Westfalen-Blatt ,
11.02.2020 :
"Wir verstecken die Schande nicht"
St. Marien in Lemgo ist eine von 22 deutschen Kirchen mit einer "Judensau"
Von Christian Althoff
Lemgo (WB). In der vergangenen Woche hat das Oberlandesgericht Naumburg entschieden, dass das im 13. Jahrhundert entstandene "Judensau"-Relief an der Stadtkirche von Wittenberg nicht entfernt werden muss - weil es heute mit einer Erklärtafel ein Mahnmal sei und keinen beleidigenden Charakter mehr habe.
"Dieses Urteil hat uns wieder daran erinnert, dass wir eine der wenigen Kirchen in Deutschland sind, die ebenfalls ein solches antisemitisches Relief haben", sagt Matthias Altevogt, Pfarrer der Evangelisch-lutherischen St.-Marien-Kirche in Lemgo. Bundesweit sind 22 "Judensau"-Darstellungen an oder in Kirchen bekannt, außerdem vier an Profanbauten. St. Marien (1320 geweiht) und der Kölner Dom sind die einzigen Kirchen in Nordrhein-Westfalen, bei denen die Existenz solcher Darstellungen bekannt ist.
Mittelalterliche "Judensau"-Bilder, -Reliefs und -Skulpturen stellen einen Menschen im intimen Kontakt mit einem Schwein dar - mit einem Tier, das nach den jüdischen Speisegesetzen als nicht koscher gilt. Prof. Dr. Hans-Walter Stork, Mittelalter-Kunsthistoriker, Theologe und Direktor der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek in Paderborn: "Wir finden diese Reliefs in mehreren europäischen Ländern. Die dargestellten Menschen sind klar als Juden zu erkennen: Entweder durch den konisch zulaufenden Hut, der der damaligen jüdischen Tracht entsprach, oder durch einen gelben Flecken auf der Brust." Juden hätten seit dem 13. Jahrhundert in mehreren Ländern Europas eine gelbe Markierung tragen müssen. "Das haben sich nicht erst die Nazis ausgedacht", sagt der Kunsthistoriker. Dass sich heute "Judensau"-Darstellungen fast nur noch in Kirchen fänden, liege daran, dass Kirchen sehr auf das Bewahren ausgerichtet seien.
Die Ausgrenzung und Verächtlichmachung der Juden, auch durch die "Judensau"-Darstellungen, habe ihren Ursprung in der Vorstellung, Juden hätten den Messias, der einer von ihnen gewesen sei, nicht als solchen erkannt und ihn ans Kreuz geschlagen, sagt der Kunsthistoriker und Theologe. So findet sich in der Lemgoer Kirche St. Marien, die um 1526 lutherisch wurde, nicht nur ein "Judensau"-Relief, sondern an der Säule, die die Kanzel trägt, eine weitere antisemitische Darstellung. Pfarrer Matthias Altevogt: "Sie zeigt Jesus vor der Kreuzigung. Er ist an Händen und Füßen gefesselt und wird von zwei Juden ausgepeitscht. Dabei lag zu Lebzeiten Jesu die Gerichtsbarkeit alleine bei der römischen Besatzungsmacht. Juden waren für Bestrafungen überhaupt nicht zuständig."
Doch dieses Juden-Bild habe sich bis ins 20. Jahrhundert gehalten. "Noch bis 1950 wurde die so genannte Enterbungstheorie vertreten", sagt der Pfarrer von St. Marien. "Sie besagte, dass Gott die Juden als auserwähltes Volk für immer verworfen habe, weil sie Jesus getötet hätten, und die Kirche Christi damals an ihre Stelle getreten sei." Auch solche Vorstellungen hätten den Holocaust mit möglich gemacht.
Das Lemgoer "Judensau"-Relief befindet sich im Eingangsbereich der Kirche vor einer Halbsäule in etwa 1,90 Meter Höhe und ist damit deutlich sichtbarer als Darstellungen in manchen anderen Kirchen. Der 1977 gestorbene israelische Historiker Isaiah Shachar schreibt in seinem 1974 erschienenen Werk "The Judensau", das Lemgoer Relief gehöre zu den sechs ältesten noch vorhandenen. Es sei in seiner Darstellung einzigartig, denn bei den meisten Darstellungen würden Juden von einer Sau gesäugt. Die 93 Zentimeter hohe Sandsteinfigur in Lemgo zeige dagegen einen hockenden Juden, der ein Schwein umarme. Shachar bezeichnet die Darstellung als obszön. Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn, die seit Jahrzehnten Stadtführungen zum Thema "Jüdisches Leben" in Lemgo anbietet, wird deutlicher: "Die Skulptur zeigt Sodomie." Lange sei die "Judensau"-Darstellung in St. Marien kein Thema in Lemgo gewesen, aber in ihren Stadtführungen sei sie immer vorgekommen. "1995 hat sich die Kirche dann entschlossen, Erklärtafeln anzubringen."
Zur Diskussion in Wittenberg um eine Entfernung des Reliefs sagt Pfarrer Altevogt, in Bezug auf St. Marien halte er ein Entfernen für falsch. "Wir wollen die Schande nicht verstecken." Im Gegenteil: Er wolle mit dem Gemeindevorstand besprechen, ob man die beiden Reliefs und ihre Geschichte nicht noch deutlicher herausstelle.
Von den ehemals etwa 100 Lemgoer Juden haben drei den Holocaust überlebt.
Bildunterschrift: In St. Marien in Lemgo zeigt das "Judensau"-Relief einen Juden in enger Umarmung mit einem Schwein. Stadtführerin Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn, die Führungen zum Thema "Jüdisches Leben in Lemgo" anbietet, spricht von einer Sodomie-Darstellung. Ihre nächste Führung findet am 15. Februar um 14 Uhr statt, Treffpunkt ist am Turm von St. Marien.
Bildunterschrift: Der Lemgoer Pfarrer Matthias Altevogt mit dem 700 Jahre alten Relief, das die Auspeitschung Jesu durch zwei Juden zeigt.
_______________________________________________
- Samstag, 15. Februar 2020 um 14.00 Uhr -
Stadtführung mit Liesel Kochsiek-Jakobfeuerborn: Spuren jüdischen Lebens in St. Marien und der Neustadt
Treffpunkt:
Kirche St. Marien Lemgo
Stiftstraße 7
32657 Lemgo
www.marien-lemgo.de
In einer Akte aus dem Jahre 1351 wird zum ersten Mal über jüdische Menschen in Lemgo berichtet. Gab es Konflikte? Gab es Freundschaften?
Eine Führung im Rahmen der Veranstaltungsreihe "700 Jahre St. Marien".
_______________________________________________
Jüdische Allgemeine Online, 04.02.2020:
"Judensau" / Schmähplastik kann weiter an Stadtkirche bleiben
04.02.2020 - 15.15 Uhr
Das Oberlandesgericht in Naumburg hat die Berufungsklage gegen das Relief in Wittenberg abgewiesen
Die als Wittenberger "Judensau" bekannte Schmähplastik darf vorerst weiter an der Stadtkirche der Lutherstadt bleiben. Das Oberlandesgericht in Naumburg wies am Dienstag die Berufungsklage gegen ein Urteil des Landgerichtes Dessau-Roßlau ab.
Revision
Der Kläger, Mitglied einer jüdischen Gemeinde, hatte die Abnahme der Plastik aus dem 13. Jahrhundert verlangt, weil er sich durch diese als "Saujude" und das "ganze Judentum" diffamiert sieht. Eine Revision ließ das Oberlandesgericht Naumburg jedoch zu. (AZ: OLG Naumburg 9 U 54/19).
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sagte zu dem Urteil: "Das Oberlandesgericht Naumburg hat entschieden, dass das "Judensau"-Relief an der Stadtkirche in Wittenberg hängen bleiben darf. Umso mehr bedarf es der Anbringung einer Tafel, die das Schmährelief eindeutig erläutert und in den historischen Kontext einordnet. Dies gilt in gleicher Form für "Judensau"-Reliefs an anderen Kirchen."
Zur Urteilsbegründung führte der Vorsitzende Richter Volker Buchloh aus, dem Kläger stehe ein Beseitigungsanspruch nicht zu, weil das Relief aktuell weder beleidigenden Charakter habe noch das Persönlichkeitsrecht des Klägers verletze.
Gedenkensemble
Unstreitig sei aber, dass das Relief zur Zeit seiner Entstehung Juden verächtlich machen sollte. Das Relief sei aber durch die beklagte Stadtkirchengemeinde heute in ein Gedenkensemble eingebunden. Eine Info-Tafel zeige, dass sich die Stadtkirchengemeinde unmissverständlich von den Juden-Verfolgungen und den antijudaistischen Schriften Martin Luthers (1483 - 1546) distanziere. Seit 1988 gibt es auch ein Mahnmal an der Stadtkirche.
Der Kläger hatte argumentiert, dass eine Beleidigung eine Beleidigung bleibe, auch wenn sie kommentiert werde. Aus Sicht des Gerichtes widerspricht dieses Argument der vom Kläger geforderten Unterbringung der "Judensau" im Museum. Die Gefahr, dass die Plastik als Teil der religiösen Verkündung wahrgenommen werde, besteht nach Einschätzung des Gerichts eben durch das Gedenkensemble nicht mehr.
In dem Zusammenhang verwies der Vorsitzende Richter auch darauf, dass Sprüche an KZ-Gedenkstätten wie "Arbeit macht frei" ebenfalls heute nicht mehr als Beleidigung zu sehen seien, weil sie umgestaltet Teil eines Gedenkomplexes seien. Hier seien durchaus Parallelen zu sehen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils kann noch Revision beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe eingelegt werden. Das Oberlandesgericht in Naumburg ließ die Revision zu, wegen der grundsätzlichen Bedeutung und der Frage, wie mit der Herabwürdigung von Personengruppen in solchen zivilrechtlichen Fragen zu verfahren sei.
Der Vorsitzende Richter wies darauf hin, dass es neben dem Relief in Wittenberg auch an zahlreichen anderen Kirchen in Deutschland solche Schmähplastiken gebe.
UNESCO-Welterbe
Die beklagte Kirchengemeinde ist Eigentümerin der unter Denkmalschutz stehenden und zum UNESCO-Welterbe gehörenden Stadtkirche in Wittenberg. In der Vorinstanz hatte das Landgericht Dessau-Roßlau am 24. Mai 2019 die Klage abgewiesen, weil es den Tatbestand der Beleidigung nicht als erfüllt ansah.
Das Relief sei Bestandteil eines historischen Gebäudes und befinde sich nicht unkommentiert an der Mauer der Stadtkirche. Über das Mahnmal am Fuße der Kirche sei das Relief in eine Gedenkkultur eingebettet. Die Plastik zeigt eine Sau, an deren Zitzen sich Menschen laben, die Juden darstellen sollen. Ein Rabbiner blickt dem Tier unter den Schwanz und in den After. (epd/ja)
Bildunterschrift: Die als "Judensau" bekannte Schmäh-Skulptur an der Stadtkirche Wittenberg.
_______________________________________________
Am 11. Februar 2020 berichtete Christian Althoff ("Westfalen-Blatt") über das "Judensau"-Relief - eine 93 Zentimeter hohe Sandsteinfigur im Eingangsbereich der Evangelisch-lutherische St.-Marien-Kirche, Lemgo.
_______________________________________________
www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/k-l/1181-lemgo-nordrhein-westfalen
www.gcjz-hm.de
|