Mindener Tageblatt ,
26.03.2018 :
Wo der Wille gebrochen wurde
Ein Ort des Grauens zur NS-Zeit: Kulturgemeinschaft Lahde erinnert an das Schicksal der Insassen im Arbeitserziehungslager / Schüler lassen Luftballons steigen
Von Ulrich Westermann
Petershagen-Lahde (Wes). Mit einer Gedenkveranstaltung erinnerte die Kulturgemeinschaft Lahde an das menschenunwürdige Leben und an das Sterben im früheren Arbeitserziehungslager. Die Feierstunde am Gedenkstein an der Dingbreite wurde von Jungen und Mädchen der Städtischen Sekundarschule Petershagen gestaltet. Beteiligt waren die Angehörigen der Klasse 9.4 mit ihrem Religionslehrer Alexander Hildebrandt. Mit dem Arbeitserziehungslager in Lahde hatten die nationalsozialistischen Machthaber eine Einrichtung des Grauens geschaffen.
Die Inschrift über dem Eingangstor hieß "Hier wird jeder Wille gebrochen". Zwischen Stacheldrahtzäunen und Mauern kamen von Mai 1943 bis April 1945 über 700 Insassen zu Tode. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Die Gefangenen verhungerten, wurden erschossen oder starben an Erschöpfung. Den Hauptanteil stellten Russen und Polen, gefolgt von Niederländern, Franzosen und Ukrainern. Das Lager zwischen der heutigen Dingbreite und der Bundesstraße 482 ist 1945 von den Nationalsozialisten vor dem Heranrücken der alliierten Truppen aufgelöst worden. Die Wachen trieben die Häftlinge in Richtung Hannover. Dieser "Todesmarsch" forderte weitere Opfer.
Im Jahr 1995 hat die Stadt Petershagen nur wenige Meter vom früheren Arbeitserziehungslager entfernt eine Gedenkstätte mit einem Findling angelegt. Dort fand die Feierstunde der Kulturgemeinschaft und der Sekundarschule statt. Die Schüler legten einen Kranz nieder und ließen weiße Luftballons aufsteigen. Petershagens stellvertretende Bürgermeisterin Helga Berg ging auf die traurige Geschichte der Lagereinrichtung mit den zahlreichen Todesopfern ein und wies darauf hin, dass das bloße Auge auf dem zweieinhalb Hektar großen Areal nichts mehr erkennen könne. Am 11. März 2003 habe die Stadt Petershagen diese Fläche in die Bodendenkmalliste eingetragen, weil Spuren der Unmenschlichkeit und Terrorherrschaft noch unter der Erde vorhanden seien.
"Spuren des Terrors sind unter der Erde noch vorhanden"
Dank richtete Helga Berg an die Jungen und Mädchen der Sekundarschulklasse 9.4: "Es ist schön, dass ihr nach dem Auslaufen der Real- und Hauptschule die Gestaltung der Feierstunde fortsetzt". Buchautor Hermann Kleinebenne (Petershagen) wies darauf hin, dass die Verantwortlichen im Arbeitserziehungslager in vielen Fällen schwere und schwerste Schuld auf sich geladen hätten. Die Ereignisse in dieser Einrichtung würden bis heute diskutiert. "Der Besuch des NRW-Landtagspräsidenten in der Sekundarschule in Lahde vor einem Monat war verbunden mit dem Aufruf zum weiteren verstärkten Einsatz der Schüler für die Demokratie in unserer Gesellschaft. Dieser Aufruf, der wohl mehr als zuvor Beharrlichkeit und Geduld erfordert, gilt uns allen", sagte Kleinebenne.
Zu den wenigen Zeitzeugen, die über das Lager berichten können, gehört der inzwischen 95-jährige Maarten Zevenbergen aus Poortugaal in der Nähe von Rotterdam. Der Niederländer hat im Zweiten Weltkrieg in Deutschland Schreckliches erlebt. Die Nationalsozialisten haben ihn 1943 aus seinem Heimatland verschleppt und als Zwangsarbeiter eingesetzt. Nach einem Bombenangriff gelang ihm die Flucht aus Kassel. Eine Bauernfamilie versteckte ihn auf ihrem Hof in Roßdorf bei Darmstadt. Dort wurde er von der Gestapo aufgespürt und wieder zurück nach Kassel gebracht. Auch ein zweiter Fluchtversuch scheiterte.
Schließlich durchlief der damals 21-Jährige verschiedene Stationen, bevor er 1944 in das Arbeitserziehungslager Lahde eingeliefert wurde. Dort war er unter grausamen Bedingungen 56 Tage lang inhaftiert. Der weitere Weg führte ihn wieder nach Kassel. Seine Leidenszeit ging am 2. April 1945 zu Ende. Im Jahr 2008 war Maarten Zevenbergen mit seiner Ehefrau Jannie zum ersten Mal in der Stadt Petershagen, um zum früheren Lagergelände an der Dingbreite in Lahde zu fahren. Weitere Besuche folgten. Begleitet wurde das Ehepaar jedes Mal von Helmut Klaas, der als Geschäftsführer der ehemaligen Petershagen Marketing GmbH die Kontakte geknüpft hatte. Inzwischen ist eine feste Freundschaft entstanden.
Im Laufe seiner Besuche legte das Ehepaar jedes Mal Blumengebinde auf den vier Gedenkstätten an der Dingbreite, auf dem jüdischen Friedhof in Petershagen, am Mahnmal in Bierde und auf dem Friedhof in Lahde nieder. Da Maarten Zevenbergen in seinem hohen Alter keine längere Fahrt mehr durchführen kann, übernahm Helmut Klaas die Aufgabe, im Verlauf der Feierstunde ein Grußwort von ihm zu verlesen: "Mein Respekt gilt allen Personen und vor allem den Schülern, die sich jedes Jahr an dieser Gedenkstätte einfinden und damit ein Zeichen gegen das Vergessen setzen." Das Lied "Zwei Jahre des Grauens" trugen Selly Quiring (Kl. 8.5 / Gesang) und Thomas Wall (Kl. 9.4 / Gitarre) vor. Neben Wall war Kevin Quiring (Kl. 9.4) an der Textgestaltung beteiligt: "Aus allen Nationen kamen sie her, ihr Weg hierhin war holprig und schwer. Das Gebäude kam in Sicht, doch Hoffnung gab es nicht."
In ihrer Rede wiesen Felix Fechner und Joeline Dex auf die unmenschlichen Bedingungen im Arbeitserziehungslager hin: Schläge, Misshandlungen, Nahrungsentzug. "Für 200 Personen in einer Baracke gab es nur zehn Wasserhähne. Handtücher, Zahnbürsten und Toilettenpapier gab es nicht. Wir können das Geschehene nicht rückgängig machen. Wie können es aber in Erinnerung halten, in der Hoffnung, so etwas nie wieder geschehen zu lassen", betonten Felix und Joeline. Ein Gedicht zum Gedenken an die Opfer des Arbeitserziehungslagers trugen Christina Friesen und Joline Becker vor. Einen Kranz legten Nelio Schargott, Svenja Gowling, Melina Wegner und Niklas Helming nieder. Die Koordination der Feierstunde hatten Anna-Lena Oppacher und Fabienne Lübkemann übernommen. Mit einer Andacht beendete der Lahder Gemeindepfarrer Hans-Hermann Hölscher die Feierstunde.
Bildunterschrift: Schüler der Städtischen Sekundarschule Lahde trugen Texte vor, ließen weiße Luftballons aufsteigen und legten einen Kranz am Gedenkstein nieder.
Bildunterschrift: Helmut Klaas (Petershagen) verlas ein Grußwort von Maarten Zevenbergen. Der heute 95-jährige Niederländer war 56 Tage im Arbeitserziehungslager in Lahde inhaftiert.
Bildunterschrift: Die Erinnerung wach halten: Auch mit Gesang und Gitarrenbegleitung gedachten die Schüler der Insassen des Arbeitslagers.
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Mindener Tageblatt, 08.08.2008:
Rückkehr nach Lahde ohne Hass
Maarten Zevenbergen überlebte im Arbeitserziehungslager / Botschaft an die Jugend
Petershagen (Wes). Vor 64 Jahren wurde Maarten Zevenbergen aus dem Arbeitserziehungslager in Lahde entlassen. Der holländische Zwangsarbeiter war dort 56 Tage inhaftiert. Nun war er wieder in Lahde.
Von Ulrich Westermann
Damit ging für ihn ein Wunsch in Erfüllung. Zum ersten Mal seit seiner Entlassung war er wieder in Lahde, um das ehemalige Lagergelände an der Dingbreite aufzusuchen, sich zu erinnern und Blumengebinde zu Ehren der ermordeten Menschen vieler Nationalitäten niederzulegen.
In den 22 Monaten, in denen die Schreckenseinrichtung existierte, kamen 723 Insassen ums Leben. Sie wurden hingerichtet, verhungerten oder starben an Erschöpfung.
Der 85-Jährige aus Poortugaal westlich von Rotterdam hatte im Jahr 2005 den ersten Kontakt zur Stadt Petershagen aufgenommen. Ansprechperson für ihn war der Geschäftsführer der damaligen Petershagen Marketing GmbH, Karl-Helmut Klaas.
Durch Zufall machte der Niederländer vor vier Jahren eine für ihn unglaubliche Entdeckung. Er stellte fest, dass der Onkel seiner Frau, Roelof Rasser, ebenfalls in Lahde inhaftiert war, dort 1945 im Alter von 42 Jahren erschossen wurde und in einem Massengrab in Bierde seine letzte Ruhe fand.
Bei der Reise in die Vergangenheit wurde Maarten Zevenbergen von seiner 79-jährigen Ehefrau Jannie begleitet. Mit Karl-Helmut Klaas besuchten beide den Gedenkstein der Stadt Petershagen an der Dingbreite, das Mahnmal auf dem Lahder Friedhof, die Ehrenstätte in Bierde und den jüdischen Friedhof in Petershagen. An jeder Gedenkstätte wurden Blumengestecke abgelegt.
Minutenlang blickte Zevenbergen auf das frühere Lahder Lagergelände. "In diesem Augenblick hatte ich die Baracken mit dem schrecklichen Hinweis `Hier wird jeder Wille gebrochen` wieder vor Augen. Ich habe keinen persönlichen Hass. Mein Botschaft an die jüngere Generation ist, dass es zum Frieden keine Alternative gibt", so der 85-Jährige.
Wegen eines Missverständnisses habe er erst jetzt den Weg nach Lahde gefunden. "Bei der Suche nach dem Lagerstandort hatte ich mich versehentlich mit dem Bürgermeister in Lähden bei Meppen in Verbindung gesetzt. Im Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager erhielt ich den Hinweis, dass es sich um Lahde in der Stadt Petershagen handeln könnte", berichtete Zevenbergen.
Dank richtete er an Karl-Helmut Klaas, mit dem er seit Ende 2005 in Verbindung stehe und der ihm viele Informationen zugesandt habe. Lob galt der Stadt Petershagen, der Kulturgemeinschaft Lahde sowie den Haupt- und Realschülern aus Lahde für die Anlage an der Dingbreite.
Zwangsarbeit und Lagerleben
Der Holländer Maarten Zevenbergen war 1945 einige Wochen im Arbeitserziehungslager in Lahde inhaftiert. Bei einem Besuch schilderte er sein Leben als Zwangsarbeiter und Häftling.
Maarten Zevenbergen wurde 1943 von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Er war in Kassel in einem Betrieb für Viskoseproduktion eingesetzt.
Nach einem Bombenangriff gelang ihm die Flucht. In Roßdorf bei Darmstadt wurde er von einer Bauernfamilie versteckt, dann aber von der Gestapo aufgespürt und wieder nach Kassel gebracht.
Sein zweiter Fluchtversuch endete in Goslar im Harz. Der damals 21-Jährige kam zehn Tage in ein Polizeigefängnis, dann in das Konzentrationslager Bergen-Belsen und schließlich nach Lahde.
"Wir wurden als Verbrecher bezeichnet und mit Gummischläuchen und Stöcken geschlagen. Mit 45 Personen waren wir in einem unbeheizten Barackenraum untergebracht. Um 5 Uhr in der Frühe mussten wir zum Appell antreten. Morgens gab es eine dünne Kohl- oder Rübensuppe und eine Scheibe trockenes Brot", blickte der ehemalige Häftling zurück.
"Wir hatten so einen Hunger. Das war furchtbar. Unsere Jacken und Hosen waren zerrissen und zerlumpt. Ich hatte die Nummer 4143. Im Regen haben wir uns mit Zementsäcken geschützt", sagte Zevenbergen. Er war vom frühen Morgen bis zum späten Abend beim Eisenbahnbau eingesetzt.
Ein Gefangener sei beim Fluchtversuch erschossen worden. Den Toten habe man zum Appell im Lager mitnehmen müssen und dann später auf einen Karren gelegt.
Am Entlassungstag im Oktober 1944 sei er mit seinem holländischen Freund Peter in einen beheizten Raum gebracht worden. "Bei der Einlieferung in Lahde wog ich 65 Kilogramm, bei der Entlassung noch 48. Wir haben unsere Kleidung erhalten und mussten sogar noch Kostgeld bezahlen. Dann ging es in Begleitung der Polizei wieder nach Kassel. Dort wurden wir am 2. April 1945 befreit", war von Maarten Zevenbergen zu erfahren.
Bildunterschrift: Der ehemalige Zwangsarbeiter Maarten Zevenbergen und seine Ehefrau Jannie legten an der Gedenkstätte an der Dingbreite in Lahde ein Blumengesteck nieder.
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