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Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung , 10.04.2020 :

"Noch immer werden neue Details bekannt"

Stadtarchivar Stephan Grimm findet die Forschungen zum Zweiten Weltkrieg weiterhin lohnend

Herr Grimm, bis heute halten sich verschiedene Versionen, welchen Weg Pastor Paul Gronemeyer seinerzeit mit der weißen Fahne nahm.

Stephan Grimm: Das stimmt. Eine besagt, dass eine US-Einheit über die Autobahn Richtung Gütersloh gekommen ist, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Gronemeyer ihnen auf der Verler Straße entgegengekommen sein könnte.

Eine weitere Einheit kam über die Neuenkirchener Straße, wo es einen Zwischenfall gab und Panzer wegen des Widerstandes geschossen haben. Möglicherweise ist Gronemeyer auch hier entlang gefahren.

Nachweislich aber ist Gronemeyer die Wiedenbrücker Straße hinuntergefahren und hat in Wiedenbrück im Haus des Bauern mit amerikanischen Offizieren gesprochen. Anschließend ist er wieder zurückgefahren.

Was grundsätzlich die Frage aufwirft: Ist der Zweite Weltkrieg in Gütersloh eigentlich auserforscht?

Grimm: Die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen sind bekannt und dokumentiert. Es gibt jedoch immer wieder Tagebücher, Briefe und Erinnerungen von Zeitzeugen, die weitere Details enthalten. Vor allem zur Geschichte des Fliegerhorstes und der in der Kaserne an der Verler Straße stationierten Luftnachrichteneinheiten müsste weiter geforscht werden. Auch für die Zeit unter dem Nationalsozialismus gibt es die eine oder andere Unklarheit.

Forscht denn noch jemand daran?

Grimm: Ja. Im Augenblick sind es drei Personen, die damit beschäftigt sind. Dabei geht es zum einen um die Geschichte des Flugplatzes und der hier stationierten Briten für eine später öffentlich zugängliche Datenbank, zum anderen darum, eine Ausstellung zur Geschichte des Flugplatzes vor 1945 vorzubereiten.

Führt noch jemand Gespräche mit Zeitzeugen?

Grimm: Ja. Dabei werden durchaus teilweise neue Details und Informationen bekannt.

Haben sich in jüngerer Vergangenheit, sagen wir: in den vergangenen zehn Jahren, neue Quellen aufgetan?

Grimm: Auch das. Bei Nachforschungen in überörtlichen Archiven sind neue Dokumente ans Tageslicht gekommen. Sie fanden sich zum Beispiel im Bundesarchiv - also dem Militärarchiv in Freiburg, in den National Archives in Kew, London, oder in der National Archives and Records Administration in Washington D.C. Akten liegen auch beim Luftgaukommando VI Münster, dort finden sich Unterlagen zur Gütersloher Fliegerhorst-Kommandantur, unter anderem Kriegstagebücher ab 1940.

In welcher Weise ist das Stadtarchiv noch zum Zweiten Weltkrieg tätig?

Grimm: Wir sammeln weiterhin private Nachlässe, Fotos und Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs.

Warum gibt es keine Aktionen oder Ausstellungen zu 75 Jahre Weltkriegsende?

Grimm: Aktuelle Forschungen und Recherchen in auswärtigen Archiven werden zur Zeit vertieft und weitergeführt. Spekulationen und Fehlinterpretationen sollen auf jeden Fall vermieden werden, daher ist die Auswahl an geeigneten Objekten und aussagekräftigen Dokumenten zu vergrößern. Zum Ende des Krieges und zum Einmarsch der US-Truppen hat das Stadtarchiv kürzlich bis Ende Februar eine Dokumentation zur Geschichte des Bahnhofs nach 1945 gezeigt.

Was ist weiter geplant?

Grimm: Im Rahmen der neu gegründeten Geschichtswerkstatt werden weitere Einzeldarstellungen und Themenschwerpunkte erarbeitet. Spätestens zum Erscheinen des Stadtgeschichtsbuches zum Jubiläum 2025(Anmerkung der Redaktion: 200 Jahre Stadt Gütersloh)werden dieses und weitere Themen in wissenschaftlich aufgearbeiteter Form präsentiert.

Zur aktuellen Corona-Krise heißt es manchmal, so etwas hat es seit dem Krieg nicht mehr gegeben, oder gar: So etwas hat es nicht mal im Krieg gegeben. Was halten Sie von solchen Äußerungen?

Grimm: Beide Ereignisse sind auf ihre Art singulär und nicht vergleichbar. Der Hungerwinter 1946 / 47 war eine humanitäre Katastrophe, die gravierenden Mängel bei der Lebensmittel- und Heizstoffversorgung dürfen nicht vergessen werden.

Das Gespräch führte Ludger Osterkamp.

Bildunterschrift: Stephan Grimm (63) leitet das Stadtarchiv seit dessen Gründung 1984.

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Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung, 10.04.2020:

US-Soldaten bezogen Privathäuser

Neue Erkenntnis: Die Armee konfiszierte einen kompletten Stadtbezirk

Gütersloh (ost). Die Gütersloher nahmen den Einmarsch der Amerikaner mit Erleichterung auf. Endlich war der Krieg vorbei! Mit der Nachrichtenkaserne an der Verler und dem Flugplatz an der Marienfelder Straße fanden die US-Truppen derart günstige Bedingungen vor, dass sie sich rasch entschlossen, das Hauptquartier ihrer 9. Armee hierhin zu verlegen. Tausende von Soldaten kamen - doch wo sollten sie Quartier beziehen? Der Heimatforscher Rudolf Hermann hat jetzt erstaunliche, in weiten Teilen neue Erkenntnisse zutage befördert.

Demnach gingen die Beschlagnahmungen von Wohnhäusern weit über Einzelfälle hinaus. Vielmehr ordnete US-General Simpson, Oberbefehlshaber der 9. Armee, am 13. April die Räumung eines kompletten Innenstadtbezirkes an. 21 Hektar waren davon erfasst - die gesamte Siedlung entlang der Hohenzollern- zwischen Venn- und Königstraße sowie zwischen Markt- (heute Friedrich-Ebert-) und Prinzenstraße.

"Der Bevölkerung wurden nur wenige Stunden Zeit gelassen", sagt Hermann. Bis 18 Uhr hatten die Häuser geräumt zu sein. In dem Räumungsbefehl ("Orders for the evacuation of civilian homes for use of military personnel") stand genau, was zu beachten war: Die Häuser hatten sauber zu sein, die Möbel drinzubleiben, der Schlüssel zu stecken. Erlaubt war lediglich, Kleider, Schmuck, das allernötigste Geschirr und Lebensmittel mitzunehmen. Die Amerikaner zäunten das Gebiet mit 1,50 Meter hohem Stacheldraht ein. Nur an fünf Stellen ließen sie Zugänge.

Doch warum bezogen die Soldaten Privathäuser und nicht die Quartiere in der Kaserne? "In den Akten findet sich dafür keine Erklärung", sagt Hermann. Denkbar sei, dass sich die US-Armee mit ihrer enormen Übermacht den Luxus erlauben konnte, Truppenteile auszutauschen. "Vielleicht sollten sich die Soldaten hier zwischenzeitlich einfach nur ausruhen können."

Bis Ende Juni, bis zum Wechsel zur britischen Besatzungsmacht, hatte die Räumung Bestand. "Die Zahl der britischen Soldaten war viel kleiner, daher gab es für einen derart großen Bezirk später keinen Bedarf mehr", sagt Hermann. Stattdessen pickten sich die Briten einzelne Häuser heraus, vorwiegend solche mit Bädern. Die aber behielten sie lange: Laut Eintragungen im Einwohnerbuch hatten die Briten 1953 noch 107 Wohnhäuser in 34 Straßen beschlagnahmt. Erst im Oktober 1957 gaben sie die letzten frei.

Bildunterschrift: Der Räumungsbefehl, unterzeichnet von Major Olsen.

Bildunterschrift: Fast nachlässig wurde das zu räumende Quartier markiert.

Bildunterschrift: Hobbyforscher Rudolf Hermann.

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Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung , 10.04.2020 :

Die Stunde Null fiel auf Ostern

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Gütersloh / Die Stadt lag in Schutt und Asche, die Bevölkerung war zermürbt und verängstigt / Mit Mut und unter Lebensgefahr schafften es zwei Männer, die Stadt ohne weiteres Blutvergießen an die US-Armee zu übergeben - eine Chronik dieser Tage

Ludger Osterkamp

Gütersloh. Vor 75 Jahren, Ostersonntag, 2. April 1945, endete der Krieg in Gütersloh. Die Chronik der Ereignisse.

Mitte März: Gütersloh stellt einen "Volkssturm" von 250 Mann auf. Fast alle Männer von 16 bis 60 Jahren werden erfasst und vereidigt. Sie erhalten vier Panzerfäuste und ein paar Jagdgewehre. Mehr gibt es nicht.

Mitte März: Der Volkssturm und die Soldaten der Nachrichtenkaserne an der Verler Straße bauen an Ausfallstraßen Panzersperren auf. Sie sind kümmerlich. Oberst Richard Kröhl, Kommandeur des 6. Luftnachrichtenregiments, wird zum Kampfkommandanten ernannt.

März: Die ungefähren Truppenstärken im Kreis Wiedenbrück sehen so aus: Auf deutscher Seite 2.500 Soldaten und 1.000 halbmilitärisch Ausgebildete; auf der amerikanischen 30.000 Soldaten in zwei Panzerdivisionen, 50.000 in vier Infanterie-Divisionen und 10.000 in Korpstruppen.

29. März, Gründonnerstag: Kröhl ordnet bei einer Lagebesprechung im Rathaus an, dass Gütersloh militärisch zu verteidigen sei. Der Protest von Bürgermeister Josef Bauer bleibt ohne Wirkung. Bauer hatte auf die offene Lage der Stadt hingewiesen, auf die mangelhafte Versorgung des Volkssturms und dessen völkerrechtswidrige Bewaffnung mit Jagdgewehren.

29. März: Bauer ruft noch am selben Tag alle Frauen und Kinder auf, die Innenstadt zu verlassen und in den ländlichen Nachbargemeinden ein Notquartier zu beziehen.

30. März, Karfreitag: Die Bevölkerung befolgt die Warnung und zieht in Scharen aus der Stadt.

30. März: Die US-Luftwaffe wirft Bomben über Gütersloh ab. Ziele sind Bahn, Flugplatz und Rückzugsstraßen der Wehrmacht. Tiefflieger beschießen einen Personenzug mit Flüchtlingen aus dem Ruhrgebiet. Es gibt keine Gegenwehr. 40 Tote.

30. März: Erneute Lagebesprechung im Rathaus. Kröhl befiehlt, zwei Verteidigungsringe zu ziehen, einen inneren, einen äußeren. Der innere verläuft vom Bahnhof entlang Strenger-, Schul-, Hohenzollern-, Münster- und Dalkestraße zurück zum Bahndamm und Bahnhof; dieser Ring sei "bis zum Äußersten zu halten".

1. April, Ostersamstag: Fabrikant Alfred Bartels, Bataillonskommandeur des Volkssturms Gütersloh-Ost, schreibt in einem Brief an Oberst Kröhl, dass er keine Volkssturmmänner auftreiben könne, da sie alle die Stadt verlassen hätten.

1. April, vormittags: Die ersten amerikanischen Panzer rollen ein. Auf der Neuenkirchener Straße in Höhe des Adolf-Hitler-Stadions (heute Heidewald) werden sie beschossen, ohne Schaden zu erleiden. Sie ballern wie wild zurück und kehren danach um.

1. April, abends: Die US-Artillerie bezieht im Halbkreis Varensell-Neuenkirchen-Rheda Stellung. Einer ihrer Lkw verfährt sich. Die Besatzung, zwei schwarze Soldaten, werden an der Ecke Strenger- / Eickhoffstraße aufgegriffen und gefangen genommen.

2. April, Ostersonntag, morgens: Kröhl berichtet Bürgermeister Bauer, er ziehe mit seinen Truppen ab; er befolge damit eine Anordnung des Generalmajors aus Bielefeld; nun sei es allein am Volkssturm, die Stadt zu verteidigen.

2. April, mittags: Deutsche Panzerspähwagen stoßen auf der Wiedenbrücker Straße vor; die US-Armee nimmt sie unter Beschuss, zwei deutsche Soldaten sterben.

2. April, nachmittags: Die deutschen Soldaten sammeln sich an der Mittelschule in der Hohenzollernstraße (heute VHS) und ziehen sich auf eilig requirierten Fahrrädern Richtung Brockhagen zurück.

2. April, nachmittags: Mit dem Rückzug der Wehrmacht löst sich auch der Volkssturm auf. Bürgermeister Bauer hat sein Ziel erreicht: Er kann die Stadt kampflos übergeben.

2. April, 17 Uhr: Pastor Paul Gronemeyer stellt sich als Parlamentär zur Verfügung. Er steigt aufs Rad und fährt den Amerikanern mit einer weißen Fahne entgegen. Bedingungslose Kapitulation. Gütersloh ist damit vor weiteren Zerstörungen gerettet.

2. April, abends: 15 Panzerspähwagen der 9. US-Armee rollen auf den Rathausplatz vor. Der Führer der Kolonne fragt Bauer, ob noch Truppen in der Stadt sind und wo Krankenhäuser und Lazarett liegen. Er verlangt, eine Waffensammelstelle einzurichten, wo die Bevölkerung alle Waffen abzugeben habe. Um 22 Uhr befiehlt er, das Rathaus zu räumen.

Der Krieg ist aus.

Die Folgetage

3. April, Ostermontag: Die US-Armee verhängt ein Ausgehverbot für alle Bürger von 18 bis 6 Uhr; es wird für mehrere Wochen gelten.

4. bis 7. April: Die Amerikaner richten sich ein. Sie lassen die Kriegsgefangenen frei. Es kommt zu Plünderungen; bei Schusswechseln am Stadtrand sterben Menschen.

7. April: General Keating, Kommandeur der 102. US-Infanterie-Division, beordert eine Kompanie amerikanischer Soldaten nach Gütersloh. Bis zum Abend bekommt sie die Lage unter Kontrolle.

7. April: Auf dem Gelände der Firma Ruhenstroth (Wirus) richtet die Militärregierung ein Lager für 6.000 ehemalige Kriegsgefangene, überwiegend Russen, ein. Diese waren zuvor an manchen Tagen mit Musik und roter Fahne durch die Stadt marschiert.

7. April: Leiter der Militärregierung wird Major Olsen; er nimmt seinen Sitz in der Villa von Heinrich Miele in der Lindenstraße 7.

15. April: Die 9. US-Armee verlegt ihr Hauptquartier nach Gütersloh in die Luftwaffennachrichtenkaserne an der Verler Straße. Um von dort schnell an die Front im Osten zu kommen, legen die Amerikaner beim Bauern Westerfelhaus (neben heute Bertelsmann) einen Flugplatz für kleine Flugzeuge an. Das Material besorgen sie sich, indem sie den Bahnhof zerbomben.

17. April: Olsen eröffnet Bauer, dass laut Anweisung von General Eisenhower kein Bürgermeister im Amt bleiben darf, der der NSDAP angehört hat. Er dankt Bauer für die loyale Zusammenarbeit und sagt ihm, dass er sein Amt uneigennützig zum Wohle der Stadt ausgeführt habe. Zum Nachfolger bestimmt er Paul Thöne, Leiter der Import- / Export-Abteilung bei Miele.

20. April bis 27. Juni: Die US-Luftwaffe stationiert ihre 370th Fighter Group auf dem Flugplatz an der Marienfelder Straße.

Juni: Mehrere tausend russische Kriegsgefangene verlassen Gütersloh; sie schmücken ihre Sonderzüge mit Birkengrün und roten Fahnen.

Ende Juni: Die Briten lösen die Amerikaner als Besatzungsmacht ab.

Bildunterschrift: Zerbombte Häuser in der Feldstraße, v. l.: Nr. 1, Nr. 3 Fabrikant Rudolf Niemöller, Nr. 5 Schuhmachermeister Karl Ohm, Nr. 7 Walther Legel, Verein Creditreform, in der Mitte: Turm des Ev. Stift. Gymnasiums. Insgesamt waren 2.700 Gebäude beschädigt worden, 40 Prozent der Wohnungen waren unbrauchbar.

Bildunterschrift: Pastor Paul Gronemeyer trug die weiße Fahne.

Bildunterschrift: Bürgermeister Josef Bauer drängte auf kampflose Übergabe.

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Neue Westfälische - Gütersloher Zeitung, 10.04.2020:

Gütersloh: Die Stunde Null fiel auf Ostern

Gütersloh. Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Gütersloh. Die Stadt lag in Schutt und Asche, die Bevölkerung war zermürbt und verängstigt. Eine Chronik dieser Tage.

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Am 2. April 1945 fuhr Pastor Paul Gronemeyer nach Wehrmacht-Abzug sowie "Volkssturm"-Auflösung, mit einem Fahrrad sowie einer weißen Fahne aus Gütersloh Richtung Neuenkirchen den Amerikaner entgegen.

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www.guetersloh.de/de/rathaus/fachbereiche-und-einrichtungen/stadtarchiv.php

www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/input_felder/langDatensatz_ebene4.php?urlID=189&url_tabelle=tab_websegmente

www.guetersloh.de/de/leben-in-guetersloh/stadtportrait/stadtgeschichte/kriegsende-in-guetersloh.php#anchor_5b799ada_Accordion-Kampflose-Uebergabe

www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/e-g/803-guetersloh-nordrhein-westfalen

10.-13.04.2020

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