4 Artikel ,
18.08.2020 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
Jüdische Allgemeine Online, 18.08.2020:
Deborah Hartmann leitet künftig Museum der Wannsee-Konferenz
Rundfunk Berlin-Brandenburg, 18.08.2020:
Berlin-Lichtenberg / Soli-Kundgebung nach Brand in Kiez-Kneipe
Der Tagesspiegel Online, 18.08.2020:
Nach Schlag gegen Vertrauten / Andreas Kalbitz tritt nach Milzriss-Affäre als AfD-Fraktionschef zurück
die tageszeitung Online, 18.08.2020:
Polizeigewalt bei Demo in Ingelheim / Blut und Panik im Tunnel
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Jüdische Allgemeine Online, 18.08.2020:
Deborah Hartmann leitet künftig Museum der Wannsee-Konferenz
18.08.2020 - 15.34 Uhr
Die Österreicherin leitete bislang die deutschsprachige Abteilung von Yad Vashem
Deborah Hartmann, die seit 2015 die deutschsprachige Abteilung von Yad Vashem in Jerusalem geleitet hat, wird zum 1. Dezember die Leitung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin übernehmen. Die Österreicherin tritt damit die Nachfolge von Hans-Christian Jasch an, der in das Bundesinnenministerium zurückgekehrt ist.
In dem Haus am Wannsee trafen sich am 20. Januar 1942 hochrangige NSDAP- und SS-Führer, um die von den Nationalsozialisten als "Endlösung der Judenfrage" bezeichnete Deportation aller in den von Deutschland besetzten Gebieten lebenden Juden in die Vernichtungslager im Osten einzuleiten und zu koordinieren.
Die 1914 erbaute Fabrikantenvilla am Wannsee war von 1941 bis 1945 im Besitz der SS-Stiftung "Nordhav" und des NS-Reichssicherheitshauptamtes und diente als Gästehaus. Heute ist darin ein Museum sowie ein Bildungszentrum zum Holocaust untergebracht, welches vom Land Berlin und der Bundesregierung bezuschusst wird. Deborah Hartmann ist die erste Frau an der Spitze der Einrichtung.
Bildungsarbeit
Die künftige Leiterin der Gedenkstätte wurde 1984 geboren und besuchte die Zwi-Perez-Chajes-Schule in Wien. Sie studierte anschließend Politikwissenschaften an der Universität Wien und der Freien Universität Berlin. Ihre Magisterarbeit schrieb sie zum Thema "Europa und die Erinnerung an die Schoa".
Neben ihrer Arbeit für Yad Vashem arbeitete Hartmann zeitweise auch als Guide im Jüdischen Museum Wien sowie für das Büro des American Jewish Committee in Berlin und das Projekt "Zeugen der Schoa" an der Freien Universität.
Berlins Senator für Kultur und Europa, Klaus Lederer, zeigte sich erfreut über die hohe Zahl guter Bewerbungen von Frauen. "Frau Hartmann hat insbesondere mit zukunftsträchtigen, innovativen Ideen beeindruckt. Mit ihr gewinnt das Haus der Wannsee-Konferenz eine fachlich versierte, kompetente und international gut vernetzte Leitung, der die Weiterentwicklung der Bildungsarbeit besonders am Herzen liegt", so Lederer.
Das Haus der Wannsee-Konferenz nannte der Senator einen "Eckstein der Berliner Gedenk- und Erinnerungslandschaft". (mth)
Bildunterschrift: Deborah Hartmann, neue Chefin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz.
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Rundfunk Berlin-Brandenburg, 18.08.2020:
Berlin-Lichtenberg / Soli-Kundgebung nach Brand in Kiez-Kneipe
18.08.2020 - 18.52 Uhr
In Berlin-Lichtenberg hat es in einer Kneipe gebrannt, die von einem jüdischen Betreiber geführt wird. Der Staatsschutz ermittelt wegen schwerer Brandstiftung. Vor Ort versammelten sich am Dienstagabend rund 200 Menschen zu einer Solidaritäts-Demo.
Etwa 200 Menschen haben am Dienstagabend in Berlin-Lichtenberg nach einem mutmaßlichen Brandanschlag auf eine Szene-Kneipe demonstriert. Das berichtete ein rbb-Reporter vor Ort. Zu der Solidaritäts-Kundgebung für das Lokal "Morgen wird besser" hatte die "Antifaschistische Vernetzung Lichtenberg" aufgerufen. An der Ecke Fanningerstraße / Hagenstraße sollten Anwohner und Demonstranten "rechtem Terror entgegentreten", "gegen jeden Antisemitismus" demonstrieren und "Solidarität mit den Betroffenen" zeigen.
Nach dem Brand in der Kiez-Kneipe in der Nacht zum Freitag prüft die Berliner Polizei weiterhin, ob die Täter ein politisches Motiv hatten. Der für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutz im Landeskriminalamt ermittele in Abstimmung mit dem Brandkommissariat, sagte ein Sprecher am Montag. Es bestehe der Verdacht der schweren Brandstiftung. Ermittelt werde in alle Richtungen.
Besitzer wurde nach eigenen Angaben bedroht
Anwohner des Hauses in der Hagenstraße, in dem sich die Kneipe befindet, hatten am Freitagmorgen gegen 6.20 Uhr die Feuerwehr alarmiert, die die Flammen löschen konnte. Unter anderem brannte laut dem Polizeisprecher ein Sofa. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Jusos, Hanna Reichhardt, schrieb am Sonntag auf Twitter von einem "rechtsradikalen Brandanschlag" auf ihre Stammkneipe, die einen jüdischen Besitzer habe.
In einem Video, das am Dienstag vom Jüdischen Forum auf Twitter verbreitet wurde, schildert der Besitzer den Vorfall: "Ich habe am Freitagmorgen einen Anruf bekommen um 6.20 Uhr, dass der Laden brennt." Die Polizei habe eine Einbruchspur am Fenster bemerkt und ihn gefragt, ob er früher bedroht wurde. Daraufhin habe er mehrere Vorfälle beschrieben. Fünfmal sei bereits in das Lokal eingebrochen worden.
Bei der Demo am Dienstagabend sagte der Betreiber, er wolle auf jeden Fall weitermachen.
Bildunterschrift: Brandschäden im Innenraum des "Morgen wird besser".
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Der Tagesspiegel Online, 18.08.2020:
Nach Schlag gegen Vertrauten / Andreas Kalbitz tritt nach Milzriss-Affäre als AfD-Fraktionschef zurück
18.08.2020 - 18.00 Uhr
Andreas Kalbitz gibt sein ruhendes Amt als AfD-Fraktionschef in Brandenburg endgültig auf. Auslöser ist ein Schlag gegen seinen Vize.
Von Alexander Fröhlich und Maria Fiedler
Andreas Kalbitz gibt nun endgültig den Vorsitz der AfD-Fraktion in Brandenburg auf. Das sagte er dem Tagesspiegel. Damit reagiert Kalbitz auf Rücktrittsforderungen, die am Dienstag in der Fraktionssitzung selbst von Vertrauten erhoben worden sind.
Auslöser ist ein Faustschlag gegen den Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktion, Dennis Hohloch, der dabei einen Milzriss erlitt und deshalb in einem Berliner Krankenhaus liegt. Kalbitz hatte den Vorsitz wegen des laufenden Rechtsstreits um seine Parteimitgliedschaft ruhen lassen. Hohloch führte daher die Fraktion.
Bereits am Dienstagmorgen hat die Staatsanwaltschaft Potsdam ein Ermittlungsverfahren gegen den aus der AfD ausgeschlossenen Politiker eingeleitet. Das sagte ein Behördensprecher dem Tagesspiegel am Dienstagvormittag. "Wir haben nach der Presseberichterstattung entschieden, Ermittlungen einzuleiten", erklärte der Sprecher. "Wir prüfen, ob eine Straftat vorliegt." Es gehe um den Anfangsverdacht der fahrlässigen Körperverletzung.
Kalbitz soll Hohloch am 10. August im Büro eines Referenten der Fraktion einen "freundschaftlichen Schlag" verpasst haben. Am Tag darauf sei Hohloch mit Schmerzen ins Krankenhaus gebracht worden, hieß es. Dort diagnostizierten die Ärzte dann den Milzriss. Zuerst hatte das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" (RND) über den Vorfall berichtet.
Kalbitz-Rücktritt ist ein herber Schlag für den Flügel
Nach den bislang vorliegenden Informationen soll Hohloch gerade bei dem Referenten im Büro gesessen haben. Dann soll Kalbitz das Büro betreten und seinen Vertrauten freundschaftlich geboxt haben.
Die Staatsanwaltschaft ist gesetzlich verpflichtet, bei Hinweisen auf mögliche Straftaten Ermittlungen einzuleiten - dies sagt nichts darüber aus, ob ein strafbares Verhalten vorliegt.
Bei einfacher oder fahrlässiger Körperverletzung wäre üblicherweise auch noch ein Strafantrag des Opfers nötig, ansonsten werden derlei Verfahren dann eingestellt - es sei denn die Staatsanwaltschaft begründet ein besonderes öffentliches Interesse an dem Fall. Bei schwerer und gefährlicher Körperverletzung wird wegen Verdachts auf ein so genanntes Offizialdelikt ohnehin von Amts wegen ermittelt.
Dass Kalbitz vom Fraktionsvorsitz zurücktritt, ist ein herber Schlag für den ehemaligen "Flügel" in der AfD. Dieser wird vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft und löste sich auf Druck des AfD-Bundesvorstands auf. Im Lager um Parteichef Jörg Meuthen stieß Kalbitz’ Rücktritt auf Freude. "Ich bin erleichtert, dass sich das Buch Kalbitz nun endgültig schließt", sagte der Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski. "Dieser Mann ist nicht politikfähig." Auch Meuthen selbst erklärte, die Entscheidung von Kalbitz, endgültig zurückzutreten, sei "im Lichte der Geschehnisse unvermeidbar und überfällig".
CDU-Landtagsfraktionschef der CDU, Jan Redmann, sagte am Dienstag: "Das Fatale daran ist, unabhängig davon, was tatsächlich passiert ist zwischen den beiden Herren, dass sowohl Außenstehende als auch Mitglieder der AfD es Herrn Kalbitz ohne weiteres zutrauen." Das sei ein Novum. "Noch nie gab es in Brandenburg einen Spitzenpolitiker, dem ohne weiteres zuzutrauen ist, dass er in dieser Weise tätlich geworden ist und so Konflikte austrägt", sagte Redmann.
"Natürlich bedauere ich dieses Missgeschick sehr und diese Verkettung unglücklicher Umstände", sagte Kalbitz der "Berliner Zeitung". Dem „Spiegel“ hatte Kalbitz zunächst erklärt. "Das ist alles viel unspektakulärer, als es teilweise bewusst aufgebauscht wird. Diese bedauerliche Sache wird sich völlig aufklären."
Die Berichte über den Vorfall würden nicht zufällig wenige Tage vor der Verhandlung vor dem Landgericht Berlin auftauchen, sagte Kalbitz. Das sei "innerparteiliches Schmierentheater" von Leuten, die Angst hätten, dass er am Freitag seinen Prozess vor dem Landgericht Berlin gewinnen und wieder Parteimitglied werden könnte. "Die wollen mich unbedingt weg haben." Das Landgericht befasst sich am Freitag mit Kalbitz` Eilantrag gegen die Aufhebung seiner AfD-Mitgliedschaft.
Der "Spiegel" zitiert ferner aus einem AfD-internen WhatsApp-Chat. Darin soll der sachsen-anhaltinische AfD-Bundestagsabgeordnete Frank Pasemann von einem "Märchen von der handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Hohloch und Kalbitz" geschrieben haben.
"Freundschaftlich in die Seite gebufft"
Das werde von Kalbitz-Gegnern in der Brandenburger AfD-Landtagsfraktion verbreitet, schrieb Pasemann. Er wird dem offiziell aufgelösten und vom Verfassungsschutz als rechtsextremistisch eingestuften "Flügel" der AfD zugeschrieben, dessen Strippenzieher Kalbitz ist.
Kalbitz soll nach Pasemanns Darstellung Hohloch "freundschaftlich in die Seite gebufft" haben. "Hohloch klagte Stunden später über Schmerzen und Übelkeit. Er wurde dann ins Krankenhaus gefahren und es wurde festgestellt, dass eine nicht diagnostizierte, aber schon lange vorhandene Zyste in der Milz geplatzt war."
Der Abgeordnete Christoph Berndt sagte bei der Pressekonferenz der AfD-Fraktion am Dienstag: "Wir haben über den Fall gesprochen. Wir führen eine ganz intensive und ernsthafte Diskussion. Sie ist noch nicht abgeschlossen." Alle möglichen Szenarien stünden im Raum. Erst Stunden später drang die Nachricht vom Rücktritt durch.
AfD-Fraktionsvorsitzende Steffen Kubitzki sagte: "Die Entscheidung zum Kalbitz-Rücktritt ist äußert schwergefallen, aber erscheint unter den gegebenen, schwierigen Umständen als sinnvollste Option." Und Kalbitz sagte, "dass in der derzeitigen Gemengelage mein Rücktritt der richtige Beitrag ist, die Fraktion wieder in ruhigere und sachpolitische Fahrwasser zu lenken und sowohl der fortlaufenden medialen Skandalisierung als auch der innerparteilichen Instrumentalisierung keine weitere Nahrung zu geben". Der Rechtsstreit um die Mitgliedschaft in der AfD sei davon unbenommen. Er ich sehe der Verhandlung vor dem Landgericht Berlin "sehr zuversichtlich entgegen".
Schwere Vorwürfe: Schlug Kalbitz schon einmal zu?
Bei Facebook erhob ein Mitarbeiter des AfD-Abgeordneten Lars Hünich schwere Vorwürfe gegen Kalbitz. Es ist ausgerechnet Kai Laubach, den Kalbitz vor einigen Jahren in die Fraktion geholt hatte - trotz Nähe zur rechtsextremistischen Identitären Bewegung. "Du bist Parteikrebs, Junge", schrieb Laubach im Dienstag in einem Facebook-Beitrag. "Bitte geh."
Weiter schreibt Laubach über Kalbitz: "Du hättest beinahe Dennis Hohloch fahrlässig getötet. Du verspottest ihn danach noch mir selbst gegenüber als "zerbrechliches Weichei", nachdem mir Dennis schon enttäuscht davon erzählt hat, dass du überall genau so etwas verbreiten würdest."
Kalbitz stehe nicht zu seiner Verantwortung, sondern ziehe "nebenbei auch noch den Jungen in den Dreck, der dir in den letzten stürmischen Wochen immer politischen Rückhalt, Freundschaft und Treue entgegengebracht hat".
Obendrein wirft Laubach Kalbitz vor, "politisches Kapital aus deinem unkontrollierten, besoffenen Verhalte" zu ziehen. "Widerlicher, schäbiger, ruchloser und menschlich erbärmlicher kann ich mir nichts vorstellen."
Laubach zufolge soll es noch weitere Zwischenfälle gegeben haben. "Es ist ja auch nicht das erste mal, dass dir "das Maß" abhanden gekommen ist." Bei einer Fraktionsklausur im Jahr 2019 soll er einem Mitarbeiter der Fraktion "in die Fresse geschlagen" haben, "weil Du angeblich beim Saufen wichtige Reden in der Hotellobby schwingen wolltest".
Bei dem Mitarbeiter, der geschlagen worden sein soll, soll es sich dem Vernehmen nach um ein Vorstandsmitglied der AfD Potsdam handeln. Der Kreisverband wollte sich auf Anfrage nicht näher dazu äußern.
Kalbitz soll schon einmal zugeschlagen haben
Der AfD-Politiker Laubach beklagt auch, dass Kalbitz von anderen Mitgliedern der Fraktion immer gedeckt wird. Dass Landtagsvizepräsident Andreas Galau, Parteivizechefin Birgit Bessin und weitere Abgeordnete sich "danach nicht zu Wort gemeldet haben und alles nur hinter verschlossenen Türen behandelt haben, und zwar ohne dich zu Konsequenzen aufzufordern, ist deren ganz eigener trauriger Beweis ihrer Unfähigkeit für die Ämter, die sie aktuell bekleiden", schreibt der Mitarbeiter.
Auch Kalbitz‘ Umgang mit seiner rechtsextremistischen Vergangenheit, wird von Laubach heftig kritisiert. "Du reitest die Partei mit deiner Vergangenheit Huckepack und bürdest ihr deinen absoluten, egoistischen Machtwillen auf", schreibt er. "Du bist dabei durchdringend verlogen und repräsentierst nicht ansatzweise das, wofür wir als AfD stehen: Mut zur Wahrheit."
Das Bundesschiedsgericht der AfD hatte den Entzug der Mitgliedschaft für rechtens erklärt. Dagegen geht Kalbitz vor dem Landgericht Berlin vor. Mit seiner Entscheidung bestätigte das Bundesschiedsgericht einen von Parteichef Jörg Meuthen mit knapper Mehrheit im Parteivorstand durchgesetzten Beschluss.
Kalbitz bestreitet Mitgliedschaft in Neonazi-Verein
Begründet wird der Entzug des Parteibuchs damit, dass Kalbitz im Jahr 2013 beim Eintritt in die AfD die Mitgliedschaft in der damals bereits verbotenen rechtsextremen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) sowie bei den Republikanern verschwiegen habe. Kalbitz bestreitet, Mitglied in dem militanten Neonazi-Verein gewesen zu sein, der Kinder und Jugendliche mit Rassekunde und NS-Ideologie gedrillt hat.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat jedoch in einem Gutachten festgehalten, dass der Verein für eine "Familie Andreas Kalbitz" unter der Nummer "01330" eine HDJ-Mitgliedschaft geführt hat. Bei dem ersten Verfahren vor dem Landgericht, bei dem Kalbitz zunächst gegen den Beschluss des Bundesparteivorstandes erfolgreich war, versuchte er den Verdacht zu zerstreuen. Demnach seien auf der Liste Mitglieder und Interessenten gleichermaßen geführt worden, daher sei eine Mitgliedschaft nicht erwiesen.
Dennoch hatte Kalbitz zumindest eine gewisse Nähe zu dem Verein. Er hatte mindestens ein Freizeitlager der HDJ besucht. Das war im Jahr 2007. Das Bundesinnenministerium hatte die HDJ 2009 wegen ihrer "dem Nationalsozialismus wesensverwandten Ideologie" und einer "aktiv-kämpferischen, aggressiven Grundhaltung" gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verboten - auch weil sie Jugendliche zu "fanatischen nationalistischen Freiheitskämpfern" erziehen wollte.
Kalbitz hatte auch Kontakt zum letzten HDJ-Bundesführer Sebastian Räbiger. Der hatte nach dem Verbot eine E-Mail an mehrere Personen geschickt, auf dem kleinen Verteiler waren Führungskräfte der HDJ und Kader der NPD - und Kalbitz.
Die HDJ war eine verschworene Gemeinschaft, zahlreiche Führungskader waren in Brandenburg aktiv, wo Kalbitz seit 2006 lebt. Von 1994 bis 2006 war Kalbitz Zeitsoldat und Fallschirmjäger bei der Bundeswehr - und seit Jahrzehnten in der rechtsextremen Szene verstrickt: Er war Anfang der 1990er-Jahre im Witikobund, einem Vertriebenen-Verband, gegründet von NSDAP- und SS-Funktionären, und tauchte nach 2000 bei der von Neonazis dominierten "Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland" (JLO) auf.
"Geschickte Hitler-Verherrlichung"
Mit seinem Schwiegervater erstellte Kalbitz zwei Filme, die 2004 und 2008 veröffentlicht wurden. Es ging um Adolf Hitler und die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Weltkrieg. Ein Historiker attestierte jüngst in der "Welt" eine "geschickte Hitler-Verherrlichung" und das Verschweigen von Kriegsverbrechen. Und im Jahr 2007 soll Kalbitz mit NPD-Funktionären an einem Neonazi-Aufmarsch in Athen teilgenommen haben.
2014 übernahm Kalbitz den Vorsitz eines Vereins, dessen Gründer SS-Hauptsturmführer der Leibstandarte Adolf Hitler war, mit NPD-Mitgliedern im Vorstand. Nach Medienberichten legte Kalbitz den Vorsitz 2015 nieder. Der Verfassungsschutz stuft Kalbitz als Rechtsextremist ein.
Bildunterschrift: Andreas Kalbitz (l.) und Dennis Hohloch (M.) während einer Pressekonferenz.
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die tageszeitung Online, 18.08.2020:
Polizeigewalt bei Demo in Ingelheim / Blut und Panik im Tunnel
Bei einer Demo in Ingelheim scheint die Polizei hundert Menschen in Lebensgefahr gebracht zu haben. Zeuginnen, Zeugen berichten von massiver Gewalt.
Anett Selle
Köln (taz). Als Amelie F. spontan entschied, mit Freundinnen zu einer Kundgebung gegen Rechtsextreme zu fahren, ahnte sie nicht, dass sie später sagen würde: "Ich habe um mein Leben gefürchtet." Die 27-Jährige promoviert in Soziologie und hatte bereits beruflich mit der Polizei Mainz zusammengearbeitet, mit positiven Erfahrungen. Jetzt sei ihr Bild ein anderes.
Am Samstag, den 15. August, hielt die Partei Die Rechte, bekannt unter anderem für Holocaust-Leugnung, in Ingelheim bei Mainz eine Kundgebung ab. Es kamen etwa 20 Menschen. Nun häufen sich Berichte über Polizeigewalt bei angemeldeten Gegenkundgebungen. Die Polizei Mainz hat Aufklärung angekündigt und eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Polizeivizepräsidenten eingerichtet. Antworten würden einige Zeit in Anspruch nehmen, so ein Sprecher auf Anfrage der taz.
Neben Amelie F. war auch Richard G., 38, als IG-Metall-Respekt-Vertreter vor Ort. Mit Artemis C., 27, der den Protest dokumentierte, und dem Aktivisten Spike M., 40, der Minderjährige dabeihatte - weil es letztes Jahr so friedlich gewesen sei in Ingelheim, wurden ebenfalls Gespräche geführt. Alle Namen sind auf Wunsch der Betroffenen geändert.
Direkt nach Ankunft am Bahnhof Ingelheim wurden etwa 100 Bürgerinnen, Bürger von der Polizei in einen engen Tunnel getrieben. Videos zeigen den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray an beiden Ausgängen. Menschen schreien nach Luft. Auch Polizistinnen, Polizisten sind auf Videos im Tunnel zu erkennen. Sie schreien und schlagen mit ihren Schlagstöcken gegen die niedrige Decke. Sämtliche Zeuginnen, Zeugen sagen, sie wüssten nicht, warum die Polizei sie in den Tunnel drückte. Es sei nichts vorgefallen.
Panikattacken, Platzwunden und Zusammenbrüche
"Es wurde nur skandiert, "Antifascisti" oder so was", sagt Amelie F. "Es war klar, wir zeigen: Wir sind hier gegen die Nazis. Aber dann gab es Gedränge. Von hinten und von vorn." Zeuginnen, Zeugen berichten von Panikattacken, Platzwunden und Zusammenbrüchen im Tunnel.
Artemis C. sagt: "Die Polizei hat von beiden Seiten gedrückt, sodass Leute Atemnot bekamen." Andere Zeuginnen schildern dasselbe. "Ich bin an Polizei gedrückt worden, die im Tunnel stand", sagt Spike M. "Die waren auch vollkommen außer sich - ich hab auch keine Luft bekommen. Alle Leute, mit denen ich geredet habe - es war der absolute Horror."
Irgendwann habe die Polizei einen Ausgang geöffnet: den, der wegführte von der Stadt. Die Bürgerinnen, Bürger im Tunnel seien von der Polizei dann zu einer Gegenkundgebung getrieben worden: einer laufenden Kundgebung, die für 75 Menschen geplant war. "Als wir ankamen, war mit etwa 50 Fahrzeugen und Gittern ein Zaun um die Kundgebung gebaut und dann wurden wir reingedrängt", sagt Amelie F. "Man kam nicht raus, es war wie eine Mauer. Alle wurden reingepfercht, ohne Grund."
Zeuginnen. Zeugen sagen, die Polizei habe die Menschen in Gewahrsam trotz Hitze nicht mit Wasser versorgt. Frauen hätten in Begleitung männlicher Polizisten ohne Sichtschutz urinieren müssen. "Als Vertrauensmann der Daimler AG ist mir da, also, ich hab mich wirklich beherrschen müssen", sagt Richard G. "Ich bin für die IG Metall angereist, um die Respekt-Aktion aus Frankfurt zu unterstützen. Aber die waren wirklich eskalierend, die Polizisten."
Zeugen: Polizei trat Person im Rollstuhl um
Zweimal habe die Polizei die Kundgebung enger gezogen, bis Abstand unmöglich wurde. Jedes Mal seien Bürgerinnen, Bürger verletzt worden. Kommunikation habe nicht stattgefunden, die Polizei habe sich Schneisen freigeknüppelt und sei auch über am Boden liegende Verletzte gestürmt.
Zeuginnen, Zeugen schildern mehrfache Schläge auf Bewusstlose und Fixierte, und das Umtreten einer Person im Rollstuhl. Richard G. sagt, er sei wegen einer Verletzung zwei Tage arbeitsunfähig geschrieben.
In Rheinland-Pfalz gilt Kennzeichnungspflicht. Aber mehrere Bürgerinnen, Bürger schildern, dass Dienstnummern abgenommen oder verdeckt worden seien.
Am Ende des Tages war laut Sanitäterinnen, Sanitätern von etwa 250 Menschen knapp die Hälfte verletzt. Das Rote Kreuz war mit mehreren Krankenwagen vor Ort. "Viele sind da traumatisiert rausgegangen", sagt Spike M. Gegen 17.30 Uhr, nach Stunden, habe die Polizei begonnen, Menschen ohne Personalien-Kontrolle gehen zu lassen. Ohne Angabe von Gründen.
"Wenn man sich vorstellt, dass 100 Meter entfernt Nazis marschieren, und wir werden als Feinde behandelt, weil wir gegen sie protestieren", sagt Amelie F. Sie kenne die Berichte von rechtsextremen Tendenzen in der Polizei. "Wo man sich vorstellen möchte: Das sind nur ein paar Zellen. Aber am Samstag hatte ich den Eindruck, es hat System." Bei ihr sei großes Misstrauen gegenüber der Polizei entstanden. "Auf allen Ebenen. Vom Polizeipräsidenten über Dozenten an Polizeischulen, über Schutzpolizisten und Polizisten, die mir in der Bahn entgegenkommen."
Die Polizei Mainz ruft Betroffene auf, zur Aufklärung beizutragen. Wie viele dem nachkommen, ist offen: Die Betroffenen, die mit der taz sprachen, nannten als Grund für die gewünschte Anonymisierung Furcht vor der Polizei Mainz.
Bildunterschrift: Menschen im Polizei-Gedrängel. Das Symbol-Foto zeigt aber nicht die umstrittene Szene in Ingelheim.
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