6 Artikel ,
10.07.2021 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
Jüdische Allgemeine Online, 10.07.2021:
Trauer / "Ihre Stimme wird uns fehlen"
die tageszeitung Online, 10.07.2021:
Zum Tod von Esther Bejarano / "Wir dürfen nicht schweigen!"
Perspektive Online, 10.07.2021:
Erfüllen wir Esthers Auftrag: Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht
Hamburger Morgenpost Online, 10.07.2021:
Hamburger Politiker würdigen KZ-Überlebende Esther Bejarano
Hamburger Morgenpost Online, 10.07.2021:
Die Akkordeonspielerin von Auschwitz: Esther Bejarano mit 96 gestorben
Spiegel Online, 10.07.2021:
Zeitzeugin des Holocausts / Esther Bejarano ist tot
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Jüdische Allgemeine Online, 10.07.2021:
Trauer / "Ihre Stimme wird uns fehlen"
10.07.2021 - 22.41 Uhr
Esther Bejarano überlebte das KZ Auschwitz dank ihrer Musik. Jetzt ist die engagierte Künstlerin gegen Rechts im Alter von 96 Jahren gestorben. Viele wollen sie weiter zum Vorbild nehmen
Von Franziska Hein, Sebastian Stoll
"Man darf nicht schweigen und nicht vergessen", sagte die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano einmal. Mit "Damals" meinte sie die Schoa und die NS-Diktatur.
Wer Esther Bejarano zuletzt traf, sah eine kleine Frau mit grauen Haaren, die zart und resolut zugleich wirkte. Sie hat Auschwitz überlebt, ihre Eltern und ihre Schwester wurden von den Nazis ermordet.
Nun ist sie im Alter von 96 Jahren gestorben, wie ihre Familie und das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland am Samstagmorgen in Hamburg mitteilten. Bejarano sei nach kurzer schwerer Krankheit am frühen Samstagmorgen im Israelitischen Krankenhaus gestorben. Sie sei nicht allein gewesen, Familie und Freunde waren in den letzten Tagen bei ihr. "Sie hat nicht gelitten", sagte Bejaranos enge Freundin Helga Obens vom Vorstand des Auschwitz-Komitees.
Biografie
Die geborene Esther Loewy aus Saarlouis, Tochter eines jüdischen Kantors, war 16 Jahre alt, als ihre geplante Ausreise nach Palästina scheiterte, und sie Zwangsarbeiterin in Brandenburg wurde. Zwei Jahre später, 1943, deportierten die Nazis sie nach Auschwitz. Sie überlebte als Akkordeonspielerin im "Mädchenorchester", kam dann ins KZ Ravensbrück, konnte schließlich von einem Todesmarsch fliehen.
"Meine Schwester Rut"«, erinnerte sich Bejarano, "wollte damals in die Schweiz flüchten, wurde aber aus der Schweiz nach Deutschland zurückgeschickt - und damit in den Tod".
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Esther Bejarano einige Jahre in Israel, heiratete, bekam zwei Kinder - bis es die Familie 1960 nach Deutschland zurückzog. Als ihrem Mann in Israel eine Gefängnisstrafe drohte, weil er nicht zum Militär wollte, wanderten sie aus. "Es ist mir schwer gefallen, nach Deutschland zurückzugehen", sagte sie. "Denn Deutschland war und ist das Land der Täter." Von Hamburg aus mischte sie sich bis kurz vor ihrem Tod immer wieder ein in Debatten.
Musik
Zusammen mit Tochter Edna und Sohn Joram gründete Esther Bejarano Anfang der 1980er-Jahre die Gruppe Coincidence mit Liedern aus dem Ghetto und jüdischen sowie antifaschistischen Liedern. Für ihr künstlerisches Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Sie ging in Schulen, trat mit der Band Microphone Mafia auf, die auf verschiedenen Sprachen rappt. Im Mai dieses Jahres hatte sie noch mit einer Lesung an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten in Hamburg erinnert. Damit das, was sie erleben musste, nie wieder passiert.
Die Musiker Kutlu und Rossi von der Microphone Mafia hätten sie mittlerweile "eingeenkelt", erklärt Bejarano einmal im Gespräch mit dieser Zeitung. "Wir sind Juden, Christen und Muslime - und wir harmonieren wunderbar zusammen." Kutlu ergänzte: "Das hätte nie funktioniert, wenn wir nicht gelernt hätten, uns über die Musik hinaus zu verstehen." Er fügte hinzu: "Esther ist nicht nur Überlebende, sondern eine großartige Künstlerin!"
2020 startete sie eine Petition, in der sie forderte, den 8. Mai als Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa zum bundesweiten Feiertag zu machen. In einem Offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte sie damals: Der 8. Mai, Tag der Kapitulation Hitler-Deutschlands und der Befreiung vom NS-Regime, muss ein Feiertag werden - allein, um ein Zeichen zu setzen.
Unerträglich
"Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Nazi-Parolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren", schrieb Bejarano als Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland.
In dem Brief deutete sie auch an, was es heißt, Auschwitz überlebt zu haben: "Die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Alpträume in den Nächten." Dem stellte sie eine Kontinuität des Wegschauens gegenüber, "das große Schweigen nach 1945".
Zwar habe sich im Lauf der Jahre eine Erinnerungskultur herausgebildet, aber auch Rechte und Neonazis hätten sich neu formiert. So weit, dass heute "Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als "Vogelschiss in deutscher Geschichte" und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als "Denkmal der Schande" sprechen".
Was also könnte helfen? Vielleicht, wenn man endlich begreifen würde, "dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war".
Politisch
Esther Bejarano war schon lange ein politisch aktiver Mensch. In Israel sang sie in einem kommunistischen Arbeiter-Chor. Sie verließ das Land 1960 auch deswegen, weil sie und ihr Mann mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren.
Nicht unumstritten war ihr Engagement für die linksextremistische und vom Verfassungsschutz beobachtete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die sie sogar als Kandidatin in Hamburg aufstellen wollte. Kritik von Seiten der jüdischen Gemeinschaft gab es ebenfalls an ihrer Nähe zur israelfeindlichen BDS-Bewegung.
Wenn sie über die letzten Kriegstage sprach, erzählte sie von ihrer panischen Angst vor der Ostsee. Als die Alliierten immer näher rückten und die Befreiung schon in greifbarer Nähe war, zwangen die Nazis sie und weitere Häftlinge aus Ravensbrück in einen ihrer berüchtigten Todesmärsche. Wer nicht mehr gehen konnte und auf den Boden sackte, wurde erschossen. Es ging nach Norden, geradewegs auf die Ostsee zu, habe sie damals geglaubt. "Ich dachte, sie werden uns dort rein treiben und sterben lassen", erinnerte sich Bejarano.
Sie konnte sich von dem Todesmarsch retten, mit einigen Freundinnen gelang ihr in einem Waldstück die Flucht. Die Erinnerung an die Angst blieb. Und die kam zuletzt wieder hoch, wenn sie die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sah: "Das ist das erste, was ich denke, wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe: "Die wollen uns ertränken"", sagte sie vergangenes Jahr.
Die Künstlerin besuchte seit mehr als 30 Jahren Schulen und führte Zeitzeugen-Gespräche mit Jugendlichen. Bejarano engagierte sich in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. 2012 erhielt sie das Große Bundesverdienstkreuz. Die Hamburgerin traf mit weiteren Holocaust-Überlebenden 2015 Papst Franziskus, der dem Auschwitz-Komitee für die Aufklärungsarbeit in Schulen dankte.
Bejaranos Familie und das Auschwitz-Komitee schrieben am Samstag, sie wollten Bejaranos Auftrag erfüllen: "Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!" (mit ja und dpa)
Lesen Sie mehr in unserer nächsten Print-Ausgabe.
Bildunterschrift: Esther Bejarano (1924 - 2021).
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die tageszeitung Online, 10.07.2021:
Zum Tod von Esther Bejarano / "Wir dürfen nicht schweigen!"
Die Holocaust-Überlebende und Anti-Rechts-Aktivistin Esther Bejarano ist am Samstag im Alter von 96 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf.
Tanja Tricarico
Auf den Tag genau sechs Wochen ist es her, dass wir Esther Bejarano bei uns auf dem Gutshof Neuendorf im Sande gemeinsam mit der Band Microphone Mafia zu Gast hatten. Es war ihr letztes Konzert. Am 10. Juli 2021 ist sie gestorben.
Mit Neuendorf, einem ehemaligen jüdischen Landwerk bei Fürstenwalde im Osten Brandenburgs, verband sie eine besondere Geschichte. 1941 war Esther Bejarano als 16-Jährige auf dem Gutshof Neuendorf interniert worden. Sie musste in einem Blumenladen in Fürstenwalde Zwangsarbeit leisten, bis sie im April 1943 mit anderen jüdischen Jugendlichen von Neuendorf aus zunächst nach Berlin in die Große Hamburger Straße und von dort aus mit dem "37. Osttransport" in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.
Bei ihrem Besuch teilte sie mit uns ihre Erinnerungen an diese Zeit. Daran, dass sie mit den anderen Mädchen im ehemaligen so genannten Schloss des Gutshofes untergebracht war, an die harte Arbeit, an die Unterdrückung durch die SS, an die beschwerlichen Momente auf dem Hof und nach ihrer Deportation. "Als wir im Konzentrationslager waren, haben sich einige Freundinnen von mir das Leben genommen: Sie sind in den Stacheldraht gegangen, der elektrisch geladen war. Das hätte ich niemals gemacht."
In Auschwitz-Birkenau war Bejarano Teil des Mädchenorchesters. Im Auftrag der SS musste die polnische Violinistin Zofia Czajkowska im Frühjahr 1943 eine Musikgruppe zusammenstellen und war auf der Suche nach einer Akkordeonspielerin. Eigentlich spielte Bejarano Klavier. Doch sie wusste, sie musste weg von der schweren Arbeit, vom Steinbrocken schleppen, um "nicht zu Grunde zu gehen". Also meldete sie sich bei Czajkowska und spielte mit dem damals beliebten Schlager "Du hast Glück bei den Frau`n, Bel Ami" aus dem Musikfilm "Bel Ami" des Wiener Regisseurs Willi Forst auf.
Auch dieses Lied interpretierte sie bei ihrem Auftritt in Neuendorf. Der Schlager steht für ihr Überleben in Auschwitz und gleichermaßen für den Horror des Nazi-Regimes. Die Musik begleitete den Weg der Mitgefangenen zur Arbeit und ins Lager zurück. Und es wurde aufgespielt, wenn die Todeszüge zu den Gaskammern fuhren. "Das ist das Schlimmste, was ich erlebt habe in Auschwitz. Ich meine, ich habe ganz schreckliche Dinge gesehen, aber das ist, was mich am meisten bewegt und über die Jahre gequält hat, und das ist bis heute so geblieben", schreibt sie in ihren "Erinnerungen". Esther überlebte Auschwitz und Ravensbrück und konnte auf einem der Todesmärsche schließlich fliehen, gemeinsam mit einigen Freundinnen aus der Zeit in Neuendorf.
1945 wanderte Bejarano nach Palästina aus. Aber vor allem ihr Mann Nissim drängte darauf, wieder nach Deutschland zurückzukehren. 1960 verließ die Familie mit den beiden Kindern Edna und Joram Israel und zog nach Hamburg.
Für den 8. Mai als Feiertag
Esther Bejarano gab uns mahnende Worte mit auf den Weg. "Wenn die Regierung nichts gegen die Nazis tut, dann müssen wir das tun. Wir dürfen nicht schweigen!" Diese Worte hallen weit über ihren Besuch bei uns nach. Gerade in Zeiten, in denen rechtsextremes Gedankengut und antisemitische Angriffe nahezu salonfähig geworden sind. "Wir überleben trotzdem. Wir sind da!" sagte Esther Bejarano während ihres Konzerts in Neuendorf.
Bei all ihren Auftritten zog sie immer wieder Analogien zur AfD, zum rechten Terror, zu den Verbrechen des NSU. Sie trat auf etlichen Demonstrationen, Gedenkveranstaltungen, in Schulen auf und wurde nicht müde, ihre Stimme gegen rechts zu erheben. "Ich habe mich daran gewöhnt, dass die Menschen von mir wissen wollen, was damals geschehen ist. Und ich sehe darin auch einen Sinn. Ich mache es nicht, weil ich meine Geschichte erzählen will, sondern damit diese Geschichte nie wieder passiert." Ihre Botschaft ist auch für uns ein Auftrag.
Sie war Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der BRD e.V. und Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. 2020 forderte sie die Bundesregierung auf, den 8. Mai, den Tag der Befreiung vom Nazi-Terror, zum Feiertag zu erklären. In Berlin wurde dieser Wunsch zum 75. Jahrestag einmalig umgesetzt. Bundesweit nicht.
96 Jahre alt wurde Esther Bejarano. Ein unglaubliches Alter. Als sie nach mehr als sieben Stunden Autofahrt in Neuendorf im Sande eintraf, wollte sie nichts weiter als auf die Bühne, zu ihrem Publikum. Ein Paar Tassen Schwarztee, eine Wärmflasche und eine Decke gegen das unwirtliche Wetter an diesem kühlen Tag Ende Mai - mehr brauchte sie nicht. Fast zwei Stunden lang begeisterte sie uns mit ihren Erzählungen, ihrer Geschichte, ihrer Musik. Uns Erwachsene wie unsere Kinder. "Ich muss was bewirken, und wenn ich es mit meiner Musik tun kann, das macht mich glücklich", beschrieb Bejarano ihren Antrieb, auch im hohen Alter noch auf der Bühne zu stehen. "Für mich ist das wie eine Therapie."
Auf Esther Bejaranos Auftritt in Neuendorf haben wir lange gewartet. Als sie zum Abschluss des Tages mit uns in unserem Gemeinschaftsraum zu Abend aß, haben wir noch abgemacht, dass wir uns auf jeden Fall wiedersehen. "Wenn es euch mit mir so gut gefallen hat, dann komme ich nächstes Jahr wieder", sagte sie. Daraus wird nun nichts.
Wir haben eine Frau kennengelernt, die eine unfassbare Kraft und Stärke ausstrahlte, einen Menschen, der nie ans Aufgeben dachte, sondern nur ans Überleben, ans Weitermachen. Wir sind sehr traurig. Wir werden sie nie vergessen.
Tanja Tricarico ist Vorstand des Vereins Geschichte hat Zukunft - Neuendorf im Sande e.V.
Bildunterschrift: Bis zuletzt wurde sie nicht müde, ihre Stimme gegen rechts zu erheben: Esther Bejarano.
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Perspektive Online, 10.07.2021:
Erfüllen wir Esthers Auftrag: Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht
Als junges Mädchen überlebte Esther Bejarano bei einem Todesmarsch die Flucht aus dem KZ Ravensbrück. In der vergangenen Nacht ist sie im Alter von 96 Jahren friedlich verstorben. Sie hinterlässt zahlreiche unmissverständliche Appelle an uns und die Erinnerung an eine Frau, die ein langes Leben voller Entschlossenheit gegen den Faschismus führte.
Ein Nachruf von Olga Wolf
In der vergangenen Nacht ist mit Esther Bejarano eine mutige Frau, Antifaschistin, Revolutionärin und Musikerin verstorben. Die Nationalsozialisten wollten ihr Leben früh beenden. Doch ihr gelang die Flucht, und so führte sie ein langes Leben, erfüllt von ihrer Liebe zur Musik und ihrem unermüdlichen Antifaschismus.
Esther Bejarano wuchs mit ihrer Familie in einer jüdischen Gemeinschaft auf. Sie selbst beschrieb: "Mit der Religion habe ich nichts zu tun. Aber kulturell hat mir das Aufwachsen in einem jüdischen Elternhaus viel gebracht. Die Liebe zur Musik; ich bin nicht zufällig Sängerin geworden." Dass die Familie als "halb-jüdisch" galt, erschwerte ihre Ausreise, als die Nationalsozialisten die Macht erlangten. So konnte ein Teil der Familie ausreisen - sie, ihre Schwester und Eltern konnten es jedoch nicht.
1941 ermordeten die Hitler-Faschisten Esther Bejanaros Eltern in Kowno, ein Jahr später ihre Schwester in Auschwitz. Sie beschrieb in einem Interview, wie sie von diesen Morden erfuhr:
"Ich wusste zunächst nicht, wie meine Eltern umgekommen sind; ich habe es erst später erfahren. Ich fand ihre Namen in einem Buch, in dem die Transporte von Breslau nach Kowno aufgelistet waren. Die Nazis haben ja ihre Verbrechen bürokratisch festgehalten. Und wenn ich mir vor Augen führe, dass meine Eltern sich in einem Wald nackt ausziehen mussten, man sie mit anderen Opfern in einer Reihe aufgestellt, dann einfach abgeknallt hat und sie dann in einen Graben gefallen sind - das ist für mich das Schlimmste und viel grauenhafter als all das, was ich in Auschwitz erlebt habe."
Zeit in Auschwitz und Ravensbrück
Esther wurde in verschiedene Arbeitslager transportiert, bis schließlich im April 1943 ihre Deportation nach Auschwitz stattfand. Dort verrichtete sie zunächst schwere körperliche Arbeit. Kurz darauf konnte sie jedoch ins Mädchenorchester wechseln. Dafür eignete sie sich innerhalb kürzester Zeit das Akkordeon-Spiel an und wechselte nach einer Krankheitsphase zur Blockflöte. Später beschrieb sie diese Arbeit im Orchester als furchtbar, denn sie wusste, sie spielte das "Todeslied" für Deportierte. Doch bedeutete ihr Einsatz im Orchester auch, dass sie besser mit Lebensmitteln versorgt wurde.
Nach einer weiteren langen Krankheitsphase wurde Esther als "viertelarisch" anerkannt. Es folgte ihre Verlegung ins KZ Ravensbrück und die Zwangsarbeit für Siemens. Ab dem Jahr 1945 sollte sie nicht mehr den so genannten Judenstern tragen, sondern musste sich als politische Gefangene mit dem "roten Winkel" kennzeichnen. Der rote Winkel auf gestreiftem Hintergrund - symbolisch für die Kleidung der KZ-Häftlinge - stellt auch das Emblem des VVN-BdA dar. In dieser "Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund des Antifaschistinnen und Antifaschisten" engagierte Esther sich später. Sie ist bis heute Ehrenpräsidentin des VVN-BdA und kämpfte gegen die aktuelle Repression gegen den Verein.
Erfolgreiche Flucht
Als die Alliierten immer weiter vorrückten, organisierten die deutschen Faschisten die inzwischen so genannten "Todesmärsche". Häftlinge in Lagern, die nahe den Reichsgrenzen waren, wurden ins Reichsinnere getrieben. Todesmärsche heißen diese Umzüge, weil viele sie nicht überlebten. Sie verhungerten oder erfroren, starben an Erschöpfung oder gerieten unter Beschuss.
Esther gelang es mit einigen Freundinnen aus dem KZ, auf diesem Todesmarsch zu fliehen. Sie versteckte sich, kam unter und nannte später den 3. Mai ihren zweiten Geburtstag. An diesem Datum befreiten Soldatinnen, Soldaten der Roten Armee und der US-Armee die Geflüchteten endgültig.
Sie reiste nach Palästina aus, machte eine Ausbildung zur Sängerin und gründete eine Familie. Die Musik verband sie immer auch mit ihrem politischen Einsatz, etwa wenn sie mit ihren Kindern Lieder aus dem Ghetto aufführte. 1960 kehrte sie nach Deutschland zurück. Sie beschreibt die Einreise selbst als Rückkehr, aber noch nicht als Heimkehr, und erklärte noch vor vier Monaten: "Solange es hier Nazis gibt, kann ich nicht sagen, Deutschland ist meine Heimat."
Gegen den Faschismus in Deutschland
Auf ihre Rückkehr folgten Jahrzehnte des entschlossenen und vielfältigen Einsatzes gegen den Faschismus und das Vergessen. Sie trat mit verschiedenen antifaschistischen Bands auf, engagierte sich im VVN-BdA und begegnete Schülerinnen, Schülern als Zeitzeugin, die immer wieder Appelle an die jüngere Generation richtete: "Ihr seid nicht schuld an dieser schrecklichen Zeit, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über die Geschichte wissen wollt."
Ihre Botschaften an die nachfolgenden Generationen sind vielzählig und unmissverständlich. Es war ihr ein besonderes Anliegen, alle, die nach ihr kommen, an die Verbrechen der Vergangenheit zu erinnern, damit sie die der Gegenwart bekämpfen und eine bessere Zukunft erschaffen können. Zuletzt möchte ich an dieser Stelle wiedergeben, was Esther Bejarano einmal, gemeinsam mit Peter Gingold, selbst als ihr Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen formuliert hat.
So schrieb sie 1997 gemeinsam mit Gingold, der ebenfalls als Widerständiger den Hitler-Faschismus überlebte:
"Appell an die Jugend"
"Der Nazi-Hölle entronnen, dem so genannten "Tausendjährigen Reich", das für uns tatsächlich wie tausend Jahre war, jede Stunde, jeden Tag den Tod vor den Augen. Diese entsetzliche Zeit hinter uns, träumten wir von einem künftigen Leben ohne Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Militarismus. Wir wollten, dass unsere unmenschlichen Erfahrungen eine Warnung für die Nachwelt sein würden. ( … )
Wir setzen auf eine Jugend, höllisch wachsam gegen alles, das wieder zu einer ähnlich braunen Barbarei führen könnte; eine Jugend, die nicht wegsieht, wo Unrecht geschieht, wo Menschenrechte verletzt werden; eine Jugend, die sich in die Tradition des antifaschistischen Widerstandes zu stellen vermag, eine Jugend, die diese Tradition aufnimmt und auf ihre eigene Art und Weise weiterführt. Wir glauben, dass dafür eure Herzen brennen können, dass euer Gewissen nicht ruhen wird.
Lasst euch nicht wegnehmen, was ihr noch an demokratischen und sozialen Errungenschaften vorfindet. Lasst sie nicht weiter abbauen! Von keinem Regierenden sind sie euch geschenkt worden: Es sind vor allem die Errungenschaften des antifaschistischen Widerstandes, der Niederringung des Nazi-Faschismus. Verteidigt, was ihr noch habt, verteidigt es mit Klauen und Zähnen! ( … )
Übernehmt ihr nun diesen immer noch zu erfüllenden Auftrag: ein gesichertes menschenwürdiges Leben im friedlichen Nebeneinander mit den Völkern der Welt! Sorgt dafür, dass aus der Bundesrepublik ein dauerhaftes, antifaschistisches, humanes, freiheitliches Gemeinwesen wird, in dem einem Wiederaufflammen des Nazismus, nationalem Größenwahn und rassistischen Vorurteilen keinen Raum mehr gegeben wird. Wir vertrauen auf die Jugend, wir bauen auf die Jugend, auf euch!"
Immer wieder erneuerte Esther Bejarano diesen Appell. Von jetzt an begleitet sie uns nicht mehr als Zeitzeugin in unseren Schulklassen, als Musikerin auf den Friedensfestivals oder in den ersten Reihen im Kampf gegen staatliche Repression an Antifaschistinnen, Antifaschisten. Aber Esther Bejarano begleitet uns als Vorbild für unerschütterlichen und unermüdlichen Kampf für eine solidarische Welt. Wir halten das Versprechen, das sie uns abgenommen hat und führen ihren Auftrag fort.
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Hamburger Morgenpost Online, 10.07.2021:
Hamburger Politiker würdigen KZ-Überlebende Esther Bejarano
10.07.2021 - 16.56 Uhr
Zahlreiche Hamburger Politiker haben die am Samstag in der Hansestadt gestorbene Jüdin und KZ-Überlebende Esther Bejarano als außergewöhnliche Bürgerin, Künstlerin und Aktivistin gewürdigt. Dabei hoben sie vor allem ihren unermüdlichen Einsatz gegen Antisemitismus und Rassismus hervor. "Mit dem Tod von Esther Bejarano verliert Hamburg eine außergewöhnliche Bürgerin, die sich bis ins hohe Alter für das Gemeinwohl engagierte", sagte Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) laut Mitteilung.
Bejarano war am Samstagmorgen nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 96 Jahren in ihrer Wahlheimat Hamburg gestorben. Sie überlebte den Holocaust, weil sie im Mädchenorchester von Auschwitz spielte. Bejarano engagierte sich Jahrzehnte lang gegen Rechtsextremismus, wofür sie zahlreiche Auszeichnungen erhielt.
Esther Bejarano: Hamburger Politiker ehren KZ-Überlebende
Nachdem sie als junge Frau Nazi-Verfolgung, Zwangsarbeit und die Deportation nach Auschwitz überlebt hatte und 1960 aus Israel nach Hamburg gezogen war, habe sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht, für Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit einzutreten. "Mit ihren oft streitbaren Wortmeldungen hat sie über viele Jahrzehnte wichtige Impulse für Demokratie, Erinnerungskultur und Gleichberechtigung gegeben", sagte Tschentscher.
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin und Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) teilte mit, Bejarano habe "wie kaum jemand an die Gräuel der NS-Verbrechen erinnert und jahrzehntelang Menschen aller Altersgruppen für dieses Thema wachgerüttelt". Mit dem Tod der Zeitzeugen endeten auch die persönlichen Erinnerungen an die Verbrechen der Nazi-Diktatur und der Shoah. "Ihre unerschütterliche Stimme gegen Rassismus und Antisemitismus werden wir schmerzlich vermissen."
Hamburgs Kultursenator Carsten Brodsa (SPD) zufolge hat Bejarano "die Erinnerungskultur unseres Landes geprägt wie kaum eine zweite Persönlichkeit". Sie habe als Künstlerin und Aktivistin ein Leben lang an die Verbrechen der Shoah erinnert und diese Arbeit mit dem Kampf gegen Hass, Diskriminierung und rechte Gewalt verbunden. "Sie war ein großer Mensch. Ihre Stimme wird schmerzlich fehlen. Aber ihre Botschaft wird hoffentlich noch lange nachklingen und gehört werden."
Esther Bejarano: Aktivistin und Künstlerin setzte sich gegen Hass, Diskriminierung und Gewalt ein
Hamburgs Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit würdigte Bejarano als "eine bewundernswerte, beeindruckende Persönlichkeit mit einer starken klaren Haltung". Sie habe sich niemals den Mut nehmen lassen, mit der Macht der Worte und der Musik gegen Unterdrückung und Diktatur anzugehen. "Ihre Botschaften gegen das Vergessen und für den Frieden werden bleiben, sie sind eine immerwährende Aufgabe, der wir uns voller Überzeugung gemeinsam stellen."
Die Linken-Fraktion der Hamburgischen Bürgerschaft bezeichnete Bejarano als "eine unermüdliche Kämpferin gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus". "Sie hat uns über viele Jahre inspiriert, angespornt und ermutigt - ob es darum ging, Nazis auf der Straße entgegenzutreten, die Aufklärung der NSU-Morde einzufordern oder im Parlament für antifaschistische Politik zu streiten", sagte Fraktionsvorsitzende Sabine Boeddinghaus. Das Andenken an sie sei für die Partei mit einem klaren Auftrag verbunden: "Niemals aufgeben im Kampf gegen den Faschismus!" (mp/dpa)
Bildunterschrift: Zahlreiche Hamburger Politiker haben die am Samstag in der Hansestadt gestorbene Jüdin und KZ-Überlebende Esther Bejarano als außergewöhnliche Bürgerin, Künstlerin und Aktivistin gewürdigt.
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Hamburger Morgenpost Online, 10.07.2021:
Die Akkordeonspielerin von Auschwitz: Esther Bejarano mit 96 gestorben
10.07.2021 - 12.22 Uhr
Es schien so, als würde dieser Frau nie die Kraft ausgehen. Obwohl hochbetagt hat sie bis zuletzt lautstark Stellung bezogen gegen Rassismus, gegen die Gefahr von Rechts. Noch bis vor wenigen Monaten ist sie sogar regelmäßig auf Tournee gewesen mit ihrer Rap-Band "Microphone Mafia" und hat Musik gemacht - Musik gegen Intoleranz und gegen das Vergessen.
Aber auch Esther Bejaranos Kräfte waren endlich: Am Sonnabend früh um 4.40 Uhr ist sie im Israelitischen Krankenhaus ganz friedlich eingeschlafen. Freunde waren in den letzten Tagen immer bei ihr. Auch als es zu Ende ging, war sie nicht allein. 96 Jahre alt ist "Krümel" geworden - so wurde sie in Anspielung auf ihre 1,47 Meter Körpergröße von Freunden genannt.
Hamburger Politiker würdigen Esther Bejarano
Esther Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz das Akkordeon spielte und wohl nur auf Grund dieser Funktion den Holocaust überlebte, hatte noch große Pläne: Seit längerem kämpfte sie darum, dass die Bundesrepublik das nachholt, was ihrer Meinung nach seit 70 Jahren überfällig ist: den 8. Mai, den Tag der Befreiung vom Faschismus, zum Feiertag zu erheben. Damit konnte sie sich nicht durchsetzen.
Der Tod Esther Bejaranos erschüttert viele Menschen in dieser Stadt. Wolfgang Kopitzsch, Ex-Polizeipräsident und Vorsitzender des Arbeitskreises ehemals verfolgter und inhaftierter Sozialdemokraten, sagt: "Esther war für uns immer ein leuchtendes Vorbild im Kampf gegen Rechts und mit ihrer so wundervollen Persönlichkeit viel mehr als eine stete Mahnung für Menschlichkeit und Solidarität. Ihre Warmherzigkeit, in enger Verbundenheit mit ihrem unermüdlichen Einsatz, bleibt unvergessen. Wir trauern und gedenken der lieben Verstorbenen in aufrichtiger und tiefer Anteilnahme!"
1924 kommt sie in Saarlouis zur Welt - ihr Vater ist Oberkantor in der Jüdischen Gemeinde
Wer war Esther Bejarano? Sie wird am 15. Dezember 1924 als Esther Loewy in Saarlouis geboren. Ihr Vater Rudolf Loewy ist Oberkantor der Jüdischen Gemeinde in Saarbrücken, also im damals von Deutschland abgetrennten Saargebiet. Als das Saarland 1935 ins Deutsche Reich eingegliedert wird, ist Esther elf. Im Interview mit der MOPO erinnert sie sich vor kurzem: "Ich sehe noch, wie Hitler im offenen Wagen durch Saarbrücken fuhr. Alle haben gejubelt und den Hitler-Gruß gezeigt. Ich aber habe in der Menge gestanden und gedacht: Oh Gott, was soll jetzt werden? Wir hatten ja gehört, was im Rest des Landes mit den Juden geschah."
Ihren Vater nennt Esther einen deutschen Patrioten. "Das mit den Nazis hat er nicht so ernst genommen. Er war sicher, Hitler werde nach drei, vier Monaten wieder weg sein vom Fenster. Das deutsche Volk werde es nicht zulassen, dass Hitler den Juden was tut. Meine Mutter war da viel realistischer: Sie hat immer wieder darauf gedrungen, dass wir das Land verlassen. In Deutschland gebe es für Juden keine Zukunft mehr."
Rudolf Loewy wird während der Pogrome des 9. November 1938 verhaftet und schwer misshandelt. Als er empört die SA- und SS-Männer darauf hinweist, dass er im Ersten Weltkrieg vier Jahre fürs Vaterland gekämpft habe und sie so mit ihm nicht umgehen dürften, bekommt er zur Antwort, er solle das Maul halten. "Spätestens da wurde ihm klar", so Esther Bejarano, "was für ein großer Fehler es war, nicht längst emigriert zu sein".
Schon 1937 sind Esthers ältere Geschwister aus Deutschland ausgewandert. Der Bruder in die USA, die Schwester nach Palästina. Nach seiner Entlassung aus der Nazi-Haft versucht der Vater alles, auch den Rest der Familie außer Landes zu bringen. "Viel Geld hatten wir nicht, eine Ausreise nach Übersee war daher unmöglich." Der Vater bewirbt sich bei einer jüdischen Gemeinde in der Schweiz - wird aber abgelehnt, und zwar wegen seiner nicht jüdischen Mutter. Nur "Volljuden" kämen für diese Anstellung in Frage, so die Begründung. Esther Bejarano wütend: "Auch das war Rassismus."
Esther Bejaranos Eltern werden 1941 in Litauen ermordet
1941 werden Rudolf Loewy und seine Frau nach Kowno in Litauen deportiert. Dass die Nazis sie dort sofort nach Ankunft ermorden, erfährt Esther erst nach dem Krieg. "Wenn ich daran denke, dass sie sich in einem Wald nackt ausziehen, sich mit anderen Opfern in einer Reihe aufstellen mussten und dann einfach abgeknallt wurden und in eine Grube fielen, dann wird mir heute noch schlecht."
Esther selbst befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem zionistischen Vorbereitungslager für die Auswanderung nach Palästina in der Nähe von Berlin. Das Lager wird 1941 von den Nazis geschlossen. Sie muss Zwangsarbeit leisten, bevor sie am 20. April 1943 - sie ist 18 Jahre alt - zusammen mit 1.000 weiteren Juden aus Berlin deportiert wird. Der Elendszug kriecht drei Tage Richtung Osten. Erst in Auschwitz öffnen sich die Türen der Viehwaggons wieder. Überall stehen SS-Männer mit Maschinenpistolen, um die Juden in Empfang zu nehmen.
Esther und die anderen müssen sich nackt ausziehen, die Haare werden kahlgeschoren. Ein Wachmann tätowiert ihr mit Nadel und blauer Tusche die Nummer 41.948 unter die Haut, dann wird sie zu Schwerstarbeit eingeteilt: Steine schleppen. Zu essen gibt es wässrige Suppe, in der fauliges Gemüse und Kartoffelschalen schwimmen. Die Rationen sind so bemessen, dass Häftlinge nach drei bis maximal sechs Monaten fast verhungert sind. Dann kommen sie ins Gas.
Sie spielt das Akkordeon im Mädchenorchester von Auschwitz
Es ist die Musik, die Esther Bejarano das Leben rettet: Die SS beauftragt eine ehemalige polnische Musiklehrerin damit, ein Lagerorchester aufzubauen, und Esther wird von der Orchesterleiterin gefragt, ob sie Akkordeon spielen kann. Das kann sie nicht, aber sie sagt ja - und bringt sich das unbekannte Instrument in Windeseile selbst bei. Dabei kommt ihr zugute, dass sie sehr musikalisch ist und schon seit Kindertagen Klavier spielt.
Morgens, wenn die Arbeitskolonnen rausmarschieren, und am Abend, wenn sie zurückkommen, steht das Orchester am Tor und macht Musik. "Besonders schlimm war, dass wir auch spielen mussten, wenn die Züge mit den neuen Häftlingen eintrafen", so Esther. "Die Leute haben uns zugewinkt, haben wohl gedacht: Wo Musik gespielt wird, kann es so schlimm nicht sein. Es war furchtbar, denn wir wussten genau: Die gehen jetzt ins Gas und wir können nichts machen."
Sie erkrankt an Typhus und wird ins Krankenlager für jüdische Gefangene gebracht. Weil Juden keine Medikamente erhalten, sind die Überlebenschancen gleich null. Doch dann ist es ausgerechnet einer der schlimmsten Schlächter, der sie rettet: der SS-Mann Otto Moll, der "Henker von Auschwitz", Herr über Gaskammern und Krematorien, bekannt dafür, dass er mit vier Schäferhunden an der Leine durchs Lager geht und die Tiere immer mal wieder auf Gefangene hetzt, die dann einfach tot liegen bleiben.
Moll ist ein Musikfreund und hört oft dem Orchester zu. Eines Tages bemerkt er die Abwesenheit des Akkordeons, erfährt, dass Bejarano krank ist, und befiehlt der Pflegerin, die Patientin auf die Krankenstation für christliche Gefangene zu verlegen und ihr Medizin zu geben. Sollte die Akkordeonspielerin sterben, so Molls Drohung, werde er auch die Pflegerin töten. So überlebt Esther - und versteht bis heute nicht, wieso Moll das für sie tat, denn gesprochen hat sie mit ihm nie.
1943 wird Esther Bejarano ins Frauen-KZ Ravensbrück verlegt
Noch einmal hat Esther riesiges Glück: Und zwar im Herbst 1943, als auf Initiative des Internationalen Roten Kreuzes wenigstens solche Insassen Auschwitz verlassen dürfen, die in den Augen der Nazis "Mischlinge" sind, also teilweise "arische" Vorfahren haben. "So hat mir meine christliche Großmutter am Ende das Leben gerettet", sagt Esther Bejarano und seufzt.
Sie wird mit 70 anderen Frauen ins KZ Ravensbrück verlegt, wo sie schwer arbeiten muss. "Erst schob ich Kohlenloren, später habe ich für die Firma Siemens in der Rüstungsproduktion gearbeitet. Wir haben Schalter für Unterseeboote montiert - und wann immer ich konnte, habe ich die Dinger falsch zusammengesetzt."
Ende April 1945 nähert sich die Rote Armee dem KZ, und die SS schickt die Gefangenen auf Todesmärsche. "Es war unbeschreiblich. Wer hinfiel, wer nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen und blieb liegen. Es ist ein Wunder, dass ich das überlebt habe." In einem Waldgebiet zwischen Karow und Plau am See gelingt Esther und sieben anderen Frauen die Flucht. "Wir sind gelaufen und gelaufen und gelaufen, bis wir keine Kraft mehr hatten. Wir haben dann einen Bauern gefragt, ob wir bei ihm übernachten können und ob er was zu essen für uns hat. Wir durften in der Scheune bleiben und er hat uns einen ganzen Eimer mit Kartoffeln hingestellt."
Am 3. Mai 1945: "Der Krieg ist aus, Hitler kaputt!"
Am nächsten Tag, es ist der 3. Mai 1945, erlebt sie mit, wie in Lübz amerikanische und sowjetische Soldaten aufeinandertreffen, sich einander vor Freude in die Arme fallen. Ein Russe brüllt: "Der Krieg ist aus, Hitler kaputt!" und schleppt ein großes Hitler-Porträt auf den Marktplatz. "Was war das für ein Fest! Ich habe auf dem Akkordeon amerikanische Songs gespielt, und die Russen, die Amerikaner und die Frauen aus dem KZ haben rund um das brennende Hitler-Bild getanzt und gelacht. Das war meine zweite Geburt."
Was soll Esther Bejarano jetzt tun? Ihre Eltern sind tot, auch ihre Schwester Ruth haben die Nazis ermordet. Lebende Angehörige findet sie in Deutschland nicht mehr vor. Daher fällt sie den Entschluss, in Palästina, wo ihre Schwester Tosca mit ihrem Mann lebt, ganz neu anzufangen. Mit dem Dampfer "Mataroa" erreicht sie am 15. September 1945 Haifa.
Esther lebt in Palästina zunächst in einem Kibbuz, arbeitet später in einer Zigarettenfabrik und als Kinderpflegerin, bevor sie in Tel Aviv ein Gesangsstudium beginnt und sich zur Koloratur-Sopranistin ausbilden lässt. 1950 - inzwischen ist der Staat Israel gegründet - heiratet sie Nissim Bejarano, einen jungen Kommunisten, dessen Familie aus Bulgarien stammt und der als Lkw-Fahrer arbeitet. Tochter Edna kommt 1951, Sohn Joram 1952 zur Welt.
Das Ehepaar Bejarano sieht die Palästinenser-Politik Israels äußerst kritisch. Als Ehemann Nissim 1956 wegen des Sinai-Krieges zur Armee eingezogen wird, fällt sein Entschluss, nie wieder eine Uniform anzuziehen. Esther Bejarano sagt: "Ich bin von den Nazis diskriminiert worden - und jetzt soll ich mitansehen, wie mein Volk ein anderes diskriminiert? Auf keinen Fall. Uns war klar: Wir mussten aus Israel weg."
1960 kehrt Esther Bejarano nach Deutschland zurück
Und so kehrt Esther mitsamt Familie 1960 nach Deutschland zurück. "Freunde hatten uns erzählt, wie schön es in Hamburg ist und dass es da auch gar keine Nazis mehr gäbe. Für mich war nur wichtig, dass es eine Stadt ist, die ich noch nicht kenne. An einem Ort zu sein, an dem ich schon mit meinen Eltern gelebt hatte, das hätte ich nicht verkraftet."
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs spricht Esther nicht mehr über die Nazis, auch nicht über Auschwitz und was sie dort erlebt hat. Sie will das Grauen verdrängen, vergessen. "Mein Mann wusste natürlich, dass ich dort Gefangene gewesen war - aber er stellte nie Fragen, und das war gut so", sagt sie. Ihren Kindern hat sie alles verschwiegen. "Ich dachte, das zu wissen, würde sie nur belasten. Ich wollte, dass wir alle nach vorne blicken."
Das ist Esther Bejaranos Einstellung bis zu einem Tag im Sommer 1978. Doch dann holt die Vergangenheit sie wieder ein. Sie steht gerade in ihrer Modeboutique "Sheherazade" am Hellkamp in Eimsbüttel, als sie draußen Lärm hört, rausgeht und einen Infostand der NPD auf dem Gehweg sieht. "Die verteilten da ausländerfeindliche Flugblätter. Entsetzliche Propaganda."
Der Schlüsselmoment 1976: „Ich konnte es nicht fassen –die Polizei schützte Nazis“
Linke Gegendemonstranten erscheinen, rufen: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" Schließlich mischt sich die Polizei ein und greift mit Gummiknüppeln die linken Gegendemonstranten an. "Ich konnte es nicht fassen. Die Polizei schützte Nazis! Einen der Polizeibeamten habe ich mir dann geschnappt, ihn am Revers gepackt und ihn gefragt, wieso er das tut. "Das sind doch diejenigen, die Deutschland schon mal ins Unglück gestürzt haben", habe ich gesagt. Der Beamte forderte mich auf, ihn loszulassen, sonst werde er mich festnehmen. Da habe ich geantwortet: "Machen Sie doch! Ich habe Schlimmeres erlebt. Ich war in Auschwitz!""
Als dann auch noch ein NPD-Mann hinzukommt und den Polizisten auffordert, die Boutiquen-Besitzerin einzusperren, weil ja bekannt sei, dass "alle Auschwitz-Gefangenen Verbrecher gewesen" seien, da ist Esther Bejarano klar: "Es reicht! Ich bin dann zurück in meine Boutique und habe noch am selben Abend angefangen, mein erstes Buch über mein Leben im Holocaust zu schreiben."
"Der 8. Mai ein Feiertag - überfällig seit sieben Jahrzehnten"
Aus einer schweigenden Frau wird jetzt eine, die den Mund aufmacht. Wenn nötig laut. Esther Bejarano wird Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes und gründet das Auschwitz-Komitee. Sie erzählt vor Schulklassen aus ihrem Leben, damit kommende Generationen erfahren, wohin Hass, Rassismus und Menschenverachtung führen. Sie kritisiert den Umgang mit Flüchtlingen und fordert ein härteres Durchgreifen gegen Rechtsextremismus. Sie tourt mit der Kölner Rap-Band "Microphone Mafia" durchs Land und macht Musik gegen Intoleranz.
2020 überreicht sie dem Bundestag eine Petition, die von mehr als 100.000 Menschen unterzeichnet ist und in der die Forderung erhoben wird, dass der 8. Mai ein Feiertag werden muss. Esther Bejarano damals zur Begründung: "Sonntagsreden gegen wieder erstarkenden Rechtsextremismus reichen nicht. Es muss gestritten werden für die neue Welt des Friedens und der Freiheit. Ein offizieller bundesweiter Feiertag wäre dafür die regelmäßige Verpflichtung."
In einem Nachruf auf die verstorbene Ehrenpräsidentin schrieb gestern die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN-BdA): "Nehmen wir ihre letzte öffentliche Botschaft als Vermächtnis und arbeiten wir weiter daran, dass der 8. Mai endlich auch in Deutschland ein Feiertag wird."
Bildunterschrift: Esther Bejarano, die das Akkordeon im Mädchenorchester von Auschwitz spielte, ist im Alter von 96 Jahren gestorben.
Bildunterschrift: Esther Bejarano auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1938.
Bildunterschrift: Rudolf Loewy, der Vater von Esther. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1941. Im Jahr darauf wird er ermordet.
Bildunterschrift: Die letzte Aufnahme der Mutter: Margarethe Loewy.
Bildunterschrift: Esther Bejarano 1942.
Bildunterschrift: Esther Bejarano mit ihrem Ehemann Nissim 1950.
Bildunterschrift: Esther Bejarano auf einem Foto aus dem Jahr 2020.
Bildunterschrift: Jahrelang machte Esther Bejarano gemeinsam mit der Kölner Rap-Band "Microphone Mafia" Musik gegen Intoleranz.
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Spiegel Online, 10.07.2021:
Zeitzeugin des Holocausts / Esther Bejarano ist tot
10.07.2021 - 12.04 Uhr
Esther Bejarano ist am Samstagmorgen mit 96 Jahren verstorben. Sie überlebte das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und setzte sich jahrzehntelang für Verfolgte des Nazi-Regimes und gegen Neonazis ein.
Erst in diesen Tagen wurden Konzerte und Gespräche mit ihr abgesagt, bis in ihr hohes Alter war sie aktiv. Am Samstagmorgen ist Esther Bejarano mit 96 Jahren in Hamburg verstorben. Das gab Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, per Twitter bekannt. Die Jüdin hatte das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt und setzte sich für die Verfolgten des Nazi-Regimes ein. Sie trat im Internationalen Auschwitz-Komitee und als Sängerin auf.
Die 1924 in Saarlouis geborene Bejarano war im April 1943 als Jüdin ins KZ Auschwitz gebracht worden. Dort spielte sie Akkordeon im Mädchenorchester des Lagers, das täglich den Marsch der Arbeitskolonnen durch das Tor begleitete. Im November 1943 kam sie in das KZ Ravensbrück und wurde als Zwangsarbeiterin im Siemenslager verpflichtet. Bei einem der berüchtigten Todesmärsche der KZ-Häftlinge konnte sie 1945 fliehen. Nach dem Krieg emigrierte sie nach Palästina / Israel und kehrte 1960 mit ihrer Familie nach Deutschland zurück. Seitdem wohnte sie in Hamburg.
Bejarano schloss sich der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten an. 1986 gründete sie das Auschwitz-Komitee für die Bundesrepublik Deutschland, das Bildungsreisen in Konzentrationslager, Zeitzeugen-Gespräche in Schulen und Veranstaltungen gegen das Vergessen organisiert. Als Sängerin stand sie seit 2009 vor allem mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia aus Köln auf der Bühne.
Bildunterschrift: Esther Bejarano: Aktiv gegen Neonazis.
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