www.hiergeblieben.de

18 Artikel , 12.07.2021 :

Pressespiegel überregional

_______________________________________________


Übersicht:


Bayerischer Rundfunk, 12.07.2021:
Ermittlungen in Weiden gegen mutmaßlichen NS-Verbrecher

Hamburger Morgenpost Online, 12.07.2021:
Senat bestätigt: Hamburg plant besondere Ehrung für Esther Bejarano

MiGAZIN, 12.07.2021:
Esther Bejarano - Die Befreite / Die Holocaust-Überlebende starb am Samstag im Alter von 96 Jahren

MiGAZIN, 12.07.2021:
"Nicht zu ersetzen" / Trauer um Holocaust-Überlebende Esther Bejarano

Mitteldeutscher Rundfunk, 12.07.2021:
MDR-Recherchen / "Tickende Zeitbomben": Rechtsextremes "Hammerskin"-Netzwerk auch in Thüringen aktiv

Neues Deutschland Online, 12.07.2021:
Ballstädt-Überfall / Nur Bewährungsstrafen gegen Neonazis

die tageszeitung Online, 12.07.2021:
Urteil zu Neonazi-Überfall in Thüringen / Justiz von vorgestern

die tageszeitung Online, 12.07.2021:
Milde Strafen für Überfall in Ballstädt / Und sie grinsen

Süddeutsche Zeitung Online, 12.07.2021:
Ballstädt-Prozess / Wenn Neonazis triumphieren

Blick nach Rechts, 12.07.2021:
Bewährungsstrafen im Ballstädt-Prozess

Mitteldeutscher Rundfunk, 12.07.2021:
Überfall auf Kirmes-Gesellschaft: Ballstädt-Prozess endet mit Bewährungsstrafen für Rechtsextreme

Süddeutsche Zeitung Online, 12.07.2021:
Urteil im Ballstädt-Prozess / Ein Deal mit Neonazis

Freie Presse Online, 12.07.2021:
Markneukirchen: Unbekannte malen Hakenkreuz auf Straße

Zollern-Alb-Kurier Online, 12.07.2021:
Doch nicht vors Verfassungsgericht: Albstädter akzeptiert Geldstrafe wegen Volksverhetzung

MiGAZIN, 12.07.2021:
Bundesverfassungsgericht / Richter mit NPD-Sympathien ist im Asylverfahren befangen

Spiegel Online, 12.07.2021:
Rechtsextremer Landesverband / Öffentliche Bezeichnung der AfD Thüringen als Prüffall war nicht rechtens

Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 12.07.2021:
Rechtsextreme Chat-Gruppen / Verheerendes Zeugnis für die Polizei

Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 12.07.2021:
Hessische Polizei / Expertenkommission fordert "Neubeginn"

_______________________________________________


Bayerischer Rundfunk, 12.07.2021:

Ermittlungen in Weiden gegen mutmaßlichen NS-Verbrecher

12.07.2021 - 12.24 Uhr

Die Weidener Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen 96-Jährigen aus Unterfranken wegen möglicher Verbrechen im ehemaligen Konzentrationslager Flossenbürg. Über ein früheres Ausweisdokument im Internet wurden die Behörden auf den Fall aufmerksam.

Die Staatsanwaltschaft Weiden ermittelt gegen einen 96 Jahre alten Mann aus Unterfranken, der an Kriegsverbrechen im Konzentrationslager Flossenbürg beteiligt gewesen sein könnte. Das bestätigt der Weidener Oberstaatsanwalt Christian Härtl. Derzeit wird geklärt, in welchem Gesundheitszustand der Mann ist und ob er überhaupt verhandlungsfähig wäre.

Wehrpässe im Internet

Ob er aber tatsächlich im KZ Flossenbürg Dienst tat und wo er konkret im Lager eingesetzt gewesen sein soll, ist noch offen. Ins Rollen brachte die Ermittlungen die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Das tschechische Militärarchiv in Prag stellte vor einigen Jahren mehr als 1.000 Wehrpässe von SS-Angehörigen frei zugänglich ins Internet - darunter auch den des 96-Jährigen aus Unterfranken. Darin steht eine Zuweisung ins KZ Flossenbürg. Oberstaatsanwalt Christian Härtl muss nun herausfinden, ob der Mann an NS-Verbrechen beteiligt gewesen sein könnte. Seit April beschäftigt er sich damit.

Staatsanwalt ermittelte bereits in anderem Fall

Dem Wehrpass zufolge gehörte der 96-Jährige dem SS-Totenkopf-Sturmbann an. Die Staatsanwaltschaft Weiden ist zuständig, weil Flossenbürg in ihrem Einzugsgebiet liegt. Von 2012 bis 2014 ermittelte Oberstaatsanwalt Christian Härtl schon einmal gegen einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher. Johann Breyer soll in Auschwitz Dienst an der Rampe getan haben. Er wohnte vor seiner Auswanderung in die USA einige Jahre in Pirk bei Weiden. Einen Tag, bevor endgültig über seine Auslieferung nach Deutschland entschieden worden wäre, starb Breyer 2014 im Alter von 89 Jahren.

_______________________________________________


Hamburger Morgenpost Online, 12.07.2021:

Senat bestätigt: Hamburg plant besondere Ehrung für Esther Bejarano

12.07.2021 - 17.11 Uhr

Am Samstag verstarb die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren im israelitischen Krankenhaus. Mehrere Stimmen, darunter die Hamburger Linksfraktion, forderten bereits, eine Straße oder Schule nach ihr zu benennen. Die MOPO fragte beim Senat bezüglich der aktuellen Planungen nach.

Sabine Boeddinghaus, Linken-Fraktionsvorsitzende, sagte am Montag, dass Bejarano mit ihrer Haltung, ihrem Engagement gegen Antisemitismus und ihrem Optimismus ein Vorbild sei.

Die am Samstag in Hamburg gestorbene Esther Bejarano hatte das KZ Auschwitz überlebt, weil sie dort Akkordeon im Mädchenorchester spielte. Ihre Eltern wurden von den Nazis ermordet, eine Schwester auch. 1960 siedelte sie nach Hamburg über. Bis zu ihrem Tod war Bejarano unter anderem Vorsitzende des Auschwitz-Komitees und hat sich gegen Rassismus und Antisemitismus stark gemacht.

"Sie hat ihre Stimme genau deshalb mit einer unglaublichen Kraft erhoben gegen alle Formen rechter Hetze und Gewalt. Hamburg hat ihr so viel zu verdanken, es ist nur angemessen, wenn der Senat nun rasch handelt und einen wichtigen Ort oder eine Schule in unserer Stadt nach Esther Bejarano benennt", sagte Boeddinghaus.

Auf MOPO-Nachfrage heißt es diesbezüglich aus dem Senat: "Der Erste Bürgermeister Peter Tschentscher unterstützt den Vorschlag, eine Straße oder einen öffentlichen Platz nach Esther Bejarano zu benennen", so ein Sprecher. "Der Senat wird prüfen, wie eine Würdigung von Frau Bejarano in diesem Sinne erfolgen kann und welche Straßen oder öffentlichen Plätze hier konkret in Frage kommen."

Bildunterschrift: Die Hamburger Linke fordert, eine Straße oder Schule nach der gestorbenen KZ-Überlebenden Esther Bejarano zu benennen. Auch der Senat befürwortet die Idee.

______________________________________________


MiGAZIN, 12.07.2021:

Esther Bejarano - Die Befreite / Die Holocaust-Überlebende starb am Samstag im Alter von 96 Jahren

12.07.2021 - 05.24 Uhr

Esther Bejarano überlebte Auschwitz und das KZ Ravensbrück. Nun ist sie am Samstag gestorben. Bis kurz vor ihrem Tod erzählte sie jungen Menschen von den Verbrechen der Nazis - und fürchte mehr denn je eine Wiederkehr des Schreckens.

Von Sebastian Stoll und Franziska Hein

"Ich will die Menschen aufklären, was damals geschah. Man darf nicht schweigen und nicht vergessen", sagte die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano einmal. Mit "damals" meinte sie die NS-Diktatur.

Wer Esther Bejarano zuletzt traf, sah eine kleine Frau mit grauen Haaren, die zart und resolut zugleich wirkte. Sie hat Auschwitz überlebt, verlor im Holocaust ihre Eltern und ihre Schwester. Nun ist sie im Alter von 96 Jahren gestorben, wie ihre Familie und das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland am Samstagmorgen in Hamburg mitteilten. Bejarano sei nach kurzer schwerer Krankheit am frühen Samstagmorgen gestorben. Sie sei nicht allein gewesen, Familie und Freunde waren in den letzten Tagen bei ihr.

Die geborene Esther Loewy aus Saarlouis, Tochter eines jüdischen Kantors, war 16 Jahre alt, als ihre geplante Ausreise nach Palästina scheiterte, und sie Zwangsarbeiterin in Brandenburg wurde. Zwei Jahre später, 1943, deportierten die Nazis sie nach Auschwitz. Sie überlebte als Akkordeonspielerin im "Mädchenorchester", kam dann ins KZ Ravensbrück, konnte schließlich von einem "Todesmarsch" fliehen.

"Für uns Überlebende unerträglich"

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Esther Bejarano einige Jahre in Israel, heiratete, bekam zwei Kinder - bis es die Familie 1960 nach Deutschland zurückzog. Von Hamburg aus mischte sie sich bis kurz vor ihrem Tod immer wieder ein in Debatten. Sie ging in Schulen, trat mit der Band Microphone Mafia auf, die auf verschiedenen Sprachen rappt. Damit das, was sie erleben musste, nie wieder passiert.

2020 startete sie eine Petition, in der sie forderte, den 8. Mai als Jahrestag des Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa zum bundesweiten Feiertag zu machen. In einem Offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte sie damals: Der 8. Mai, Tag der Kapitulation Hitler-Deutschlands und der Befreiung vom NS-Regime, muss ein Feiertag werden - allein, um ein Zeichen zu setzen. "Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Nazi-Parolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren", schrieb Bejarano als Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland.

"Das große Schweigen nach 1945"

In dem Brief deutete sie auch an, was es heißt, Auschwitz überlebt zu haben: "Die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Alpträume in den Nächten." Dem stellte sie eine Kontinuität des Wegschauens gegenüber, "das große Schweigen nach 1945".

Zwar habe sich im Lauf der Jahre eine Erinnerungskultur herausgebildet, aber auch Rechte und Neonazis hätten sich neu formiert. So weit, dass heute "Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als "Vogelschiss in deutscher Geschichte" und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als "Denkmal der Schande" sprechen". Was also könnte helfen? Vielleicht, wenn man endlich begreifen würde, "dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war".

"Ich wollte nicht in den Krieg ziehen"

Esther Bejarano war schon lange ein politisch aktiver Mensch. In Israel sang sie in einem kommunistischen Arbeiter-Chor. Sie verließ das Land 1960 auch deswegen, weil sie und ihr Mann mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren: "Ich wollte nicht in den Krieg ziehen."

Wenn sie über die letzten Kriegstage sprach, erzählte sie von ihrer panischen Angst vor der Ostsee. Als die Alliierten immer näher rückten und die Befreiung schon in greifbarer Nähe war, zwangen die Nazis sie und weitere Häftlinge aus Ravensbrück in einen ihrer berüchtigten Todesmärsche. Wer nicht mehr gehen konnte und auf den Boden sackte, wurde erschossen. Es ging nach Norden, geradewegs auf die Ostsee zu, habe sie damals geglaubt. "Ich dachte, sie werden uns dort rein treiben und sterben lassen", erinnerte sich Bejarano.

" … wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe"

Sie konnte sich von dem Todesmarsch retten, mit einigen Freundinnen gelang ihr in einem Waldstück die Flucht. Die Erinnerung an die Angst blieb. Und die kam zuletzt wieder hoch, wenn sie die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sah: "Das ist das erste, was ich denke, wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe: "Die wollen uns ertränken"", sagte sie vergangenes Jahr.

Bejaranos Familie und das Auschwitz-Komitee schrieben am Samstag, sie wollten Bejaranos Auftrag erfüllen: "Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!" (epd/mig)

Bildunterschrift: Esther Bejarano und Kutlu Yurtseven auf der Bühne.

_______________________________________________


MiGAZIN, 12.07.2021:

"Nicht zu ersetzen" / Trauer um Holocaust-Überlebende Esther Bejarano

12.07.2023 - 05.23 Uhr

Bis zuletzt erzählte die ehemalige Auschwitz-Insassin Esther Bejarano jungen Menschen ihre Lebensgeschichte und stand als Musikerin auf der Bühne. Nun ist die Mahnerin und Kämpferin für Menschenrechte im Alter von 96 Jahren gestorben.

Vertreter aus Politik und Gesellschaft haben nach dem Tod von Esther Bejarano an deren Einsatz gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus erinnert. Die deutsch-jüdische Auschwitz-Überlebende war am Samstagmorgen in Hamburg im Alter von 96 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. "Mit ihrem Tod haben wir einen großen Verlust erlitten", schrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Kondolenznote an die Kinder von Bejarano.

Bejarano engagierte sich bis zuletzt im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus und suchte dabei vor allem das Gespräch mit Jugendlichen, um von den Verbrechen der Nazi-Zeit zu berichten. Steinmeier erinnerte daran, dass sie das Auschwitz-Komitee gegründet und damit viele Bildungsreisen in ehemalige Konzentrationslager und Veranstaltungen gegen das Vergessen ermöglicht habe.

Nachdenklichkeit, Versöhnung, Liebe

Sie sei so zu einer legendären Zeitzeugin von Auschwitz geworden, sagte der Exekutiv Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner. "Ihre Gabe, Menschen für die Bewahrung der Erinnerung zu gewinnen, war ebenso legendär wie ihr Zorn über die Dummheit des Rechtsextremismus und den überall hervorbrechenden Antisemitismus, der sie zutiefst verstörte", fügte er hinzu. Sie habe alles dafür unternommen, dass die schrecklichen Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die grauenhaften Auswüchse eines totalitären Staates nicht in Vergessenheit geraten, sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) sagte dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland": "Esther Bejarano stand für Nachdenklichkeit, Versöhnung, ja auch Liebe. Ihre Botschaft war, dass man sich auch von dem Hass des Nationalsozialismus nicht kaputt machen lassen darf."

Bis zuletzt aktiv

Die 1924 in Saarlouis als Tochter eines jüdischen Kantors geborene Esther Loewy wurde 1943 von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Sie überlebte als Akkordeonspielerin im "Mädchenorchester", kam dann ins KZ Ravensbrück, konnte schließlich von einem "Todesmarsch" fliehen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Esther Bejarano einige Jahre in Israel, bevor sie 1960 mit ihrer Familie nach Deutschland zurückkam und sich in Hamburg niederließ.

Bejarano engagierte sich in der "Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten" und im Internationalen Auschwitz Komitee. Sie ging zu Zeitzeugen-Gesprächen in Schulen und trat als Sängerin auf, seit 2009 vor allem mit der Rap-Gruppe Microphone Mafia aus Köln.

"Nicht zu ersetzen"

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und frühere Zentralratspräsidentin der Juden, Charlotte Knobloch, sagte, Bejaranos "Geschichte und ihre Stimme werden nicht zu ersetzen sein, aber ihren Einsatz müssen wir alle weitertragen".

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) erinnerte an einen der letzten Auftritte Bejaranos in Hamburg am 8. Mai und beklagte den Verlust der "Mahnerin und Kämpferin für Menschenrechte, Frieden und eine solidarische Gesellschaft". Bejaranos Familie und das Auschwitz-Komitee schrieben am Samstag, sie wollten in Zukunft Bejaranos Auftrag erfüllen: "Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!" (epd/mig)

_______________________________________________


Mitteldeutscher Rundfunk, 12.07.2021:

MDR-Recherchen / "Tickende Zeitbomben": Rechtsextremes "Hammerskin"-Netzwerk auch in Thüringen aktiv

12.07.2021 - 14.52 Uhr

Von MDR Thüringen

Das Neonazi-Netzwerk der "Hammerskins" prägt das Geschäft mit rechtsextremer Musik. Auch in Thüringen sind mittlerweile Musikversandunternehmen aus dem nahen Umfeld des rechtsextremen Geheimbunds ansässig. Ein Soziologe vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena spricht von "tickenden Zeitbomben".

Das internationale Neonazi-Netzwerk der "Hammerskins" nutzt Thüringen als Rückzugsraum und Geschäftsfeld. Nach MDR-Recherchen sind mittlerweile mindestens drei rechtsextreme Musikversandunternehmen aus dem nahen Umfeld des konspirativen Neonazi-Geheimbunds in Thüringen ansässig. Die drei Szene-Geschäfte wurden bereits Ende 2019 von dem niedersächsischen Rechtsextremisten Nils B. mit einer Postfachadresse in Artern im Kyffhäuserkreis angemeldet. B. soll zum Vertrauenskreis der "Hammerskins" gehören und im rechtsextremen Kampfsport-Netzwerk "Kampf der Nibelungen" aktiv sein. Bei einer Stör-Aktion im Eisenacher Stadtrat Anfang des Jahres war B. mit weiteren Neonazis auf der Besucher-Tribüne anwesend.

Neonazi-Netzwerk in Thüringen: Verfassungsschutz in Sorge

Katharina König-Preuss, Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke im Thüringer Landtag, warnte schon damals vor einer Gefahr durch den Zuzug von Neonazis aus dem Umfeld des rechtsextremen Netzwerks nach Thüringen. König-Preuss beklagt: "Feststellbar ist, dass Neonazis in Thüringen - weitgehend ungehindert - Stück für Stück ihre braune Wohlfühlzone ausweiten können. Auf den Umzug eines bekannten "Hammerskins" nach Thüringen werden auch entsprechende Aktivitäten folgen."

Der Thüringer Verfassungsschutzchef Stefan Kramer sagte dem MDR, man sehe es mit großer Sorge, "wenn insbesondere bundesweit schon aktive Persönlichkeiten aus der rechtsextremistischen Szene und hier auch aus der "Hammerskin"-Szene und aus den subkulturellen Kameradschafts-Kreisen dann ihre Lebensmittelpunkte nach Thüringen verlegen, teilweise auch mit Versandgeschäften, die sie mitbringen, die auch schon seit Längerem etabliert sind."

"Hammerskins" prägen Geschäft mit rechtsextremer Musik

Bis vor wenigen Jahren wurden nach MDR-Recherchen mindestens zwei der Arterner Versandunternehmen von Kadern des "Hammerskin"-Netzwerks geführt. Experten glauben, dass es sich bei dem Inhaberwechsel um ein strategisches Manöver handeln könnte. Im Falle eines Verbots könnten die "Hammerskins" ihre Geschäfte vor dem Zugriff der Behörden schützen, wenn der Inhaber nicht offiziell zum Netzwerk gehört.

Die "Hammerskins" gibt es seit etwa 30 Jahren. Die Neonazi-Organisation ist weltweit aktiv und wie ein Rocker-Club in nationale und regionale Chapter organisiert. Der Bund prägt das Geschäft mit rechtsextremer Musik entscheidend mit. Mitglieder waren immer wieder an rassistischen Angriffen und Anschlägen beteiligt.

Soziologe: "Tickende Zeitbomben"

Der Soziologe Professor Matthias Quent von der Hochschule Magdeburg-Stendal und dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) Jena sagte dem MDR, die "Hammerskins" könnten als harter Kern der organisierten, extrem rassistischen Neonazi-Bewegung betrachtet werden. "Das Netzwerk der "Hammerskins" besteht aus tickenden Zeitbomben. Die Ideologie, die Gewaltbefürwortung, ja sogar die Gewaltaufrufe, die von Bands, von einzelnen Akteuren, aber auch von der Organisation und ihrer gewaltförmigen Ideologie vertreten werden, können jederzeit in Anschläge münden."

Zwar gab es bisher in Thüringen keinen eigenen Ableger, nach MDR-Recherchen veranstalten aber fränkische "Hammerskins" seit Jahren Neonazi-Konzerte in Kirchheim bei Erfurt. Auch bei dem rechtsextremen Großkonzert "Rock gegen Links" in Themar 2017 waren "Hammerskins" aus ganz Deutschland an der Organisation und Durchführung beteiligt.

MDR-Recherchen am Montagabend im Fernsehen

Über das Thema berichtet der MDR zusammen mit dem WDR am Montagabend in der Reihe "Exclusiv im Ersten" mit dem Film "Hammerskins - das geheime Neonazi-Netzwerk" um 21.50 Uhr im Ersten.

_______________________________________________


Neues Deutschland Online, 12.07.2021:

Ballstädt-Überfall / Nur Bewährungsstrafen gegen Neonazis

12.07.2021 - 21.30 Uhr

Juristischer Deal: Milde Urteile gegen Angeklagte wegen Überfall auf Kirmes-Gesellschaft in Ballstädt

Von Sebastian Haak, Erfurt

Wut lag in der Luft, als die gerade verurteilten sieben Neonazis am Montag ein Gebäude auf dem Erfurter Messegelände verließen. Dort war seit Mai gegen sie verhandelt worden. Die Staatsanwaltschaft Erfurt hatte ihnen zur Last legt, im Februar 2014 eine Kirmes-Gesellschaft in Ballstädt im Landkreis Gotha überfallen zu haben. Zehn Menschen waren dabei zum Teil schwer verletzt worden.

Etliche Menschen hatten jeden Verhandlungstag des vor dem Landgericht Erfurt auf Anordnung des Bundesgerichtshofes wieder aufgerollten Verfahrens mit Protestkundgebungen vor Ort begleitet. Auch am Montag schrien sie ihre Empörung über die milden Urteile heraus. Auf T-Shirts war zu lesen: "Justizskandal" oder "Opfer verhöhnt, Täter verwöhnt". Das Gericht verurteilte sieben Beschuldigte zu Bewährungsstrafen in Höhe von einem Jahr, den Hauptangeklagten und einen weiteren Beschuldigten zu Bewährungsstrafen von einem Jahr und zehn Monaten. Sie hätten sich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht, als sie vor mehr als sieben Jahren vermummt "wie ein Rollkommando auf unschuldig Feiernde" einschlugen und -traten, sagte die Vorsitzende Richterin Sabine Rathemacher. Das Verfahren gegen zwei Angeklagte war bereits zuvor gegen Geldauflagen in Höhe von 6.000 beziehungsweise 3.000 Euro eingestellt worden.

Die Richterin verteidigte den Deal mit den Angeklagten. Ohne das Angebot vergleichsweise milder Strafen hätte es keine Geständnisse gegeben, betonte sie. Und ohne diese wäre die Gefahr groß gewesen, die Taten nicht beweisen zu können. Dann wären einige der Täter unter Umständen ganz ohne Strafe davon gekommen, so Rathemacher. Sie verwahrte sich zugleich gegen den Vorwurf, die Justiz sei in Thüringen auf dem rechten Auge blind. Zugleich betonte sie, bei dem Überfall von Ballstädt habe es sich nicht um eine rechtsextremistisch motivierte Tat gehandelt, sondern um einen Akt von Selbstjustiz. An einem von den Angreifern bewohnten Haus in Ballstädt war zuvor eine Scheibe eingeschlagen worden. Sie hätten die Täter im Kreis der Kirmes-Gesellschaft vermutet, so die Richterin.

Die Tat sei zwar durch nichts zu rechtfertigen, aber nicht politisch motiviert. Ein solcher Racheakt hätte sich auch zwischen verfeindeten Motorrad- oder Fußball-Klubs ereignen können. Zudem beklagte Rathemacher minutenlang, es habe unzulässige Versuche gegeben, das Gericht zu beeinflussen. In der öffentlichen Kritik an ihrer Kammer sieht sie einen Angriff auf die Gewaltenteilung und damit auf die Demokratie "in nie dagewesenem Umfang".

Das sieht die Grünen-Landtagsabgeordnete Madeleine Henfling anders. Die Kritik an Gerichten und Staatsanwaltschaften sei ein "wichtiger Bestandteil eines offenen und pluralistischen Diskurses", betonte sie am Montag in Erfurt. Ihre Kollegin von der Linken im Erfurter Parlament, Katharina König-Preuss, sagte: "Auf diesen Staat, auf diese Justiz ist im Kampf gegen rechts kein Verlass."

Bildunterschrift: Soli-Kundgebung des Zivilgesellschaftlichen Bündnisses vor der Messe Erfurt, wo das Landgericht das Urteil im Ballstädt-Prozess verkündet.

_______________________________________________


die tageszeitung Online, 12.07.2021:

Urteil zu Neonazi-Überfall in Thüringen / Justiz von vorgestern

Die Männer, die in Thüringen eine Kirmes-Gesellschaft niedergeprügelt haben, sind vor Gericht zu billig davon gekommen. Das Urteil ist ein Skandal.

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Auch Neonazis haben in der Bundesrepublik Deutschland Anspruch auf ein faires Verfahren. Auch für sie ist der Rechtsstaat da und es gilt die Unschuldsvermutung, solange eine Tat nicht erwiesen ist. Und selbstverständlich muss die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt sein.

Umgekehrt allerdings muss die Justiz, müssen Richter auch aushalten können, wenn die Öffentlichkeit ihr Vorgehen kritisch hinterfragt. Und das ist im Fall des Urteils gegen Neonazis, die Mitglieder einer friedlich feiernden Gesellschaft in der thüringischen Kleinstadt Ballstädt krankenhausreif geprügelt haben, mehr als geboten. Das Landgericht Erfurt hat es nämlich im Namen des Volkes für rechtens erklärt, dass diese politisch einschlägig bekannten Männer mit Bewährungsstrafen davonkommen. Die Tat sei nicht rechtsextremistisch motiviert gewesen, sondern ein Racheakt gewesen, sprach die Richterin.

Ein merkwürdiges Urteil. Da haben Richter und Staatsanwälte inzwischen bundesweit erkannt, dass rechtsradikal motivierte Straftäter mit Härte verurteilt werden müssen. Da erhalten der Mörder von Walter Lübcke und der Attentäter von Halle lebenslange Strafen. Nur im beschaulichen Erfurt hat man offenbar noch nicht erkannt, dass Neonazis keiner Schonung bedürfen. Ihr brutales Vorgehen wird gewertet wie eine beliebige Kneipenschlägerei. Stattdessen ergeht sich die Richterin in Medienschelte gegen die Öffentlichkeit im Allgemeinen und die Nebenklage im Besonderen.

Sieben Jahre sind seit dem Überfall vergangen. In diesen sieben Jahren hat es das Landgericht geschafft, das erste Urteil mangelhaft zu begründen, weshalb der Bundesgerichtshof eine Neuverhandlung bestimmte, und jetzt ein Urteil zu fällen, das den Opfern Hohn spricht und die Täter fröhlich aus dem Gerichtssaal treten lässt. Gericht und Staatsanwaltschaft haben zuletzt einen Deal mit den Angeklagten geschlossen: milde Strafen gegen Geständnisse. Das erspart ein langwieriges Verfahren und verhindert, dass Schuldige möglicherweise mangels Beweisen freigesprochen werden müssen. Jetzt aber tun sie so, als habe die Strafprozessordnung sie zu einem solchen Vorgehen gezwungen. Das ist erstens falsch und vernebelt zweitens die Verantwortung des Gerichts, das den Angeklagten damit die Möglichkeit eröffnete, glimpflich aus der Sache herauszukommen.

Dieses Urteil ist ein Skandal. Es zeugt von einer bemerkenswerten Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen und blendet die vom Rechtsextremismus ausgehenden Gefahren aus, in dem es die politische Relevanz der Tat unberücksichtigt lässt. Und es gibt ein furchtbares Signal an diejenigen aus, für die Menschlichkeit kein Maßstab ist: Man kann Menschen verprügeln und in Todesangst versetzen - und muss dafür kaum Konsequenzen fürchten. Den Opfern der Gewaltexzesse aber fällt die Erfurter Justiz in den Rücken.

Wir waren da schon mal weiter. Erfurt bleibt hoffentlich ein Einzelfall.

Bildunterschrift: Verpixelte Tätowierungen eines Angeklagten im Gerichtssaal Erfurt.

_______________________________________________


die tageszeitung Online, 12.07.2021:

Milde Strafen für Überfall in Ballstädt / Und sie grinsen

Rechtsextreme verübten 2014 einen brutalen Angriff im thüringischen Ballstädt - und kommen nun mit Bewährungsstrafen davon. Die Opfer sind empört.

Konrad Litschko

Erfurt (taz). Es ist ein Rundumschlag, zu dem Richterin Sabine Rathemacher am Montagvormittag ausholt, eine frontale Attacke auf die Nebenklage-Anwältinnen, -Anwälte, auf Teile von Politik und Medien. Man habe in diesem Prozess "einen Angriff auf die Gewaltenteilung in nie da gewesenem Umfang" erlebt, ja einen "Angriff auf die Demokratie", kritisiert Rathemacher. Es habe eine mediale Vorverurteilung stattgefunden, eine "völlig falsche Wahrnehmung" der Rolle des Gerichts, eine Stimmungsmache seitens der Nebenklage. "Viele haben ihren inneren Kompass verloren", so die Richterin. Auf den Gesichtern der Neonazis und ihrer Anwältinnen, Anwälte breitet sich Grinsen aus, einer klopft zustimmend auf den Tisch.

Ein anderer dagegen verfolgt die Worte konsterniert, vorne auf der Bank der Nebenkläger: Maximilian P. Der junge Mann gehörte zur Kirmes-Gesellschaft in Ballstädt, als diese vor sieben Jahren, in der Nacht zum 9. Februar 2014, von Neonazis überfallen wurde - von den neun Angeklagten, die ihm heute gegenüber sitzen. Und die nun zu Bewährungsstrafen bis zu einem Jahr und zehn Monaten verurteilt wurden. Eine Strafhöhe, die Maximilian P. später "völlig unverständlich" nennt. Und auch die Generalkritik der Richterin findet er "unterste Kanone".

Tatsächlich hatte der Überfall in Ballstädt 2014 bundesweit für Entsetzen gesorgt. Die Kirmes-Gesellschaft hatte damals im Kulturzentrum ein Dankesfest gefeiert, als die vermummten Rechtsextremen hineinstürmten. Wer die Scheibe im "Gelben Haus", ihrer Wohngemeinschaft im Ort, eingeschmissen habe, rief der Anführer Thomas W.

Dann schlugen er und die anderen Rechtsextremen zu, selbst auf einen Schlafenden. Nach zwei Minuten blieben Scherben, Blutlachen und zehn teils schwer Verletzte zurück, mit Platzwunden im Gesicht, Knochenbrüchen, abgesplitterten Zähnen, einem verletzten Ohr.

Ein Angriff wie ein "Überfallkommando"

Von einem "Überfallkommando" und einer gemeinschaftlich gefährlichen Körperverletzung spricht Richterin Rathemacher. Die Angeklagten hätten auf die eingeworfene Scheibe "völlig überzogen und ungerechtfertigt" reagiert, es auf Gewalt abgesehen gehabt. "Selbstjustiz und Rache ist nie zu billigen." Die Opfer würden den Angriff wohl nie vergessen. Auch zwei Minuten könnten "sehr, sehr lange sein".

Und dennoch kommen die Rechtsextremen - viele von ihnen seit Jahren Teil der Neonazi-Szene - nun milde davon. Alle erhalten Bewährungsstrafen, ausgesetzt auf bis zu drei Jahre. Einige müssen außerdem bis zu 3.000 Euro an den Förderverein einer Ballstädter Kita entrichten, andere bis zu 300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Gegen einen Angeklagten, der Mitbeschuldigte breit belastet hatte, und eine Angeklagte, die beim Angriff Schmiere stand, wurde das Verfahren schon zuvor vorläufig eingestellt - sie mussten 3.000 und 6.000 Euro Geldauflage zahlen.

Die Milde hat auch mit der langen Verfahrensdauer zu tun: Ein erstes Urteil mit Haftstrafen bis zu dreieinhalb Jahren wurde 2020 vom Bundesgerichtshof aufgehoben, da es mangelhaft begründet gewesen sei. Diesmal einigte sich das Gericht auf Deals mit den Neonazis: Bewährungsstrafen gegen Geständnisse.

Die Rechtsextremen beließen es teils allerdings bei dürren Aussagen.Sie hätten an den Angriff keine Erinnerung mehr, wären aber wohl dabei gewesen, erklärten gleich mehrere. Und auch sie verwiesen auf das eingeworfene Fenster. Die Kirmes-Gesellschaft bestreitet indes bis heute, etwas damit zu tun zu haben. Auch ein Neonazi räumte im Prozess ein, man habe wohl die Falschen getroffen.

Ausdauernder Protest gegen die Deals

Mit Kundgebungen protestierten Linke jeden Prozesstag gegen die Deals. Auch die Anwältinnen, Anwälte der Verletzten verwahrten sich dagegen, verzichteten im Prozess am Ende aus Protest auf ihre Plädoyers. Der Prozess sei eine "Farce" und "ein abgekartetes Spiel" gewesen, kritisierten sie stattdessen in einer Stellungnahme. Die Rechte der Opfer seien übergangen worden. Es sei nur darum gegangen, das Verfahren "schnell vom Tisch zu bekommen". Die milden Urteile stärkten nun die Neonazi-Szene.

Hinzu kommt: Drei der Angeklagten, darunter Thomas W., sitzen derzeit in U-Haft, weil sie mit ihrer rechtsextremen "Turonen"-Truppe Drogenhandel und Geldwäsche in größerem Stil betrieben haben sollen. Ein weiterer, Marcus R., wurde gerade erst wegen des Verdachts eines Sexualdelikts festgenommen. Für eine günstige Sozialprognose spricht das nicht. Dennoch erhalten auch sie Bewährungsstrafen. Richterin Rathemacher bezieht die neuen Vorwürfe in ihr Urteil nicht mit ein - sondern betont hier die Unschuldsvermutung.

Vielmehr teilt Rathemacher in Richtung Nebenklage-Anwältinnen, -Anwälte aus. Diese hätten im Prozess haltlose Vorwürfe gemacht und ihre Mandanten politisch instrumentalisiert. Die Deals verteidigt die Richterin: Diese stünden grundsätzlich erstmal allen Angeklagten zu. Zudem sei es damit gelungen, Geständnisse zu erhalten und trotz dünner Beweislage alle Angeklagten zu verurteilten - andernfalls hätte es auch Freisprüche geben können.

Richterin sieht kein politisches Motiv

Und auch das behauptete politische Motiv gebe es nicht. Es sei um Rache für das kaputte Fenster gegangen, die auch Fußballfans oder Motorradrocker hätte treffen können. "Das hat mit rechter Gesinnung nichts zu tun." Ein kühner Vergleich für eine arglos überfallene Kirmes-Gesellschaft - umso mehr, da der Zuzug der Rechtsextremen ins Dorf zuvor zum Politikum wurde, Demonstrationen inklusive.

Rathemacher aber teilt noch weiter aus. Auch die Politikerinnen, Politiker, die sich gegen die Deals ausgesprochen hätten, hätten die Gewaltenteilung nicht verstanden, erklärt die Richterin. Und die Öffentlichkeit habe zwar ein Recht auf Information, "aber kein Recht auf Einmischung". Zudem könne man schon auch fragen, warum das "Gelbe Haus" mit einem Stein attackiert worden sei. "Gibt es gute Gewalt? Keine Gewalt ist gut."

Die Nebenklage sieht eine Täter-Opfer-Umkehr

Nebenklage-Anwältin Kati Lang spricht von einer "Täter-Opfer-Umkehr" und einer "Verharmlosung rechter Gewalt, die ich so noch nicht erlebt habe". Der Rechtsstaat werde hier zum "zahnlosen Tiger". Es gebe keinen Anspruch auf einen Deal vor Gericht. Und natürlich sei der Angriff von Ballstädt eine politische Tat. Schließlich seien die Neonazis an dem Abend auf der Suche nach "Zecken" gewesen, hätten zuerst ein linkes Projekt in Gotha aufgesucht und dann dem Dorf, das sie gegen sich sahen, eine Lektion erteilen wollen. "Die Tat war ein rechtes Dominanz-Symbol."

Die Rechtsextremen spazieren derweil gut gelaunt aus dem Gericht, auch ihre Gesinnungskameraden auf der Empore sind zufrieden. "Nazis raus"-Rufe schallen ihnen von der Kundgebung entgegen. Einige rufen dort auch: "Justizskandal". Unter den Protestierenden steht auch die Linken-Landtagsabgeordnete Katharina König-Preuss, die das Urteil ebenfalls "eine Schweinerei" nennt. "Das ist heute eine Diffamierung aller, die sich antifaschistisch engagieren oder sich für Betroffene rechter Gewalt einsetzen." Auch der SPD-Abgeordnete Denny Möller spricht von einem "verheerenden Signal" durch das Urteil.

Vor dem Gericht steht da auch Maximilian P., der bei dem Angriff damals verletzt wurde. Auch er nennt die Urteilsverkündung "sehr unangenehm". "Dass damit einer von uns abschließen kann, glaube ich nicht." Auch die Vorwürfe an die Nebenklage-Anwältinnen, -Anwälte sei abwegig. "Als ob wir die Kritik nicht selber üben würden." Und die Neonazis genössen dank der milden Strafen nun einmal mehr "Narrenfreiheit". "Ich würde mich nicht wundern, wenn die heute noch feiern gehen."

Bildunterschrift: Enttäuscht vom Urteil: Demonstrierende am Montag vor dem Verhandlungssaal in Erfurt.

_______________________________________________


Süddeutsche Zeitung Online, 12.07.2021:

Ballstädt-Prozess / Wenn Neonazis triumphieren

12.07.2021 - 18.54 Uhr

Rechtsextreme Schläger kommen in Thüringen mit einer Bewährungsstrafe davon. Es gab einen Deal - die Folgen sind verheerend.

Kommentar von Antonie Rietzschel

Die Bewährungsstrafen für die rechtsextremen Schläger im Ballstädt-Prozess sind skandalös. Und sie sind das bestmögliche Ergebnis eines Verfahrens, das deutschlandweit für Diskussionen gesorgt hat. Skandalös ist, dass mehrfach vorbestrafte Neonazis glimpflich mit einem brutalen Überfall davongekommen sind. Bestmöglich ist das Urteil angesichts der verstrichenen Zeit und der Schwierigkeiten der Justiz, ihnen die Tat nachzuweisen.

Sie waren vermummt, als sie in der Nacht des 8. Februar 2014 im thüringischen Ballstädt eine feiernde Kirmes-Gesellschaft verprügelten. Die Opfer setzten Hoffnung in den Rechtsstaat, erlebten aber eine Justiz, die schwerwiegende Fehler machte und das Verfahren verschleppte. Der Bundesgerichtshof hob ein erstes Urteil nach erfolgreicher Revision auf, weil die Beweise für eine Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung nicht ausreichten.

Als das Landgericht den Prozess Mitte Mai neu aufrollte, zeigte sich, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Die Staatsanwaltschaft hatte mit den Angeklagten einen Deal ausgearbeitet: Die Schläger sollten Bewährungsstrafen erhalten, wenn sie umfassende Geständnisse ablegten. Solche Absprachen sind bei Strafprozessen nicht unüblich, im Ballstädt-Verfahren waren sie unumgänglich. Die Folgen sind jedoch verheerend.

Neonazis triumphieren. Dabei hat sich das rot-rot-grün regierte Thüringen dem Kampf gegen Rechtsextremismus verschrieben. Dieser Kampf scheint zuweilen an den Staatsanwaltschaften und Gerichten zu scheitern. Forschungseinrichtungen, Verbände und Anwälte, die Opfer rechtsextremer Gewalt vertreten, vermuten schon länger einen Systemfehler. Nach einem Neonazi-Überfall auf das Autonome Jugendzentrum Erfurt mussten sich von neun ermittelten Tätern nur zwei vor Gericht verantworten. Ein Angeklagter wurde freigesprochen, das Verfahren gegen den anderen eingestellt. Und das Verfahren zu einem Übergriff auf zwei Jugendliche stellte das Amtsgericht in Nordhausen nach sechseinhalb Jahren wegen überlanger Verfahrensdauer ein.

Das Gericht meint, die Kirmes-Feier sei unpolitisch gewesen, deshalb sei es der rechte Überfall auch

Seit dem Überfall auf die Kirmes-Gesellschaft in Ballstädt sind sieben Jahre und vier Monate verstrichen. Und am Ende wollten weder Staatsanwaltschaft noch Landgericht ein politisches Motiv erkennen, sondern einen Akt der Selbstjustiz für ein eingeworfenes Fenster. Eine Kirmes-Feier sei eine unpolitische Veranstaltung, so die schlichte Argumentation. In der Urteilsbegründung des Gerichts geraten die Angreifer zu einer vom Alkohol enthemmten Truppe.

Dabei gab es auch in Ballstädt eine Vorgeschichte. Dorfbewohner hatten sich mit Demonstrationen und Konzerten gegen die Neonazis gewehrt. Die Stimmung im Ort war schon vor dem Überfall aufgeheizt. Das zerbrochene Fenster erschien den Rechtsextremen als Anlass zum Zuschlagen. Die Angreifer wurden zusammengerufen, weil es angeblich Stress mit Linken gab.

Schaut die Justiz bisweilen nicht genau genug hin? Wer eine solche Frage stellt, offenbart kein fragwürdiges Demokratie-Verständnis, wie es die Vorsitzende Richterin den Medien und der Nebenklage bei der Urteilsverkündung vorgeworfen hatte. Wer eine solche Frage stellt, greift auch nicht per se den Rechtsstaat an. Er oder sie wünscht sich lediglich eine Debatte. Auch innerhalb der Justiz.

Bildunterschrift: Einer der Hauptangeklagten sollte eigentlich drei Jahre und sechs Monate im Gefängnis sitzen - jetzt kam er mit einer Bewährungsstrafe davon.

_______________________________________________


Blick nach Rechts, 12.07.2021:

Bewährungsstrafen im Ballstädt-Prozess

Von Kai Budler

Das Landgericht Erfurt hat die ursprünglichen Haftstrafen für Neonazis wegen des Überfalls auf eine Kirmes-Gesellschaft im thüringischen Ballstädt in Bewährungsstrafen umgewandelt. Das Urteil löst in der Öffentlichkeit scharfe Kritik aus.

Mit Bewährungsstrafen zwischen zwölf und 22 Monaten ist in Erfurt der Ballstädt-Prozess gegen neun Angeklagte aus der Neonazi-Szene in Thüringen wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu Ende gegangen. Gegen zwei der ursprünglich elf Angeklagten war das Verfahren bereits Mitte Juni gegen Zahlung einer Geldstrafe vorläufig eingestellt worden. Gegen die Urteile sind Rechtsmittel möglich.

Damit fanden die von vielen kritisierten Deals mit den Angeklagten und deren Anwälte Einzug in die Urteile der Kammer des Landgerichtes Erfurt. Aus Protest gegen die Deals hatten die Verteidiger der Nebenklage gar nicht erst plädiert. Sie hatten das Verfahren als "Farce" kritisiert, in der die Rechte der Geschädigten bewusst übergangen worden seien. Stattdessen stärke das Verfahren die Thüringer Neonazi-Szene, "denn es ist offensichtlich, dass selbst schwerste Gewalttaten in Bewährungsstrafen enden".

Opferberatung kritisiert häufige Verschleppung von Verfahren

Die Vorsitzende Richterin wiederum verneinte mit Verweis auf die Definition der "Politisch motivierten Kriminalität" einen rechts motivierten Hintergrund des Überfalls im Februar 2014. Die Betroffenen des Überfalls seien als Opfer rechter Gewalt instrumentalisiert worden. Stattdessen sprach sie von einer Vorverurteilung durch Medien, Öffentlichkeit und Politik. Die öffentliche Debatte über die Deals mit den Angeklagten bezeichnete sie als Einmischung der Öffentlichkeit sowie einen Angriff auf die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat und damit auf die Demokratie.

Für die Opferberatung ezra erklärte Franz Zobel: "Der gesamte Prozess steht symbolisch für das massive Problem der Thüringer Justiz im Umgang mit rechtsmotivierten Straftaten." Immer wieder würden Verfahren über Jahre verschleppt. Davon profitierten vor allem rechte Gewalttäter, "die dann milde Strafen erhalten oder gegen die die Verfahren ganz eingestellt werden. Zudem wird die rechte Tatmotivation nur selten berücksichtigt."

Formfehler des Gerichts

In der ersten Auflage des Verfahrens vor dem Landgericht Erfurt waren im Mai 2017 zehn Neonazis aus Thüringen zu Haftstrafen zwischen 26 Monaten und dreieinhalb Jahren verurteilt worden. Der Richter sah es als erwiesen an, dass sie im Februar 2014 in Ballstädt die Feier einer Kirmes-Gesellschaft überfallen und zehn Menschen zum Teil schwer verletzt hatten.

Ein Angeklagter erhielt eine Bewährungsstrafe, vier wurden freigesprochen. Weil die Verurteilten Revision einlegt hatten, wurden die Urteile nicht rechtskräftig. Im vergangenen Jahr hob sie der Bundesgerichtshof (BGH) wegen Formfehlern der Erfurter Richter auf. Daraufhin kam es zur Neuverhandlung vor der sechsten großen Strafkammer des Landgerichtes.

Bildunterschrift: Das Dorfgemeinschaftshaus in Ballstädt 2014 nach dem brutalen Überfall.

_______________________________________________


Mitteldeutscher Rundfunk, 12.07.2021:

Überfall auf Kirmes-Gesellschaft: Ballstädt-Prozess endet mit Bewährungsstrafen für Rechtsextreme

12.07.2021 - 15.52 Uhr

Von MDR Thüringen

Das Landgericht Erfurt hat am Montag die Urteile in der Neuauflage des Ballstädt-Prozesses verkündet. Die neun Angeklagten, die der rechtsextremen Szene zugeordnet werden, wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt.

In der Neuauflage des so genannten Ballstädt-Prozesses hat das Landgericht Erfurt am Montag die Urteile gesprochen. Die neun Angeklagten wurden wegen gefährlicher Körperverletzung in zehn Fällen zu Bewährungsstrafen verurteilt. Sieben der Angeklagten wurden zu jeweils einem Jahr, zwei weitere zu jeweils einem Jahr und zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Drei der Angeklagten sitzen wegen anderer Anschuldigungen in Untersuchungshaft, die übrigen sind auf freiem Fuß.

Bundesgerichtshof kassierte Ballstädt-Urteile

Die Täter, die als Mitglieder der rechtsextremen Szene gelten, hatten im Februar 2014 in Ballstädt im Landkreis Gotha die Kirmes-Gesellschaft überfallen und mehrere Menschen verletzt, einige davon schwer. In einem ersten Prozess 2017 gegen sie verhängte Freiheits- und Bewährungsstrafen hatte der Bundesgerichtshof im Frühjahr 2020 aus formalen Gründen wieder kassiert. Die Neuauflage des Prozesses fand unter großen Sicherheitsvorkehrungen auf der Erfurter Messe statt.

Kritik an Deals mit Angeklagten in Erfurt

Dem Urteil waren Anfang des Jahres Absprachen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung vorausgegangen, um das Revisionsverfahren zu beschleunigen. Die Absprachen, bei denen den Angeklagten Bewährungsstrafen gegen Geständnisse angeboten worden waren, waren von den Vertretern der Nebenklage heftig kritisiert worden. Gegen zwei weitere Angeklagte waren die Verfahren gegen Zahlung einer Geldsumme an die Geschädigten eingestellt worden.

Vorsitzende Richterin beklagt "Stimmungsmache"

In ihrer Urteilsbegründung kritisierte die Vorsitzende Richterin Sabine Rathemacher die öffentliche Debatte über den Prozess. Die Juristin sagte, die Öffentlichkeit habe ein Recht auf Information, aber kein Recht auf Einmischung in einen Gerichtsprozess. Was aber zu diesem Prozess alles gesagt und geschrieben worden sei, sei ein Angriff auf die Gewaltenteilung "in nie da gewesenem Umfang" und damit ein Angriff auf die Demokratie. Die Richterin sprach von "Stimmungsmache".

Rathemacher begründete die Absprachen ausführlich. Ohne das Angebot vergleichsweise milder Strafen hätte es keine Geständnisse der Angeklagten gegeben - und ohne diese Geständnisse sei die Gefahr groß gewesen, die Taten nicht beweisen zu können. Dann wären einige der nun Verurteilten unter Umständen ganz ohne Strafe davon gekommen.

"Akt der Selbstjustiz"

Zudem verwahrte sich Rathemacher dagegen, die Rechtsprechung sei in Thüringen auf dem rechten Auge blind. Nach Überzeugung des Gerichts habe es sich bei dem Überfall nicht um eine rechtsextremistische Tat gehandelt, sondern um einen Akt von Selbstjustiz. Die Angreifer hätten aus Rache gehandelt, nach am Gelben Haus in Ballstädt, einer bekannten Neonazi-Immobilie im Ort, eine Scheibe eingeworfen worden war. Mit einem "überfallartigen Rollkommando" hätten die Angreifer "die Sache ein für allemal klären wollen". Ihre Aggression habe sich gegen die unschuldige Kirmes-Gesellschaft gerichtet.

Es ist bereits das zweite Mal, das am Landgericht so argumentiert wird. Obwohl es unstrittig ist, dass alle neun Verurteilten zur Tatzeit der rechtsextremen Szene angehörten, wurde ein politischer Hintergrund vom Gericht bereits 2017 im ersten Verfahren verworfen.

_______________________________________________


Süddeutsche Zeitung Online, 12.07.2021:

Urteil im Ballstädt-Prozess / Ein Deal mit Neonazis

12.07.2021 - 14.25 Uhr

Der neue Prozess um den Überfall auf eine Kirmes-Gesellschaft in Thüringen endet mit Haftstrafen auf Bewährung. Zugrunde liegen Absprachen mit den rechtsradikalen Angeklagten. Das Gericht reklamiert das Urteil als Erfolg für den Rechtsstaat.

Von Antonie Rietzschel, Erfurt

Als Sabine Rathemacher das Urteil im Ballstädt-Prozess verkündet, spricht sie ruhig und langsam. Die Große Strafkammer des Landgerichts Erfurt hat gegen neun Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung Haftstrafen von bis zu einem Jahr und zehn Monaten verhängt - ausgesetzt zur Bewährung. Rathemacher informiert die Männer nüchtern über Auflagen. Es ist der klassische Verlauf am Tag einer Urteilsverkündung. Erst die Formalien, dann die ausführliche Würdigung des Falls. Doch in diesem Moment scheint es so, als wolle die Vorsitzende Richterin einem Verfahren, um das zuletzt emotional gestritten wurde, die juristische Sachlichkeit zurückgeben. So viel vorab: Es wird ihr nicht gelingen.

Vor sieben Jahren überfielen vermummte Rechtsextreme in dem thüringischen Dorf Ballstädt (Landkreis Gotha) eine Kirmes-Gesellschaft. 2017 verurteilte das Landgericht Erfurt zehn Männer wegen schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren und sechs Monaten - ohne Bewährung. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil Anfang 2020 auf, weil die Beweise für eine Verurteilung nicht ausgereicht hätten. Um das Verfahren nicht länger hinauszuzögern, handelte die Staatsanwaltschaft mit den Angeklagten einen Deal aus: Geständnisse gegen geringe Haft- und Bewährungsstrafen.

Ein Deal, dem das Landgericht Erfurt folgen würde. Das war schon klar, als es Mitte Mai in einem dafür angemieteten Kongresszentrum das Verfahren neu zu verhandeln begann. Es gab Proteste, die Initiative "Omas gegen Rechts" sammelte Hunderttausende Unterschriften, an jedem Verhandlungstag hängten Aktivisten vor der Erfurter Messe Transparente auf. "Kein Deal mit Nazis", stand auf einem.

Die Anwälte kritisieren ein "abgekartetes Spiel"

Absprachen zwischen Angeklagten und Staatsanwaltschaft sind nicht ungewöhnlich. Was den Ballstädt-Deal aus Sicht von Opfer-Verbänden und Nebenklage-Anwälten skandalös macht, ist die Tatsache, dass gegen den Hauptangeklagten Thomas Wagner bereits ein weiteres Verfahren läuft. Wagner war bis zu seiner Festnahme in diesem Frühjahr Chef der rechtsextremen Rocker-Gruppe "Turonen", als deren Treff das so genannte Gelbe Haus in Ballstädt galt. Auch der Angeklagte Marcus R. gehört der Neonazi-Szene an, er ist mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Körperverletzung. Sein Bewährungshelfer attestierte ihm während des Verfahrens eine "nicht ungünstige" Sozialprognose. Das war, bevor er wegen eines weiteren Verfahrens in Untersuchungshaft kam.

Aus Protest gegen den Deal weigerten sich die Nebenklage-Anwälte zu plädieren. Stattdessen verlasen sie in dem provisorischen Gerichtssaal eine Mitteilung, in der sie Gericht und Staatsanwaltschaft ein "abgekartetes Spiel" vorwarfen. Es sei ihnen darum gegangen, die Angelegenheit "schnell vom Tisch zu bekommen".

Das Vorgehen der Anwälte, die Proteste, die breite Berichterstattung - das alles veranlasst die Vorsitzende Richterin, am Tag der Urteilsverkündung die Zurückhaltung abzulegen, die sie zuvor stets gewahrt hatte. Einigen sei hier der "innere Kompass verloren gegangen", sagt Rathemacher mit lauter Stimme. Sie spricht von einer "Stimmungsmache" gegen die Justiz, auch seitens der Medien: "Wer den Rechtsstaat angreift, muss seinen Standpunkt zur Haltung des freiheitlich-demokratischen Systems hinterfragen." Den Nebenklage-Anwälten wirft sie vor, die Opfer des Kirmes-Überfalls politisch zu instrumentalisieren.

Kein Opfer kann die Täter identifizieren

Es sind heftige Worte, mit denen Rathemacher die Urteilsbegründung eröffnet. Den Überfall der Angeklagten nennt sie zwar ein "überfallartiges Rollkommando", eine politisch motivierte Tat erkennt sie jedoch nicht darin. Dabei hatte es vor dem Angriff auf die Kirmes-Gesellschaft Demonstrationen in Ballstädt gegeben, an denen Politiker und viele Dorfbewohner teilnahmen. Die Stimmung im Ort war aufgeheizt. Kurz vor dem Überfall war im "Gelben Haus" ein Fenster eingeschmissen worden. Thomas Wagner und die anderen Schläger vermuteten die Täter unter der Kirmes-Gesellschaft. Als Wagner per Rundruf die Schläger zusammentrommelte, sprach er von Stress mit "Zecken".

Auch einige Opfer glauben nicht an ein unpolitisches Körperverletzungsdelikt. "Wir haben uns engagiert, dafür aufs Maul gekriegt", sagte kürzlich einer von ihnen. Von dem neuen Verfahren und ihren erneuten Aussagen hatten sie erhofft, dass die Täter endlich in Haft kämen und sie selbst nach sieben Jahren endlich mit dem Überfall abschließen könnten. Stattdessen wurden sie Zeugen in einem Verfahren, dessen Ausgang von vornherein feststand.

Die Auftritte im Gerichtssaal offenbarten das Dilemma. Kein Opfer konnte die Täter identifizieren. Einige Angeklagte wären ohne ihr Geständnis mit einem Freispruch davongekommen. Viele Befragte konnten sich nach der langen Zeit nicht mehr genau an die Abläufe erinnern. Die Vorsitzende Richterin fragte immer wieder nach psychischen Belastungen, erhielt aber oft keine Antwort, weil Opfer vor den Angeklagten keine Schwäche zeigen wollten. Dabei war den Gesichtern anzusehen, dass die Erinnerung an die Nacht vor sieben Jahren noch rumort. "Ich habe das mit mir selbst ausgemacht. Es ist besser, wenn ich die Nacht vergesse", sagte einer im Zeugenstand. Viel anderes bleibt ihm auch nicht, denn die Nebenkläger können keine Revision einlegen. Das ist den Angeklagten vorbehalten.

Bildunterschrift: Ein Angeklagter nimmt mit Fußfesseln am Ballstädt-Prozess in Erfurt teil.

_______________________________________________


Freie Presse Online, 12.07.2021:

Markneukirchen: Unbekannte malen Hakenkreuz auf Straße

Markneukirchen (dpa). Unbekannte haben ein mehrere Meter großes Hakenkreuz auf die Straße An der Musikhalle in Markneukirchen gemalt. Rund zwei Mal zwei Meter sei die Schmiererei in der Stadt im Vogtlandkreis groß, teilte die Polizei am Montagmorgen mit. Mit einem Fettstift hätten die Unbekannten in der Nacht zum Sonntag außerdem ein zweites, kleineres Hakenkreuz an einer öffentlich zugänglichen Gebäudefassade angebracht. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen eingeleitet.

_______________________________________________


Zollern-Alb-Kurier Online, 12.07.2021:

Doch nicht vors Verfassungsgericht: Albstädter akzeptiert Geldstrafe wegen Volksverhetzung

Von Pascal Tonnemacher

NPD-Anwalt Peter Richter hat die Revision zurückgezogen: Sein Mandant, ein 30-jähriger Albstädter, hat das Urteil im Berufungsprozess am Landgericht Hechingen akzeptiert. Die Geldstrafe für zwei als Volksverhetzung strafbare Facebook-Postings des Studenten, war dabei leicht gesenkt worden. Er hatte darin unter anderem den Holocaust geleugnet.

Verteidiger Peter Richter hatte es im Mai als "dummes Zeug" bezeichnet, dass die kleine Strafkammer am Landgericht Hechingen Bruchstücke eines Facebook-Postings als strafbar angesehen und seinen Mandanten mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 5 Euro bestraft hat (wir berichteten).

Revision wollte er im Namen des mittlerweile 30-jährigen Albstädter Studenten einlegen. Also zunächst vor das Oberlandesgericht in Stuttgart und nötigenfalls auch bis vor ein Verfassungsgericht wollte er ziehen, hatte er unserer Zeitung nach dem Urteil gesagt.

Mandant nimmt Rechtsmittel zurück

Auf Wunsch seines Mandanten zog Richter nun das Rechtsmittel zurück, sagt der Anwalt auf Anfrage. Das Urteil ist damit rechtskräftig, berichtet das Landgericht Hechingen.

In dem ersten Posting hat der nun Verurteilte ein Foto eines SS-Soldaten mit einem Zitat veröffentlicht. Die Runen sind strafbar, die Geldstrafe dafür war akzeptiert worden. Der Rechtsstreit drehte sich folglich um ein zweites Posting.

Posting wird nur zum Teil gesichert

Darin, so hatten Richter und eine Kriminalkommissarin zitiert, leugnet der Angeklagte den Genozid an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland - strafbar als Volksverhetzung, auch wenn das Facebook-Posting nur teilweise von Ermittlern gesichert wurde, so die Auffassung der Kammer.

Verteidiger Richter zufolge seien aber auch die Begleitumstände, der Sinn und mögliche Mehrdeutungen wichtig. Es brauche deshalb für eine Verurteilung das ganze Posting, meinte er damals. Er hatte deshalb einen Freispruch gefordert.

Der Vorsitzende Richter Volker Schwarz hatte deutlich widersprochen und sagte: "Was soll da noch kommen? April, April?"

Bildunterschrift: Die Berufung war vor dem Landgericht Hechingen verhandelt worden. Das Urteil ist nun rechtskräftig.

_______________________________________________


MiGAZIN, 12.07.2021:

Bundesverfassungsgericht / Richter mit NPD-Sympathien ist im Asylverfahren befangen

12.07.2021 - 05.25 Uhr

Ein Richter, der offen Sympathien für ein NPD-Wahlplakat bekundet hatte, ist in einem Asylverfahren befangen. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Fall eines Afghanen entschieden. Begründung: Der Richter hält Migration für ein Übel.

Das Bundesverfassungsgericht hat einen Richter des Verwaltungsgerichts Gießen in einem Asylrechtsstreit für befangen erklärt. Nach Auffassung der Verfassungsrichter kann ein Richter, der in der Migration ein grundsätzliches Übel und eine "Gefahr für menschliches Leben" sieht, nicht unparteiisch über Asylverfahren entscheiden.

Der Gießener Verwaltungsrichter hatte sich zuvor Aussagen eines NPD-Wahlplakates mit dem Slogan "Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt" zu eigen gemacht. Damit könne er in Asylverfahren nicht unparteiisch sein, entschied das Bundesverfassungsgericht in einem am Freitag veröffentlichten Beschluss (AZ: 2 BvR 890/20).

Richter beklagt invasive Einreise

Konkret ging es um einen afghanischen Flüchtling, dessen Asylantrag im März 2017 abgelehnt wurde. Als dieser vor dem Verwaltungsgericht Gießen klagte, lehnte der Flüchtling den zuständigen Einzelrichter als befangen ab. Er verwies auf Äußerungen des Richters in einem anderen Urteil im Streit über die Zulässigkeit eines NPD-Wahlplakates anlässlich der Europawahl im Mai 2019. Das Wahlplakat mit dem Slogan "Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand jetzt" wurde von ihm nicht als volksverhetzend und für zulässig angesehen.

In dem Urteil beklagte der Richter eine "invasive Einreise" von Ausländern. Einwanderung stelle eine "Gefahr für die deutsche Kultur und Rechtsordnung sowie menschliches Leben" dar. Dass "Migration tötet", sei ihm an Hand von Einzelfällen bekannt.

Gericht lehnt Befangenheitsantrag ab

Den Befangenheitsantrag des Flüchtlings gegen den Richter wies das Verwaltungsgericht Gießen ab - ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters. Das Gericht führte aus, das Plakat sei nicht als volksverhetzend einzustufen, "sondern als die Realität teilweise darstellend zu bewerten". Weiter heißt es in der Entscheidung: "In der Tat hat die Zuwanderungsbewegung nach Deutschland ab dem Jahr 2014 / 2015 zu einer Veränderung innerhalb der Gesellschaft geführt, die sowohl zum Tode von Menschen geführt hat als auch geeignet ist, auf lange Sicht zum Tod der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung zu führen. ( … ) Allein dem erkennenden Gericht sind Fälle bekannt, in denen Asylbewerber zu Mördern wurden. Zu nennen ist hier ( … )."

Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Ablehnung des Befangenheitsantrags willkürlich erfolgt sei. Der Flüchtling habe zu Recht "Zweifel an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters" gehabt.

Richter hält Migration für ein Problem

In der ablehnenden Entscheidung über den Befangenheitsantrag habe das Verwaltungsgericht Einzelfälle von schweren Straftaten von Asylsuchenden als prägend nicht nur für die Gruppe der Asylsuchenden, sondern für den gesamten Bereich der Migration verallgemeinernd dargestellt.

Zum Urteil des Verwaltungsrichters stellten die Verfassungsrichter fest: "Damit steht es dem genannten Urteil gleichsam auf die Stirn geschrieben, dass der Richter, der es abgefasst hat, Migration für ein grundlegendes, die Zukunft unseres Gemeinwesens bedrohendes Übel hält." Die Aussagen des Richters seien offensichtlich geeignet, dessen Unparteilichkeit anzuzweifeln. (epd/mig)

Bildunterschrift: Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Archiv).

_______________________________________________


Spiegel Online, 12.07.2021:

Rechtsextremer Landesverband / Öffentliche Bezeichnung der AfD Thüringen als Prüffall war nicht rechtens

12.07.2021 - 12.27 Uhr

Der Verfassungsschutz hat die AfD Thüringen als gesichert rechtsextrem eingestuft. Zuvor galt der Landesverband als Prüffall. Das hätte aber nicht veröffentlicht werden dürfen, urteilte jetzt ein Gericht.

Der Verfassungsschutz befasst sich seit mehreren Jahren mit der AfD in Thüringen. Seit März wird der dortige Landesverband mit dem Vorsitzenden Björn Höcke als gesichert rechtsextrem eingestuft, laut dem Landesamt gibt es "Bestrebungen gegen die freiheitliche-demokratische Grundordnung". Bereits 2018 wurde die Thüringer AfD als Prüffall eingestuft.

Dies hätte der Thüringer Verfassungsschutz allerdings nicht öffentlich machen dürfen. Ein entsprechendes Urteil verkündete nun das Verwaltungsgericht Weimar.

Lediglich für den Beobachtungs- und Verdachtsfall gebe es eine Rechtsgrundlage für Öffentlichkeitsarbeit des Landesverfassungsschutzes, nicht aber für den Prüffall, argumentierte das Gericht. "Nicht Gegenstand des Verfahrens ist die Beobachtungs- und Ermittlungstätigkeit selbst", sagte der Vorsitzende Richter Thomas Lenhart. Es ging in dem Prozess nur um die Frage, ob der Verfassungsschutz die Bewertung als Prüffall hätte öffentlich kommunizieren dürfen.

AfD spricht von "massivem Rechtsbruch"

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Es kann ein Antrag auf Berufung beim Oberverwaltungsgericht eingelegt werden. Thüringens AfD-Landessprecher Stefan Möller sprach nach dem Urteil laut der Nachrichtenagentur dpa von einem "massiven Rechtsbruch", den der Verfassungsschutz begangen habe.

Thüringens Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer bezeichnete das Urteil angesichts des Verfahrens als nicht überraschend, aber dennoch enttäuschend. "In der Tat ging es darum, transparent über die Arbeit des Verfassungsschutzes, gerade mit Blick auf eine Partei, die Öffentlichkeit sehr frühzeitig zu informieren", sagte Kramer. Man werde die Entscheidung des Gerichts in Zukunft berücksichtigen.

Äußerung im "Spiegel" laut Gericht "inhaltlich neutral"

Eine weitere Entscheidung des Verwaltungsgerichts betraf einen Artikel des "Spiegel", in dem Kramer zu Wort kam. Darin wurde der Verfassungsschutzpräsident mit den Worten zitiert: "Wenn die AfD Björn Höcke zum Spitzenkandidaten macht, bekennt sie sich zu dem, was er sagt. Damit würde die Partei zementieren, wo sie steht."

Die Thüringer AfD sowie Höcke selbst wehrten sich gegen diese Aussage juristisch und wollten mit einer Feststellungsklage die Rechtswidrigkeit dieser Äußerung feststellen, was jedoch nicht gelang. "Nach unserer Ansicht ist diese Äußerung inhaltlich neutral", sagte Richter Lenhart.

In Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt werden die jeweiligen Landesverbände der AfD inzwischen als Verdachtsfall eingestuft. Das bedeutet, dass auch hier nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden dürfen, beispielsweise Observation oder das Sammeln von Informationen über so genannte V-Leute.

Bildunterschrift: Landesparteitag der AfD Thüringen 2018.

_______________________________________________


Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 12.07.2021:

Rechtsextreme Chat-Gruppen / Verheerendes Zeugnis für die Polizei

12.07.2021 - 16.56 Uhr

Ein Kommentar von Katharina Iskandar

Eine Expertenkommission zieht ein bitteres Fazit zu den Missständen bei der Polizei. Es muss ein Selbstreinigungsprozess in Gang gesetzt werden. Begreifen muss das nun aber auch die Polizei selbst. Sie tut es für sich. Nicht für andere.

Es ist eine erschreckende Bilanz: 47 Chat-Gruppen mit rechtsextremen, teils strafbaren Inhalten. 136 hessische Polizeibeamte, die daran teilgenommen haben, ohne, dass irgendeiner von ihnen jemals gerufen hätte: "Stop. Es reicht." Gegen hundert von ihnen wurde oder wird immer noch ermittelt. Und inzwischen glaubt niemand mehr in der Polizei, dass das wirklich die letzten antisemitischen, rassistischen oder auch generell menschenverachtenden Nachrichten waren, auf die man zufällig gestoßen ist. Die Chats im SEK, die erst entdeckt wurden, als die Expertenkommission ihren Bericht schon beendet hatte, ist der beste Beweis dafür.

Unwissenheit verstärkte falschen Korpsgeist

Das Zeugnis, das die Expertenkommission ausstellt, die sich mit den Drohschreiben NSU 2.0 und dem Phänomen rechter Chat-Gruppen über zehn Monate lang befasst hat, ist verheerend. Nicht nur deshalb, weil die betreffenden Beamten ihre Weltanschauungen offenbar in einem Klima äußern konnten, das dadurch geprägt war, dass allzu viele wegschauten und nicht mitbekommen wollten, was sich um sie herum zusammenbraute. Sondern auch dadurch, weil die höhere Führungsebene, die laut dem Bericht nach Aufdeckung der Chats informiert worden war, was für Abscheulichkeiten dort verbreitet wurden, nicht realisiert hat, dass es an der Zeit ist, mit klaren Worten der falsch verstandenen Solidarität ein Ende zu setzen.

Dieser angebliche Korpsgeist beruhte wohl vor allem auch darauf, dass einige Beamte bis jetzt nicht im Detail wussten, was genau herumgeschickt wurde - obwohl es erstaunlich ist, wie viele Beamte auch an der Basis die Inhalte doch kannten und es aber offenbar nicht verwerflich fanden.

Es wäre Aufgabe der Polizeipräsidenten gewesen, den Ernst der Lage deutlich zu machen. Und es ist nur zu hoffen, dass sie es jetzt tun werden. Dass sie endlich begreifen, was auf dem Spiel steht, wenn die Polizei es nicht schafft, aus ihrem Tief herauszukommen und ihre erfolgreiche Arbeit in den Vordergrund zu stellen. Die Polizei muss wieder zu ihrer ursprüngliche Aufgabe zurückfinden, die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Das jedoch kann sie nur, wenn sie losgelöst von allen Lasten agieren kann.

Vielleicht tritt nun tatsächlich ein Selbstreinigungsprozess ein, wie Innenminister Peter Beuth (CDU) es formuliert hat. Der Polizei wäre es zu wünschen. Beuth hat erkannt, dass die Fehlerkultur nur aus der Organisation selbst heraus wachsen kann. Niemand kann sie aufzwingen. Begreifen muss das nun aber auch die Polizei selbst. Sie tut es für sich. Nicht für andere.

_______________________________________________


Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 12.07.2021:

Hessische Polizei / Expertenkommission fordert "Neubeginn"

12.07.2021 - 18.21 Uhr

Von Marlene Grunert

Nach einer Reihe rechtsextremistischer Vorfälle bei der hessischen Polizei setzte Innenminister Beuth eine Expertenkommission ein. Diese nennt nun "strukturelle Probleme" - und fordert grundlegende Reformen.

Die Bedeutung, die jeder Fall von Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland hat, rief Jerzy Montag in Erinnerung. Der Rechtsanwalt und ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen ist Stellvertretender Vorsitzender einer Expertenkommission, die Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) vergangenen August eingesetzt hat. Beuth reagierte damit auf eine ganze Reihe von Skandalen in der hessischen Polizei. Die Kommission sollte deren Umgang mit Fehlern untersuchen und ein neues Leitbild erarbeiten. Nun stellte sie im hessischen Innenministerium ihren Abschlussbericht vor.

Montag würdigte zunächst die am Wochenende verstorbene Holocaust-Überlebende Esther Bejarano. Dann zitierte er Thomas Haldenwang. Vor eineinhalb Jahren hatte der Präsident des Verfassungsschutzes auf dem Europäischen Polizei-Kongress des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz gedacht. "Im kollektiven Gedächtnis der Menschheit steht Auschwitz für den nie gekannten Abgrund, in den sich das deutsche Volk unter der nationalsozialistischen Diktatur stürzte - und Millionen unschuldige Opfer mit sich riss", sagte Haldenwang damals. Er erwähne diese Erklärung, so Montag, weil sie in "engstem Zusammenhang" mit der Arbeit der Kommission stehe. Das zeigten allein die rechtsextremen Chats, auf die die hessische Polizei 2018 stieß und mit denen sich die Kommission auseinanderzusetzen hatte.

Montag schilderte, wie man sie kategorisieren könne: Es sei um die Herabwürdigung Behinderter und Menschen mit dunkler Hautfarbe gegangen und um die Verherrlichungen des Nationalsozialismus. Der Tod von Menschen auf der Flucht sei herbeigesehnt worden, ebenso habe sich ein "eliminatorischer Frauen-Hass" mitgeteilt. "Rohe und gehässige" Kommunikation hätten sie vor sich gehabt, "völlig empathielos" gegenüber dem Leid anderer Menschen. Man könne sich davon kaum ein Bild machen, so Montag, der einige Beispiele konkret machte.

Zu den ausgetauschten Bildern gehörte ein Foto des Vernichtungslagers Auschwitz, darüber die Worte: "Dies ist eine Judenherberge". Auf einem anderen Bild war ein lachender Adolf Hitler zu sehen, der auf einen rauchenden Kamin zeigt. Darüber: "Da geht eine jüdische Familie dahin". Unter dem Bild von einem Häufchen Asche hatten Polizisten geschrieben: "Ein kleines jüdisches Mädchen", dazu sexuelle Gewaltfantasien. Ein Bild des ertrunkenen Alan Kurdi wurde mit einem Rüden versehen, der den zwei Jahre alten Flüchtlingsjungen besteigt. Bis zu 136 Beamte waren an der Kommunikation beteiligt; gegen etwa 100 von ihnen wurde ermittelt. "Keinen einzigen Beleg" habe es dafür gegeben, dass irgendjemand Widerspruch erhoben habe, so Montag.

Nur "aufgebauschte" Vorwürfe?

Er plädierte dafür, "Ross und Reiter" zu benennen. Auch die Inhalte der Chats müssten bekannt gemacht werden. "Wir sind der festen Überzeugung, dass sich die allerallermeisten Polizisten mit Ekel davon abwenden würden, wenn sie wüssten, worum es gegangen ist." In Gesprächen mit Polizisten sei den Kommissionsmitgliedern regelmäßig Skepsis begegnet. Viele wüssten nicht, worum es gehe und hielten die Vorwürfe für "aufgebauscht". Dem Vernehmen nach waren die Inhalte der Chats allerdings weitläufig bekannt - sowohl auf Ebene der Leitung als auch an der Basis.

Die Chats waren nur ein Komplex, mit dem sich die Kommission in den vergangenen Monaten beschäftigt hat. Schon als Beuth das unabhängige Gremium beauftragte, war die Liste der Skandale lang. Chats im mittlerweile aufgelösten Spezialeinsatzkommando kamen kürzlich noch hinzu. Den Anfang der rechtsextremistischen Vorfälle machten die seit 2018 im Namen des "NSU 2.0" verschickten Drohschreiben, die in einem engen zeitlichen Zusammenhang zu unerlaubten Abfragen persönlicher Daten in Polizei-Computern standen. Vor zwei Monaten wurde ein Verdächtiger festgenommen, der nicht aus den Reihen der Sicherheitsbehörde stammt. Wie er an die Daten kam, ist nach wie vor ungewiss.

"Es gibt noch viel zu tun"

Angelika Nußberger, die Vorsitzende der Kommission und ehemalige Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, bilanzierte: "Keiner der Komplexe ist abschließend geklärt. Es gibt noch viel zu tun."

Zu den "strukturellen Problemen", die anzugehen seien, zählt die Kommission mangelnde Fehlerkultur und fehlendes Verständnis für die Opferseite sowie eine "inadäquate" und "intransparente" Kommunikation, die vor allem auf "Abwehr" gesetzt habe. Um den Staat und seine Organisationen zu schützen, sei es nötig, einen Extremismus-Beauftragten einzusetzen. Auch eine unabhängige Kontrolle polizeilichen Fehlverhaltens müsse etabliert werden. Die Kommission empfiehlt darüber hinaus, im Auswahlverfahren bei den Verfassungsschutzbehörden abzufragen, ob ein Bewerber schon einmal als Extremist aufgefallen ist. Innenminister Beuth hat sich dazu Anfang Juli bereit erklärt.

Forderungen nach einem Neubeginn

Anwalt Montag schlug auch Änderungen des Disziplinarrechts vor. Einerseits brauche es Verschärfungen bei rechtsextremistischen Vorfällen. Andererseits seien Erleichterungen für Beamte nötig, die sich reuig an Aufklärung beteiligen wollten und sich damit selbst der Gefahr von Ermittlungen aussetzten.

Nußberger sprach in Wiesbaden von einem "kritischen Moment" für Hessens Polizei. Um den negativen Erfahrungen "nun wirklich etwas Positives" entgegenzusetzen und eine Vorreiterrolle zu übernehmen, seien nicht nur Reformen nötig. Diese müssten "schnell und nachhaltig" erfolgen. Nötig sei ein "Neubeginn".

_______________________________________________


zurück