich bleibt, muss Schreibmüller den Kaninchenbau gelegentlich aufräumen. Oder er lässt aufräumen. "Beleidigungen, Belästigung, pornografische Inhalte, Spam - das hat dort alles nichts zu suchen", sagt er. Schreibmüller hat sich einen Gehilfen an seine Seite geholt - einen Bot, kurz für Robot, für den er monatlich 100 Euro zahlt. Der Bot mit dem Namen "Telegram Föderation" erkennt, wenn unliebsame Userinnen, User einen Kanal oder eine Gruppe betreten und schmeißt sie raus. "Wie ein Türsteher", sagt Schreibmüller.
Es gibt aber auch Bots, die mehr können. Sie erkennen Gegenrede, die am jeweiligen Weltbild der Gruppe kratzt, und löschen kritische Beiträge. Sie sind die Putzerfische im Desinformationsmeer, die die Filterblase frei von Fakten oder ungewollten Meinungen halten. Auch Schreibmüller soll den Recherchen von T-Online zufolge solch einen Bot durch seinen Bau gejagt haben. Der taz gegenüber sagt er, den "Alexis" habe er wieder abgegeben.
Community ohne Widerspruch
Der Forscher Jan Rathje vom CeMAS glaubt, dass es der Bots gar nicht mehr bedürfe. "Die Gruppen zielen immer auf eine Community ohne Widerspruch ab", sagt er. "Widerspruch wird immer gleich als Hochverrat oder als vom Geheimdienst gesteuerte Operation gesehen. Es heißt sofort "False Flag", "Agent Provocateur" oder ähnliches." Verschwörungsideologinnen, Verschwörungsideologen würden jeden Widerspruch sofort "niederreden, als Verschwörung werten oder die Leute werden rausgeschmissen".
Und so wächst der Hass in den Kanälen. Das zeigt auch eine Analyse der Süddeutschen Zeitung vom Mai 2021. Fast ein Fünftel der Telegram-Nachrichten aus knapp tausend Kanälen der Corona-Protestbewegung beinhalteten demnach verschwörungsideologische, rassistische oder extremistische Inhalte oder Drohungen. Fast eine Million Nachrichten hatten einen verschwörungsideologischen oder demagogischen Kern.
"Bei den großen Social-Media-Plattformen hat sich ein Bewusstsein gebildet, dass verschwörungsideologische Inhalte problematisch sind", sagt Rathje. Dies zeigte sich etwa im Umgang mit QAnon, gegen dessen Anhängerinnen, Anhänger etwa Facebook zuletzt rigoros vorging. So geschah es auch etwa mit dem YouTube-Kanal der Stuttgarter "Querdenken"-Gründer. Deren Kanäle mit zuletzt immerhin rund 75.000 Abonnentinnen, Abonnenten sperrte YouTube im Mai.
"Bei Telegram wird nicht gehandelt", sagt Rathje. Deshalb habe Telegram immer dann eine sehr wichtige Funktion, wenn Verschwörungsideologinnen, Verschwörungsideologen auf den großen Plattformen gesperrt werden. "Dann weichen sie auf Telegram aus. Das ist ein Rückzugsort für Personen und Gruppen, die deplatformt werden."
Mit einem Klick im Kaninchenbau
Menschen, die einmal einen Fuß im Kaninchenbau haben, finden selten einfach so wieder raus, sagen Expertinnen, Experten für Verschwörungsglauben. Zu sehr erschüttere es ihr Selbstbild, gestünden sie sich ein, dass sie einem Irrglauben erlegen sind. Problematisch ist deshalb, dass Telegram sich kaum mehr von Angeboten im Darknet unterscheidet - aber keine ähnliche Hemmschwelle für "normale" Internet-Nutzerinnen, -Nutzer hat.
So verirren sich auch Menschen im virtuellen Kaninchenbau, die sich eigentlich nur zur nächsten Demo verabreden wollten, die in eine Gruppe mit dem Namen "Eltern für Aufklärung und Freiheit" eintraten und sich nach ein paar Klicks in der Gruppe "Gerechtigkeit für das Vaterland" wiederfanden. Wo nicht mehr nur über eine vermeintliche Schädlichkeit von PCR-Tests diskutiert, sondern gefälschte Impfausweise und Masken-Atteste verkauft oder Hitler-Reden geteilt und mit Kuss- und Herz-Emojis versehen werden.
Der Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtl sieht die Bewegung zwar bereits ihrem Ende nah. Aber die mediale Infrastruktur - das Vermächtnis von Frank Schreibmüller also - bleibe, schreibt er in der taz. So könne sie etwa bei umstrittenen Debatten wieder reaktiviert werden.
Schreibmüller sieht müde aus. In Berlin scheint die Stimmung gekippt zu sein. Das Bild eines Livestreams ist eingefroren, der zweite zeigt, wie ein Polizist einen Mann mit Hut abführt. Der dritte Streamer filmt andere Streamer beim Streamen. Die Straßenschlachten werden am Ende ausbleiben. Für "Frank den Reisenden" spielt das keine Rolle. Er hat ja seinen Kaninchenbau. Und der nächste große Auftritt folgt gewiss. Wenn am 1. August Corona-Leugner zur großen Demo nach Berlin rufen, wird Schreibmüller wohl wieder vor seinen vier Bildschirmen die Stellung halten.
Die Recherche entstand im Rechercheverbund Europe’s Far Right und wurde mit Mitteln des "Investigative Journalism for Europe"-Programms gefördert.
Online-Plattformen für Verschwörerinnen, Verschwörer
Telegram und Vkontakte
Telegram ist die beliebteste, aber nicht die einzige der kaum kontrollierten Online-Plattformen, auf denen Smartphone- oder Computer-Nutzerinnen, -Nutzer Netzwerke bilden, Nachrichten versenden oder Inhalte teilen können. Eine in Deutschland beliebte Alternative zu Facebook ist das russische Netzwerk Vkontakte (VK), das wie Telegram von den Durow-Brüdern entwickelt und später an das russische Investmentunternehmen Mail.ru Group verkauft wurde. Um die drei Millionen Nutzerinnen, Nutzer soll VK in Deutschland haben. Besonders Personen aus dem Reichsbürger-Milieu vernetzen sich hier, ebenso Neonazi- und rechte Prepper-Gruppen. Darunter mischen sich nun auch Anhängerinnen, Anhänger der Corona-Protestbewegung. In Gruppen wie "Deutschland gegen den Coronawahnsinn" werden Videos gepostet, die es auf YoTtube schon nicht mehr gibt.
LoveStormPeople
Eine andere Facebook-Alternative ist die deutsche Plattform LoveStormPeople, die von der Aktivistin Anja Heussmann betrieben wird. Heussmann postet nach Recherchen des Blogs friedensdemowatch schon im Mai 2020 unter dem Hashtag coronaprotest ein Bild von sich mit einem Judenstern, auf dem "NICHT geimpft" steht und verhöhnt damit die Opfer der NS-Diktatur.
Gamer-Anbieter
Neben D-Live als Streaming-Alternative zu YouTube, ziehen Corona-Protestlerinnen, -Protestler ihren Videocontent auch zum Anbieter Bitchute um oder greifen auf Plattformen wie Discord oder Twitch zurück, die ursprünglich für Gamerinnen, Gamer vorgesehen waren. Auf Letzterer überredet ein User mit dem Nickname freddy-independent eine Zuschauerin, sich nicht impfen zu lassen. Es ist derselbe Mann, der auf der Webseite maskenfrei.wixsite.com dafür wirbt, ein Formular herunterzuladen, mit dem man sich in elf Bundesländern für neun Euro selbständig von der Masken-Pflicht befreien könne. (njb/taz)
Bildunterschrift: Ohne Aluhut: Schreibmüller sieht sich selbst als Helfer, Reisender - und Telegram-Netzwerker.
Bildunterschrift: Schreibmüller posiert an Bord eines Wagens der Initiative "Honk for Hope".
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MiGAZIN, 13.07.2021:
Rechtsextremismus-Kommission / Bei hessischer Polizei kritischer Moment erreicht
13.07.2021 - 05.21 Uhr
Hessen zieht Konsequenzen aus den "NSU 2.0"-Drohbriefen und folgt einer Empfehlung der Expertenkommission: Polizeianwärter sollen künftig nicht mehr eingestellt werden, wenn sie extremistisch aufgefallen sind.
Vor der Einstellung von Polizeianwärtern in Hessen soll es künftig eine Regelanfrage beim Verfassungsschutz geben, um Extremisten aus diesem Beruf fernzuhalten. Innenminister Peter Beuth (CDU) kündigte am Montag in Wiesbaden eine entsprechende Änderung der Sicherheitsgesetze an. Er folgt damit einer Empfehlung der im vergangenen Jahr eingesetzten Expertenkommission. Anlass waren die Datenabfragen in Polizeirevieren vor den mit "NSU 2.0" gezeichneten Drohschreiben an Prominente sowie die Teilnahme von Polizisten in rechtsextremistischen Chats.
Die Kommission unter Leitung der ehemaligen europäischen Richterin Angelika Nußberger fordert in ihrem im Innenministerium vorgestellten Abschlussbericht weitreichende Konsequenzen und einen "Neuanfang" im Umgang der Polizei mit derartigen Vorfällen. Die Vorfälle mit rechtsextremistischem Bezug hätten das Vertrauen in die hessische Polizei erschüttert, sagte die frühere Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und sprach von einem "kritischen Moment". Um das Vertrauen zurückzugewinnen und die Vorgänge aufzuklären, sei noch viel Arbeit zu leisten.
Nußberger fügte hinzu: "Hessen muss ein Exempel statuieren und zeigen, dass es den Ehrgeiz hat, im Kampf gegen Rechtsextremismus deutschlandweit eine Vorreiterrolle einzunehmen." Auch nach der Festnahme des Verdächtigen in Berlin im Fall der NSU-Drohschreiben sei eine mögliche Verwicklung der Polizisten, die Daten über die bedrohten Frauen abgefragt hatten, nicht geklärt. Ebenso seien die angekündigten Maßnahmen zur Verhinderung solch illegaler Abfragen noch längst nicht umgesetzt. Jetzt aber müsse schnell gehandelt werden, sagte Nußberger.
Schockierende Einzelheiten
Der stellvertretende Kommissionsvorsitzende und ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag schilderte schockierende Einzelheiten der rechtsextremistischen Chats. Darin werden die Massenmorde der Nationalsozialisten entweder geleugnet oder als nachahmenswert gepriesen, pornografische Gewaltfantasien mit dem Bild eines toten Flüchtlingskinds in Verbindung gebracht oder Behinderte, Juden und Menschen mit schwarzer Hautfarbe als wertlos dargestellt. Die vielen redlichen Polizisten würden sich gewiss mit Abscheu abwenden, wenn sie mehr über diese Bilder und Äußerungen in den Chats wüssten, zeigte er sich überzeugt.
Die Kommission stellte zehn zentrale und 58 Einzelforderungen als Konsequenz aus den Vorfällen, nachdem sie mit mehr als 70 Personen innerhalb und außerhalb der Polizei gesprochen hatte. Beuth richtete eine seinem Staatssekretär zugeordnete Stabsstelle zur Umsetzung der Vorschläge ein. Mit Hilfe einer Unternehmensberatung werde auch ein neues Leitbild der hessischen Polizei erarbeitet. (epd/mig)
Bildunterschrift: Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU).
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