11 Artikel ,
02.02.2021 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
MiGAZIN, 02.02.2021:
Vertrag unterzeichnet / Baden-Württemberg investiert in Sicherheit jüdischer Einrichtungen
Neues Deutschland Online, 02.02.2021:
Lübcke-Prozess / Neonazi-Szene bleibt verschont
die tageszeitung Online, 02.02.2021:
Rechter Terroranschlag in Hanau / Panne und Gedenken
Störungsmelder, 02.02.2021:
Berlin: Rechte Gewalt mit System
Blick nach Rechts, 02.02.2021:
Ehemalige Szenegröße als Brandstifter?
die tageszeitung Online, 02.02.2021:
Neue Zahlen der Sicherheitsbehörden / Mehr bewaffnete Rechtsextremisten
Der Tagesspiegel Online, 02.02.2021:
Können legal Pistolen kaufen / 1.203 Neonazis besitzen eine waffenrechtliche Erlaubnis
Süddeutsche Zeitung Online, 02.02.2021:
AfD will sich gegen Einstufung als Verdachtsfall wehren
Blick nach Rechts, 02.02.2021:
"Aus dem Verborgenen neuen Unfrieden gesät"
MiGAZIN, 02.02.2021:
Studie / Mehrheit der AfD-Wähler denkt rechtsextrem
Neue Westfälische, 02.02.2021:
Drittel der AfD-Wähler klar rechtsextrem
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MiGAZIN, 02.02.2021:
Vertrag unterzeichnet / Baden-Württemberg investiert in Sicherheit jüdischer Einrichtungen
02.02.2021 - 05.20 Uhr
Baden-Württemberg hat mit Israelitischen Religionsgemeinschaften einen Vertrag zum Schutz jüdischer Einrichtungen geschlossen. Danach leistet das Land Zahlungen in Millionenhöhe für bauliche und personelle Sicherheitsmaßnahmen.
Die baden-württembergische Landesregierung hat einen Vertrag mit den beiden Israelitischen Religionsgemeinschaften im Südwesten zum Schutz jüdischer Einrichtungen und zur gemeinsamen Abwehr von Antisemitismus unterzeichnet. Das sei "ein klares Zeichen gegen Antisemitismus und Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden in Baden-Württemberg", sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann anlässlich der Unterzeichnung am Donnerstag in Stuttgart.
"In vielen Gesprächen mit Jüdinnen und Juden habe ich von der Angst und Unsicherheit erfahren, die Gläubige täglich erleben, etwa wenn sie Gottesdienste feiern, Berichte über antisemitisch motivierte Straftaten verfolgen oder aus Angst vor Angriffen lieber keine Kippa tragen. Diese Erzählungen von Menschen, die ihren Glauben nicht in der Mitte der Gesellschaft leben können, schmerzen mich sehr", betonte Kretschmann.
Die Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, Barbara Traub, sagte: "Jüdisches Leben ist wieder aktiver Teil unserer vielfältigen Gesellschaft, doch der Ungeist des Antisemitismus ist längst nicht verschwunden." Es sei traurig, dass solche Maßnahmen überhaupt nötig seien.
Bauliche und personelle Sicherheitsmaßnahmen
Vereinbart wurde, dass das Land noch in diesem Jahr eine Million Euro für bauliche Sicherungsmaßnahmen von jüdischen Einrichtungen zur Verfügung stellt. Für personelle Sicherheitsmaßnahmen sowie für Alarm- und Meldesysteme gibt es in den kommenden drei Jahren der Vertragslaufzeit zudem rund 1,17 Millionen Euro jährlich.
Weiter unterstützt die Landesregierung den Aufbau einer Jüdischen Akademie für Baden-Württemberg in diesen drei Jahren mit jährlich 200.000 Euro. Nach den drei Jahren ist eine Anschlussregelung geplant. (epd/mig)
Bildunterschrift: Eine jüdische Synagoge.
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Neues Deutschland Online, 02.02.2021:
Lübcke-Prozess / Neonazi-Szene bleibt verschont
02.02.2021 - 15.17 Uhr
Johanna Treblin über die Revision von Markus H. im Lübcke-Prozess
Die einen forderten lebenslang wegen Mittäterschaft, die anderen neun Jahre wegen Beihilfe zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Verurteilt wurde Markus H. in der vergangenen Woche letztlich nur wegen Verstoßes gegen das Waffenrecht auf ein Jahr und sechs Monate - vergleichsweise also eine sehr geringe Strafe. Und dennoch hat er nun Revision eingelegt.
Es ist sein gutes Recht. Und eigentlich verwundert es auch nicht. Es passt zu seinem Auftritt, dem gesamten Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit süffisantem Lächeln zu folgen, auch, wenn die Familie des Toten ihm gegenüber saß. Vor allem aber sind das Lächeln des Markus H. und seine Revision ein Symbol. Dafür, dass die Strafbehörden und die Justiz offenbar nicht willens sind, sich die Neonazi-Szene intensiv vorzuknöpfen. Und dafür, dass das in der Szene auch angekommen ist.
Das Urteil im Lübcke-Mordfall ist insofern eine Fortschreibung des Urteils im NSU-Prozess. Zwar wurde dort Beate Zschäpe als Mitglied des Kerntrios wegen Mittäterschaft verurteilt, obwohl ihr nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie je bei einem Mord vor Ort war. Doch die wenigen anderen Mitangeklagten erhielten milde Strafen. Keiner blieb in Haft.
Bildunterschrift: Verhandlungssaal im Prozess zum Mord an Walter Lübcke.
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die tageszeitung Online, 02.02.2021:
Rechter Terroranschlag in Hanau / Panne und Gedenken
Der Hessische Landtag verspricht entschiedenen Kampf gegen Rassismus. Am selben Tag räumt Innenminister Beuth Pannen in der Tatnacht von Hanau ein.
Ralf Pauli
Berlin (taz). Am Dienstagnachmittag hat der Hessische Landtag an die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags von Hanau erinnert. Knapp ein Jahr nachdem neun Menschen mit Migrationsgeschichte getötet worden waren, versprach Landtagspräsident Boris Rhein (CDU) vor Vertreterinnen, Vertretern aller Fraktionen den Angehörigen und Überlebenden einen entschiedenen Kampf gegen jede Form von Rassismus, Hass und Hetze.
"Für uns alle bleibt diese Nacht ein unauslöschbares Datum", sagte Rhein. Dieser Landtag werde das Andenken an die neun getöteten Menschen nicht vergessen. Rhein verlas ihre Namen und dankte allen Angehörigen, die für die Gedenkfeier in den Landtag gekommen waren. Rhein erinnerte auch an das Holocaust-Gedenken von vor einer Woche. "Wir erkennen, dass wir 76 Jahre nach der Shoah ein offensichtliches und bedrohliches Problem mit Rechtsextremismus und Rassismus haben."
NSU, Halle, Lübcke, Hanau. Wer jetzt "Wehret den Anfängen" rufe, meine es gut, habe aber nicht verstanden, dass die Gesellschaft bereits mittendrin sei. Zu den Angehörigen sagte Rhein: Er wisse, dass es lange dauern werde, bis sie sich in ihrem Land wieder sicher fühlen könnten.
Zu dieser Einschätzung passen die Nachrichten aus dem hessischen Innenministerium, die kurz vor der Gedenkfeier bekannt wurde. Dort räumte Innenminister Peter Beuth (CDU) einen Engpass beim Notruf der Hanauer Polizeistation in der Tatnacht ein. "Es ist richtig, dass die Polizeistation nur eine begrenzte Anzahl von Anrufen in dieser Nacht entgegennehmen konnte", erklärte Beuth. Eine Weiterleitung von vielen gleichzeitig eintreffenden Notrufen sei zum Zeitpunkt der Tatnacht technisch nicht möglich gewesen.
Nicht die erste Panne, die bekannt wird
Recherchen von "Monitor", "Hessischer Rundfunk" und Spiegel hatten ergeben, dass während der Tatzeit zwischen 21.55 Uhr und 22.09 Uhr gerade einmal fünf Anrufe über den Polizeinotruf 110 registriert wurden. Offenbar sind aber viele Notrufe nicht durchgekommen.
Zahlreiche Zeugen hätten unabhängig voneinander berichtet, dass die 110 während der Tatzeit nicht erreichbar gewesen sei. Polizei-Expertinnen, -Experten hatten sich dazu irritiert geäußert und eine Untersuchung der Vorwürfe gefordert. Die Hanauer Staatsanwaltschaft leitete ein Prüfverfahren ein. Zuvor hatte sie im Zusammenhang mit einer möglicherweise verschlossenen Notausgangstür an einem der Tatorte bereits ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Innenminister Beuth kündigte am Dienstag Verbesserungen an. Mit dem Umzug des Polizeipräsidiums Südosthessen in die neue Dienststelle werde eine Zentralisierung aller polizeilichen Notrufe des Zuständigkeitsbereichs in einer Leitstelle realisiert.
Am 19. Februar 2020 hatte ein 43-jähriger Deutscher in Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln erschossen. Nach der Tat soll er auch seine Mutter umgebracht haben, bevor er sich selbst tötete. (mit dpa)
Bildunterschrift: Angehörige des Anschlags und Abgeordnete gedenken am Dienstag der Opfer im hessischen Landtag.
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Störungsmelder, 02.02.2021:
Berlin: Rechte Gewalt mit System
02.02.2021 - 10.45 Uhr
Seit Jahren erschüttern rechtsextreme Anschläge den Berliner Bezirk Neukölln. Ein Datenprojekt zeigt nun: Neonazi-Kriminalität ist Alltag im Kiez - und Polizeiversagen ebenso.
Von Tom Sundermann
Als Ferat Kocak nachts um drei wach wird, schlagen die Flammen schon meterhoch aus seinem Auto. Das Feuer verzehrt die Decke des Carports vor seinem Elternhaus in Berlin. Es ist kurz davor, den Dachstuhl in Brand zu setzen und das Gebäude in eine tödliche Falle zu verwandeln. "Ich habe meine Eltern aus dem Schlaf geschrien", erzählt der 41-Jährige. Danach rannte er mit einem Feuerlöscher zu seinem Smart. Das Leben seiner Familie und das Haus konnte er retten. Doch die Nacht auf den 1. Februar 2018 hat ihm nicht nur den Wagen, sondern auch seine Sorglosigkeit genommen.
Kocak, Lokalpolitiker für Die Linke im Bezirk Neukölln, ist Opfer eines Anschlags geworden. Die Brandstiftung ist ein Einschüchterungsversuch von bis heute nicht verurteilten Tätern - und einer von vielen: Seit Jahren überziehen mutmaßlich Neonazis den Berliner Bezirk mit einer Deliktserie. 23 Brandanschläge werden ihnen von der Berliner Polizei zugerechnet. Die Betroffenen haben einen Migrationshintergrund oder engagieren sich gegen Rechtsextremismus so wie Kocak, der als Kandidat für das Berliner Abgeordnetenhaus antritt.
"Für mich ist das Psychoterror"
Insgesamt 72 Straftaten rechnet die Polizei der Serie zu, verübt zwischen 2013 und 2019. Doch die Definition der Ermittlerinnen ist eng - und rechte Kriminalität in Kreuzberg weitaus alltäglicher, als diese Zahlen vermuten lassen. Wie sehr, zeigt eine Auflistung mit breiterer Datenbasis, die die Aktivistengruppe Acoabo ins Internet gestellt hat. Sie kommt auf 530 Vorfälle, die sie geordnet und in eine Karte eingetragen hat.
Das Ergebnis: ein Plan von Neukölln, übersät mit den Spuren des Hasses. "Wir wollten zeigen, dass an alltäglichen Orten buchstäblich tagtäglich schlimme Dinge passieren", sagt der Sozialwissenschaftler Moritz Valentino, der das Projekt zusammen mit mehreren Mitstreitern gestemmt hat. Die Daten stammen aus parlamentarischen Anfragen, die zwei Linke-Abgeordnete an den Berliner Innensenator gestellt haben.
Das Verzeichnis umfasst einen Zeitraum von Januar 2016 bis Juni 2020 unterteilt in die Kategorien Propaganda, Gewalt und sonstige Taten: Die Verantwortlichen griffen Menschen an, brüllten Beleidigungen, sprühten Hakenkreuze auf Wände. "Schmierereien" werden solche Symbole im Amtsdeutsch getauft. "Aber für Menschen wie mich ist das Psychoterror", sagt der Lokalpolitiker Kocak.
Denn sie lassen ein ums andere Mal die rechtsextreme Drohkulisse aufscheinen. "Ich baue meinen Alltag um die Angst herum, dass wieder etwas passieren kann", sagt er. Monate nach dem Anschlag erfuhr er, dass die mutmaßlichen Täter ihn ein Jahr lang ausspioniert hatten, zum Schluss bis vor die eigene Haustür. Der Verfassungsschutz informierte rechtzeitig das Landeskriminalamt. Weiter geschah nichts.
Verbindung zu AfD und NPD
Seit 2019 ist in der Berliner Polizei eine Sonderkommission auf die Serie angesetzt. Eine Anklage gegen die mutmaßlichen Urheber der schweren Taten gibt es bislang nicht, allerdings wurden im Dezember 2020 zwei Verdächtige festgenommen. Einer von ihnen, ein früherer AfD-Vorstand, sitzt noch in Untersuchungshaft. Der andere, ein ehemaliger NPD-Kreisvorsitzender, ist wieder auf freiem Fuß.
"Wir gehen davon aus, dass hier ein Netzwerk aktiv ist", sagt Niklas Schrader aus der Linke-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Zusammen mit seiner Kollegin Anne Helm hat er durch parlamentarische Anfragen immer wieder Informationen über Vorfälle rechter Kriminalität in Neukölln seit 2016 gewonnen. Denn in dem Jahr häuften sich die Brände und Angriffe, die Täterinnen schienen wie entfesselt. Dabei seien die 530 Taten "eher zu wenig Fälle", nämlich jene, die von Opfern angezeigt und von der Polizei als rechtsextrem motiviert eingestuft wurden. "Das ist die absolute Untergrenze", sagt auch Moritz Valentino von Acoabo.
Haben die Täter Sympathisanten in der Polizei?
Lokalpolitikerinnen und Aktivisten wittern allerdings noch weitaus grundsätzlichere Probleme. Im August 2020 zog die Generalstaatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren an sich, nachdem Hinweise zutage getreten waren, "die die Befangenheit eines Staatsanwalts als möglich erscheinen lassen". Der Beamte soll einem der Verdächtigen in einer Vernehmung Sympathien für die AfD bedeutet und gesagt haben, dass der Tatverdächtige von den Ermittlungen nicht viel zu befürchten habe.
Zwei Staatsanwälte wurden in der Folge versetzt. Für Politiker Schrader nur ein Beispiel für einen Apparat mit politischer Schieflage: "Es gab immer wieder Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft sehr nachsichtig war." Er wünscht sich, dass die Berliner Politik den Justizbetrieb endlich gründlich durchleuchtet und einen Untersuchungsausschuss einsetzt.
Dafür setzt sich auch Ferat Kocak ein. Ein Urteil gegen den oder die Täter, sagt er, sei mittlerweile zweitrangig für ihn. Er stellt sich ganz andere Fragen: Warum unternahm die Polizei nichts, als sie von den Anschlagsplänen erfuhr? Wie kam es zu all den anderen Verfehlungen, die Ermittler zwischenzeitlich eingeräumt haben? Ahnungslosigkeit jedenfalls wolle er als Ausrede nicht gelten lassen. In Neukölln gebe es "eine lange Tradition" von Gewalt und Einschüchterung - "es muss doch klar sein, dass dahinter ein System steht".
Bildunterschrift: Das brennende Auto des Linke-Politikers Ferat Kocak.
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Blick nach Rechts, 02.02.2021:
Ehemalige Szenegröße als Brandstifter?
Von Anton Maegerle
30 Jahre nach dem tödlichen Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft im saarländischen Saarlouis steht ein damals szenebekannter Neonazi im Visier der Behörden.
27 Jahre war der 1964 in Ghana geborene Samuel Yeboah alt, als er am 19. September 1991 an den Folgen eines Brandanschlags auf das als Flüchtlingsheim genutzte ehemalige Gasthaus "Weißes Rößl" in der Saarlouiser Straße 53 in Saarlouis-Fraulautern starb. Mitten in der Nacht wurde ein Brandsatz in die Unterkunft geworfen. Zwei Personen wurden schwer verletzt, als sie aus den Fenstern sprangen, um sich zu retten. Yeboah starb Stunden später im Krankenhaus. Der Brandanschlag war bereits der fünfte Angriff auf Flüchtlingsunterkünfte in Saarlouis seit 1987. Im Umfeld des Tatorts hatte es weder ein Bekennerschreiben, noch rechtsextreme Schmierereien gegeben.
Elf Monate später wurden von der Staatsanwaltschaft Saarbrücken die Ermittlungen eingestellt. Die Tat wurde zunächst nicht als rechtsextrem eingestuft. Die Bundesregierung korrigierte diese Einschätzung später. Im Sommer 2020 wurde im saarländischen Landespolizeipräsidium eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die mögliche Fehler bei den Ermittlungen aufklären sollte.
Vorwurf: Mord, versuchter Mord sowie Brandstiftung mit Todesfolge
"Auf Grund neuer Hinweise und wiederaufgenommener intensiver Ermittlungen wird zwischenzeitlich von einer rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen Tat ausgegangen. Das Verbrechen reiht sich ein in eine Serie von Brand- und Sprengstoffanschlägen auf Asylbewerberunterkünfte Anfang der 90er Jahre im Raum Saarlouis", teilte die Polizei mit. Eine 18-köpfige Sonderkommission rollte den Fall neu auf. Das Verfahren wurde an die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe übergeben.
Am 28. Januar durchsuchten Ermittler die Wohnung und den Arbeitsplatz des mutmaßlichen Täters Peter Werner S. (Jg. 1971). S. wird Mord, versuchter Mord in 18 Fällen sowie Brandstiftung mit Todesfolge vorgeworfen. Der Verdächtige ist weiter auf freiem Fuß, da laut Bundesanwaltschaft kein "dringender Tatverdacht" bestehe und kein Haftbefehl erlassen wurde.
Auf Demo mit NSU-Terroristen
S. zählte in den Jahren von 1990 bis September 1997 gemeinsam mit Peter S. zu den Führungspersonen der Neonazi-Szene in Saarlouis. Mehrfach war er bei Demonstrationen als Ordner eingesetzt. Am 9. Oktober 1992 soll er an einem Übergriff von zwölf Neonazis auf einen Studenten in Saarbrücken beteiligt gewesen sein.
Am 17. August 1996 nahm S. am Rudolf-Heß-Gedenkmarsch im rheinland-pfälzischen Worms teil. 200 Neonazis marschierten damals unter Führung des späteren NPD-Vorsitzenden Holger Apfel durch die Innenstadt. Zu den von der Polizei namentlich erfassten Neonazis gehörten auch die späteren NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe sowie deren Gesinnungskameraden Ralf Wohlleben, Holger Gerlach und Tino Brandt.
Kooperation mit der Polizei?
Zugegen waren S. und S. auch bei einer spontanen Neonazi-Demonstration am 1. Mai 1997 im hessischen Alsfeld. 120 Neonazis zogen brüllend durch die Innenstadt. Wenige Wochen später soll S. gegenüber der Polizei Angaben über Gleichgesinnte gemacht haben und aus der Szene in Saarlouis offenbar ausgeschlossen worden sein.
Weiterhin unaufgeklärt ist im Saarland ein weiterer Vorgang, den vermutlich auch Rechtsextremisten begangen haben: Am 9. März 1999 wurde mit Hexogen, einem militärischen Sprengstoff, ein Anschlag auf die Wanderausstellung "Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944" in Saarbrücken verübt. Der an einer frei zugänglichen Außenmauer angebrachte Sprengsatz richtete am Ausstellungsgebäude und einer nahegelegenen Kirche erheblichen Sachschaden in Höhe von rund 255.000 Euro an. Trotz eines anonymen Bekennerbriefes konnte die Polizei die Täter nicht stellen.
Bildunterschrift: Peter S. mit Armbinde auf einer Neonazi-Demonstration in Saarlouis 1996.
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die tageszeitung Online, 02.02.2021:
Neue Zahlen der Sicherheitsbehörden / Mehr bewaffnete Rechtsextremisten
Rund 1.200 Rechtsextremisten in Deutschland besitzen laut Behörden legal Gewehre oder Pistolen. Die Zahl stieg damit seit 2019 um knappe 35 Prozent.
Berlin (dpa). Die Zahl der den Behörden bekannten Rechtsextremisten mit Waffenerlaubnis ist 2020 deutlich angestiegen. Wie die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion mitteilt, hatten die Sicherheitsbehörden Ende Dezember bundesweit rund 1.200 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremisten auf dem Schirm, die legal Waffen besaßen - ein Anstieg um knapp 35 Prozent im Vergleich zu Ende 2019.
"Der Anstieg belegt die steigende Bedrohung, die von Neonazis und Rassisten ausgeht", sagte die Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Linke). "Erwartungsgemäß hat sich die Einbindung des Geheimdienstes nicht als wirkungsvolle Maßnahme gegen die Bewaffnung der rechten Szene erwiesen", fügte die Innenpolitikerin hinzu, die selbst mehrfach Drohungen von Rechtsextremen erhalten hat. Aus Sicht der Sicherheitsbehörden ist der Anstieg dagegen auch auf die jüngste Novelle des Waffenrechts zurückzuführen und darauf, dass die Beamtinnen, Beamten noch genauer hinschauen.
Unverändert blieb im Jahresvergleich die Zahl der so genannten Reichsbürger und Selbstverwalter, die Waffen besitzen. Stand 28. Dezember 2020 besaßen 528 Menschen aus diesem Personenkreis eine Waffenerlaubnis, heißt es in der Antwort, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. "Reichsbürger" erkennen den Staat und die deutschen Gesetze nicht an und weigern sich, Steuern, Sozialabgaben und Bußgelder zu zahlen.
Seit 2016 bemühen sich die Sicherheitsbehörden darum, Angehörigen der Szene die Waffenerlaubnisse zu entziehen. Innerhalb von drei Jahren gelang ihnen das in 790 Fällen. Die Verfahren ziehen sich allerdings häufig länger hin, weil sich die Betroffenen juristisch zur Wehr setzen.
Mehr Rechtsextreme auch wegen Flügel-Einstufung
Anfang Dezember hatte sich ein Sportschütze, der für das Beschaffungsamt der Bundeswehr in Ulm arbeitete, mit einer Schusswaffe erschossen. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass der Militärische Abschirmdienst (MAD) gegen den Mann und mehrere Mitarbeiter der Regionalstelle für Qualitätsmanagement wegen möglicher Zugehörigkeit zu den so genannten Reichsbürgern ermittelt.
Im vergangenen Oktober hatte das Bundesinnenministerium in einer Antwort auf eine schriftliche Frage von Renner ausgeführt, der Anstieg dürfte "zum Teil auf dem gestiegenen Personenpotenzial im Phänomenbereich Rechtsextremismus beruhen". Im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 wird das rechtsextremistische Personenpotenzial mit 32.080 Personen angegeben.
Anfang 2019 hatte der Verfassungsschutz den "Flügel" der AfD und die AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative jeweils als Verdachtsfall eingestuft. Der 2015 von dem Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke gegründete "Flügel" wird vom Verfassungsschutz seit März 2020 nicht mehr als Verdachtsfall, sondern als gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche-demokratische Grundordnung eingestuft. Er hatte sich im vergangenen Jahr auf Druck des AfD-Bundesvorstandes formal aufgelöst. Inoffiziell existiert das Netzwerk aber wohl weiterhin.
Der "Tagesspiegel" hatte berichtet, das Rechtsextremismus-Personenpotenzial sei 2020 auf nunmehr 33.300 Personen angewachsen, von denen 13.300 Personen als gewaltorientiert eingeschätzt würden.
Was besagt das Waffenrecht?
Es gibt zwei Arten waffenrechtlicher Erlaubnisse: Wer als Jägerin, Jäger eine Waffenbesitzkarte hat, darf eine Schusswaffe kaufen, die er zur Jagd benutzt. Sport-Schützinnen, -Schützen können ebenfalls eine Waffenbesitzkarte beantragen und dürfen ihre selbst erworbenen Waffen damit auf dem Schießstand verwenden und auch dorthin transportieren. Der Waffenschein berechtigt zum Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit, etwa zum Selbstschutz, weil jemand als Personenschützerin, Personenschützer arbeitet oder beruflich Wertsachen-Transporte begleitet.
Seit etwa einem Jahr gilt das neue Waffenrecht. Es sieht vor, dass bei der Beantragung der Erlaubnis und danach alle drei Jahre geprüft wird, ob jemand die dafür notwendige "Zuverlässigkeit und persönliche Eignung" besitzt - und dass auch automatisch beim Verfassungsschutz nachgefragt wird, ob der oder die Waffenbesitzerin, Waffenbesitzer als Extremistin, Extremist aufgefallen ist.
Umgekehrt ist es auch für den Verfassungsschutz einfacher geworden, über eine Anfrage im Nationalen Waffenregister festzustellen, ob jemand, der auf seinem Radar gelandet ist, eine Waffenerlaubnis besitzt. Rechtlich nicht gestattet ist dagegen ein automatischer Abgleich aller tatsächlichen und mutmaßlichen Extremistinnen, Extremisten mit dem Waffenregister.
Der Entzug einer Waffenerlaubnis muss im Einzelfall begründet werden. Das ist nur dann relativ einfach, wenn jemand nachweislich Mitglied einer verbotenen Organisation oder Partei ist.
Bildunterschrift: Die Zahl der bekannten Rechtsradikalen mit legalen Schusswaffen ist 2020 deutlich angestiegen.
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Der Tagesspiegel Online, 02.02.2021:
Können legal Pistolen kaufen / 1.203 Neonazis besitzen eine waffenrechtliche Erlaubnis
02.02.2021 - 14.26 Uhr
Der Verfassungsschutz weitet seine Erkenntnisse über bewaffnete Rechte aus. Sorgen bereiten auch Schießtrainings von Neonazis im Ausland.
Von Frank Jansen
Die rechtsextreme Szene hat in Teilen weiterhin legalen Zugang zu Waffen. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) verfügten Ende Dezember 2020 insgesamt 1.203 "tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremisten über eine waffenrechtliche Erlaubnis".
Das steht in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Die Zahl ist damit um ein Drittel gestiegen. Ende 2019 hatte das BfV von knapp 900 Rechtsextremisten mit waffenrechtlicher Erlaubnis berichtet. Bei Reichsbürgern ist hingegen konstant von rund 530 die Rede.
Die Zunahme bei den Rechtsextremisten sei vor allem auf bessere Erkenntnisse der Behörden und weniger auf eine tatsächliche Zunahme rechtsextremer Waffenbesitzer zurückzuführen, sagten Sicherheitskreise dem Tagesspiegel.
Nach der Verschärfung des Waffenrechts 2020 hatten die Verfassungsschutzbehörden die ihnen bekannten Rechtsextremisten mit Dateien der Waffenbehörden abgeglichen.
Diese müssen zudem zu jeder Person, die eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragt, den Verfassungsschutz fragen, ob "Bedenken gegen die Zuverlässigkeit" vorliegen.
Attentäter von Hanau verfügte legal über drei Schusswaffen
Sorge bereiten den Sicherheitsbehörden auch die Schießtrainings von Rechtsextremisten. Dem BfV seien 2019 und 2020 insgesamt "17 Fallkomplexe" bekannt geworden, "in denen Rechtsextremisten einzelne oder auch mehrere aufeinanderfolgende Schießübungen abgehalten haben", heißt es in der Antwort der Regierung.
In drei Viertel der Fälle trainierten Rechtsextremisten an Schießständen im Ausland. Welche Gefahr das bedeutet, zeigt der Fall Hanau.
Der Rassist Tobias Rathjen, der am 20. Februar 2020 in der hessischen Stadt zehn Menschen erschoss und sich selbst, hatte in der Slowakei an einem Schießstand geübt. Rathjens verfügte legal über drei halbautomatische Pistolen. Mit zwei der drei Waffen schoss Rathjen in Hanau gezielt auf Menschen aus Einwandererfamilien.
Die Polizei stellte 2019, so steht es in der Antwort der Regierung, insgesamt 490 rechte Straftaten fest, bei denen Waffen eine Rolle spielten. In 176 Fällen handelte es sich um Gewaltdelikte. Bei insgesamt 24 Attacken auf Asylbewerber in den Jahren 2019 und 2020 waren die Täter bewaffnet.
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Süddeutsche Zeitung Online, 02.02.2021:
AfD will sich gegen Einstufung als Verdachtsfall wehren
02.02.2021 - 16.41 Uhr
Dresden (dpa). Die sächsische AfD will sich juristisch gegen eine Einstufung als Verdachtsfall des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) wehren. Man bereite sich als Partei auf die Klageverfahren vor, sagte Landeschef Jörg Urban am Dienstag auf Anfrage. "Wir machen das zentral, koordiniert über den Bundesverband." Urban zeigte sich nicht überrascht, dass das LfV gegen die AfD "in Stellung gebracht wird". Als Beleg nannte er personelle Weichenstellungen im Bundesamt und diversen Landesämtern.
Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur vom Montag führt das LfV in Sachsen die AfD nun als Verdachtsfall. Zuvor hatte die "Bild" darüber berichtet. Sowohl Innenministerium als auch LfV verwiesen auf die Gesetzeslage und äußerten sich nicht zu den Berichten. Das LfV darf laut Gesetz nicht über eine Einstufung zu Verdachtsfällen informieren. "Es ist ein Unding, dass behördlicherseits Informationen an Medien durchgestochen werden, mit dem Ziel, der stärksten Oppositionspartei im Freistaat Sachsen politischen Schaden zuzufügen", erklärte Urban.
Die Thüringer AfD war als erster Landesverband der Partei vom Verfassungsschutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet worden. Ihr Vorsitzender ist Björn Höcke, der Gründer des formal inzwischen aufgelösten "Flügels", den der Verfassungsschutz als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" eingestuft hat.
Seit Juni 2020 ist auch die AfD Brandenburg als Verdachtsfall eingestuft, seit kurzem wird auch der Landesverband in Sachsen-Anhalt nach dpa-Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgespäht.
Bildunterschrift: Jörg Urban, Vorsitzender der AfD in Sachsen, kommt mit Mundschutz zu einer Pressekonferenz.
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Blick nach Rechts, 02.02.2021:
"Aus dem Verborgenen neuen Unfrieden gesät"
Von Rainer Roeser
Fast hätte man meinen können, im dauerzerstrittenen nordrhein-westfälischen Landesverband der AfD sei etwas mehr Ruhe eingekehrt. Doch 16 Monate nach der Wahl eines gänzlich "Flügel"-losen Landesvorstands zofft man sich wieder mit Inbrunst.
Es geht um Mandate, um prestigeträchtige und aussichtsreiche Listenplätze. Ende Februar und Anfang März sollen die Delegierten bei zwei Parteitagen im Kalkarer Freizeitpark "Wunderland" die Landesliste für die Bundestagswahl aufstellen. Geht es nach AfD-Landeschef Rüdiger Lucassen, ist er der geborene Spitzenkandidat.
Doch an unerwarteter Stelle tun sich Widerstände auf. Jener Teil der AfD, der sich "gemäßigt" gibt und auf offene Konfrontation mit allem setzt, was nach "Flügel" aussieht, hat Lucassen die Unterstützung versagt. Und der Vorsitzende keilt zurück. Am Sonntagmittag schickte er dem Bochumer Kreissprecher Markus Scheer eine Mail. "Ich habe in der Vergangenheit und im Kontext zwischen Dir und mir als Landessprecher darauf vertraut, dass Du Dich aus lauteren Motiven mit mir für einen gemeinsamen Kurs in unserer Partei einsetzt", schrieb der Bundestagsabgeordnete Lucassen. "In meiner jetzt 16-monatigen Amtszeit als Landessprecher hat sich das leider als Irrtum herausgestellt." Er sehe "leider keine Grundlage mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit".
Strippenzieher
Weit wichtiger noch als Scheers Funktion in der Ruhrgebietsstadt ist die Rolle, die er in der Landespartei spielt. Für die einen ist er seit den Zeiten eines Marcus Pretzell der Dunkelmann im Hintergrund, der Strippen und Drähte zieht - für die anderen ein erfolgreicher Netzwerker im Dienste einer "besseren" AfD. Bemerkenswert ist es schon, dass sein Bochumer Kreisverband - obwohl bei Wahlen im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten eher schwach aufgestellt - gleich zwei von 13 Landtagsabgeordneten und zwei von zwölf Mitgliedern im Landesvorstand stellt und auch auf Bundesebene mit dem Leiter der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz aktuell großen Einfluss hat.
Es ist bezeichnend für den Zustand der NRW-AfD, dass Lucassens E-Mail rasch öffentlich durchgestochen wurde. In Kopie war sie auch an den Fraktionschef im Landtag sowie an zwei der fünf Bezirksvorsitzenden gegangen. Mindestens einer dieser fünf Beteiligten freilich hatte großes Interesse daran, dass öffentlich bekannt wird, was Lucassen von Scheer hält.
"Unfrieden säen"
Das ist nicht (mehr) viel. Sein eigener Kurs, der zu mehr Geschlossenheit und einer Beendigung interner Fehden führe, werde von der großen Mehrzahl der Partei mitgetragen, aber nicht von Scheer, konstatiert Lucassen. "Wo die Vielzahl unserer Mitglieder die Unterhaltung interner Zwistigkeiten beenden wollen, sind Du und Dein Umfeld zur Stelle, um aus dem Verborgenen neuen Unfrieden zu säen." Er selbst, Lucassen, sei auch dafür angetreten, ein "derartiges Binnenklima der Diskreditierung und Herabwürdigung von Funktionsträgern" zu unterbinden.
Dem Bündnis mit Scheer hatte es Lucassen zu verdanken, dass er im Oktober 2019 gegen einen "Flügel"-Kandidaten zum Landesvorsitzenden gewählt wurde. Doch wirklich vertrauensvoll war die Zusammenarbeit maximal ein halbes Jahr. Eine erste Störung erlebte die Kooperation, als Anfang letzten Jahres die AfD in Höxter eine Veranstaltung ankündigte, bei der Lucassen gemeinsam mit Björn Höcke auftreten sollte. Die Riege der "Gemäßigten" schäumte.
Mehrere Lager
"Hier wird eine Beschädigung des Landesverbands in Kauf genommen", schimpfte Scheer. "Warum mischt sich dann einer aus Thüringen in Bayern, Niedersachsen und NRW ein. Um den Zusammenhalt zu fördern? Oder eher wie in Niedersachsen den Sturz des Landesvorstands anzuführen?" Es ging vordergründig gegen Höcke. Getroffen fühlen sollte sich aber auch Lucassen. Ein anderes AfD-Mitglied aus Bochum sprach von einem "Kuscheln mit Höcke".
Der Streit eskalierte, als es um die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl ging und Scheer Lucassen die Unterstützung entzog. Nordrhein-Westfalens AfD bleibt eine Schlangengrube, wobei die Lage unübersichtlicher geworden ist. Einst ging es um die Frage: "Flügel" oder "Gemäßigte"? Heute gibt es neben dem alten "Flügel" drei - und wenn man die wenigen "Neutralen" ebenfalls berücksichtigt sogar vier - weitere Lager, die um die Macht im Landesverband kämpfen.
Knapp über Fünf-Prozent-Hürde
Auch im neuen Vorstand haben sich Brüche aufgetan. Angeblich "Gemäßigte" finden sich dort, denen es nach Krach mit radikaleren Kräften gelüstet - nicht zuletzt, um selbst als sauber, solide, demokratisch zuverlässig zu erscheinen. Da gibt es - zweitens - die Gruppe derer, die zumindest behaupten, sie wollten die Partei zusammenhalten. Landeschef Rüdiger Lucassen gehört zu ihnen. Zur inneren Geschlossenheit der Partei gehöre "das Miteinander und Verbinden von liberal-konservativen und national-konservativen Strömungen", meint der Oberst a. D. Landesvize Matthias Helferich steht für ein weiteres Lager: Jene, die mit dem "Flügel" verbal nichts (mehr) zu tun haben wollen, tatsächlich aber ähnlich radikal ticken.
Das alte Bündnis Lucassen-Scheer ist zerbrochen. Lucassen habe sich aus seiner Sicht "für jede herausgehobene Position in der AfD disqualifiziert", teilte der Bochumer dem WDR mit. Seine Partei rangiert derweil in der aktuellsten Umfrage von Infratest dimap in NRW nur noch bei sechs Prozent.
Bildunterschrift: Landessprecher Lucassen teilt gegen ein Parteimitglied aus.
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MiGAZIN, 02.02.2021:
Studie / Mehrheit der AfD-Wähler denkt rechtsextrem
02.02.2021 - 05.24 Uhr
Rund acht Prozent aller Wähler in Deutschland haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild, 16 Prozent latent. Unter den Wählern der AfD vertritt laut einer Umfrage mehr als die Hälfte geschlossen oder teilweise rechtsextreme Ansichten.
Mehr als die Hälfte der Wählerinnen und Wähler der AfD vertritt laut einer Umfrage ein geschlossenes oder teilweise rechtsextremes Weltbild. Die Einstellungen der AfD-Wählerschaft ähnelten dem Profil der rechtsextremen NPD sehr viel stärker als dem der anderen im Bundestag vertretenen Parteien, erklärte die Bertelsmann-Stiftung bei der Vorstellung ihrer Untersuchung am Montag in Gütersloh. Die AfD sei seit Gründung der Bundesrepublik "die erste mehrheitlich rechtsextrem eingestellte Wählerpartei im Deutschen Bundestag". Für die Untersuchung hatte die Bertelsmann Stiftung im Juni 2020 rund 10.000 Menschen durch das Institut YouGov Deutschland online befragen lassen.
Insgesamt liege der Anteil geschlossen (manifest) rechtsextrem gesinnter Wähler mit acht Prozent "nach wie vor stabil auf einem vergleichsweise geringen Niveau", hieß es. Allerdings stimmen weitere 16 Prozent der Wahlberechtigten rechtsextremen Einstellungsmustern zumindest latent, also "teils / teils" zu. Unter den AfD-Wählern vertreten demnach 29 Prozent ein manifestes rechtsextremes Weltbild, weitere 27 Prozent sind zumindest latent in dieser Richtung eingestellt.
Verharmlosung des Nationalsozialismus
Die latent rechtsextremen Haltungen seien in Ausprägung und Intensität rechtspopulistischen Einstellungsmustern ähnlich, analysiert die Bertelsmann-Stiftung. Demnach überlappen sich die populistischen und rechtsextremen Wähleranteile der AfD - nur 13 Prozent ihrer Anhänger seien sowohl unpopulistisch als auch nicht rechtsextrem gesinnt.
In der Untersuchung wurden den Angaben zufolge sechs Dimensionen rechtsextremer Einstellungen gemessen. Beim Thema "Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur" etwa vertraten demnach 15 Prozent der AfD-Wähler eine geschlossen rechtsextreme Position gegenüber fünf Prozent bei allen Wahlberechtigten. Auch bei den anderen Themen Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus, Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit und Befürwortung eines rassistischen Sozialdarwinismus weise die Wählerschaft der AfD zwei bis dreimal so hohe Werte auf wie die Anhänger der anderen Bundestagsparteien.
Fremdenfeindliche Einstellungen
Unter den sechs Dimensionen von Rechtsextremismus sind den Angaben zufolge nationaler Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit auch in der Wählerschaft insgesamt nennenswert verbreitet. So wünschen sich 20 Prozent aller Wahlberechtigten "mehr Mut zu einem starken Nationalgefühl" und „ein "hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland" als oberstes Ziel der deutschen Politik - weitere 39 Prozent stimmen dem teilweise zu. Die AfD-Wähler erreichen hier sogar einen Wert von zusammen 90 Prozent manifester und latenter Zustimmung.
Fast ebenso häufig treten demnach fremdenfeindliche Einstellungen mit insgesamt 52 Prozent im Durchschnitt aller Wahlberechtigten und 94 Prozent bei den AfD-Anhängern auf. Bei allen anderen Dimensionen von Rechtsextremismus - rechtsextreme Diktatur, Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus liegt die mindestens teilweise Zustimmung unter den Wählern aller Parteien im Durchschnitt bei rund einem Viertel, am niedrigsten bei den Grünen bei acht bis elf Prozent. (epd/mig)
Bildunterschrift: Blau ist das neue Braun (Archiv).
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Neue Westfälische, 02.02.2021:
Drittel der AfD-Wähler klar rechtsextrem
Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt zudem starken Hang zu Populismus
Anne-Béatrice Clasmann
Berlin. Unter den Wählern der AfD sind Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit und ein gewisser Hang zum Autoritären deutlich stärker verbreitet als unter den Anhängern der anderen Parteien im Bundestag. Zu diesem Ergebnis kommt die Bertelsmann-Stiftung in der Auswertung einer Studie, die auf einer repräsentativen Online-Umfrage vom Juni 2020 beruht.
Um rechtsextreme Einstellungen zu messen, waren die 10.055 Teilnehmer der Umfrage aufgefordert worden, sich zu Aussagen wie "Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert" oder "Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet" zu positionieren.
Den Angaben zufolge fanden sich "manifest rechtsextreme" Einstellungen bei 29 Prozent der Befragten, die beabsichtigten, die AfD zu wählen. Unter den Anhängern von CDU und CSU äußerten sich demnach sechs Prozent entsprechend. In der Wählerschaft von Linke und FDP lag der Anteil laut Bertelsmann-Stiftung bei jeweils fünf Prozent. Niedriger war der Wert für die SPD-Wähler (vier Prozent) und die Wähler der Grünen (zwei Prozent).
Eindeutig oder zumindest teilweise populistische Einstellungen wurden darüber hinaus laut Bertelsmann-Stiftung von fast drei Viertel (73 Prozent) der AfD-Wählerschaft vertreten. Der Autor der Studie, Robert Vehrkamp, schlussfolgert: "Mag ihr Wahlerfolg bei der Bundestagswahl 2017 noch vor allem ein Erfolg rechtspopulistischer Wählermobilisierung im Schatten der Flüchtlingskrise gewesen sein." Vor der Bundestagswahl 2021 zeige sich die AfD als eine Partei deren Wählerschaft mehrheitlich manifest oder latent rechtsextrem eingestellt sei.
Mit Blick auf Medienberichte zu einem neuen Gutachten des Verfassungsschutzes zur AfD betonte die Stiftung, das von ihr verwendete wissenschaftliche Konzept zur Messung von Wähler-Einstellungen sei nicht gleichzusetzen mit den Kategorien der Sicherheitsbehörde.
Unter allen Wahlberechtigten in Deutschland vertreten der Untersuchung zufolge 7,7 Prozent ein geschlossen rechtsextremes Weltbild. Deutlich weiter verbreitet sind chauvinistische Einstellungen.
Dazu zählen Forscher beispielsweise den Wunsch nach mehr "Mut zu einem starken Nationalgefühl", nach einem "harten und energischen Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland" und dem Ziel, "Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht" als oberste Maxime deutscher Politik. Unter den Wählern der Unionsparteien und der FDP stimmen solchen Aussagen bei der Befragung etwas mehr als 60 Prozent ganz oder teilweise zu. Unter den Wählern der AfD waren es 90 Prozent. Auch hier bildeten die Grünen den Gegenpol: Unter ihren Anhängern ist dieser Chauvinismus-Wert mit 34 Prozent geringer als bei allen anderen Parteien.
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