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4 Artikel , 25.07.2021 :

Pressespiegel überregional

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Übersicht:


Berliner Zeitung Online, 25.07.2021:
Rechter Terror / Ende der Legende vom Einzeltäter

Der Tagesspiegel Online, 25.07.2021:
"Jüdisches Leben ist keine Provokation" / 300 Menschen demonstrieren in Neukölln gegen Antisemitismus

Der Tagesspiegel Online, 25.07.2021:
Protest am Sonntagnachmittag / Bündnis demonstriert gegen antisemitische Gewalt

Westdeutscher Rundfunk Köln, 25.07.2021:
Nazi-Affäre der AfD: NRW-Landesvize zitierte "Führer" und prahlte mit Kontakten in Dortmunder Neonazi-Szene

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Berliner Zeitung Online, 25.07.2021:

Rechter Terror / Ende der Legende vom Einzeltäter

25.07.2021 - 10.42 Uhr

An Heiligabend 1980 erschoss der Neonazi Frank Schubert zwei Schweizer Grenzpolizisten. Aktenfunde belegen, dass der Mörder einer rechten Terror-Zelle angehörte.

Andreas Förster

Das Jahr 1980 ist als "braunes Terror-Jahr" in die Geschichte der Bundesrepublik eingegangen: Von Januar bis Mitte Dezember starben bei rechtsterroristischen Anschlägen - darunter dem Oktoberfest-Attentat von München - 18 Menschen, Hunderte wurden zum Teil schwer verletzt. Für die Todesopfer 19 und 20 jenes Terror-Jahres sorgte am Heiligabend 1980 der deutsche Neonazi Frank Schubert aus Frankfurt am Main. Bei einem missglückten Waffenschmuggel erschoss er an der Grenze zu Deutschland die Schweizer Polizeibeamten Josef Arnold und Walter Wehrli, bevor er sich nach einem Feuergefecht mit der Polizei selbst richtete.

Der Fall Schubert ist bis heute eines der rätselhaftesten Verbrechen deutscher Neonazis. So sieht es auch die Historikerin Barbara Manthe von der Uni Bielefeld, die ein Forschungsprojekt zur Geschichte des bundesdeutschen Rechtsterrorismus führt. Aus ihrer Sicht gibt es in diesem Fall noch viele ungeklärte Fragen, auch sei die Einzeltäter-These fraglich. Tatsächlich legten die Ermittler damals keinen großen Elan in die Aufklärung der Tathintergründe, weil der Täter sich erschossen hatte. Schubert wurde als fanatischer Einzeltäter abgetan, die Akte schon bald geschlossen.

Die Terror-Gruppe wurde nie zur Verantwortung gezogen

Aus bislang unbekannten Schweizer Ermittlungsakten und Informationen des Verfassungsschutzes, die hier erstmals ausgewertet werden, ergibt sich jedoch ein neues Bild der Vorgänge. Demnach gehörte Schubert im Jahre 1980 einer rechten Terror-Zelle in Frankfurt am Main an, die Attentate auf hochrangige Politiker und Strafverfolger plante. Auf seiner Reise in die Schweiz kurz vor Weihnachten wollte er Waffen nach Deutschland holen, mit denen ein Anschlag auf einen hessischen Spitzenpolitiker durchgeführt werden sollte. Auffällig ist im Rückblick, dass die Mitglieder der Terror-Gruppe wegen ihrer Anschlagsplanung nie zur Verantwortung gezogen wurden. Was möglicherweise daran gelegen haben könnte, dass der Verfassungsschutz einen Informanten in diese Terror-Zelle eingeschleust hatte - wären dessen Informationen in Polizei- und Gerichtsakten aufgetaucht, hätte man ein Auffliegen der hochrangigen Quelle riskiert.

Indizien dafür finden sich in einer Ermittlungsakte der Schweizerischen Bundesanwaltschaft, die im Berner Bundesarchiv aufbewahrt wird. Nach dem Polizisten-Mord am Heiligabend 1980 hatten Strafverfolger und Geheimdienste aus Deutschland und der Schweiz über Jahre hinweg ihre Erkenntnisse über Schubert und dessen Komplizen in der rechtsterroristischen Szene von Deutschland, Frankreich und der Schweiz ausgetauscht.

Frank Schubert, 1957 in Ost-Berlin als Kind eines Lehrer-Ehepaares geboren, war 1977 aus der DDR in den Westen geflüchtet. Im Westen kam der 20-Jährige zunächst bei Verwandten in Berlin-Spandau unter. Doch die rechte Szene in der Frontstadt war dem Karate-Kämpfer mit Schnauzbart und streng gescheiteltem Haar nicht radikal genug. So ging er nach Frankfurt am Main, jobbte als Kellner und Gärtnergehilfe, bezog eine Wohnung in der Hanauer Landstraße 497. Im Nazi-Buchladen vom Verlag Volk und Kosmos GmbH im Stadtteil Bornheim, der damals das Zentrum der braunen Frankfurter Szene war, geriet er mit radikalen Gesinnungsgenossen in Kontakt. Einer von ihnen war der damals erst 16-jährige Elektro-Lehrling Walther Kexel.

Kexel war zu dieser Zeit bereits ein führender Funktionär in der von Friedhelm Busse gegründeten Volkssozialistischen Bewegung Deutschlands - Partei der Arbeit (VSBD/PdA). Bei der VSBD handelte es sich um eine unter dem Deckmantel einer Partei agierende terroristische Organisation, in der sich vor allem versprengte Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann und Aktivisten der zu diesem Zeitpunkt bereits verbotenen Nationalsozialistischen Kampfgruppe Großdeutschland gesammelt hatten.

Ein junger Mann aus dem Osten, der vom "Vierten Reich" träumte

Über seinen Freund Kexel fand Schubert den Weg zur Busse-Partei. Der junge Mann aus dem Osten wurde bald zum Vertrauten von Parteichef Busse, der nach eigenen Worten "an die Zukunft dieses sympathischen Jungen geglaubt" hatte. Die Zukunft, wie sie sich Busse und Schubert ausmalten, war ein nationalsozialistisches Deutschland, ein "Viertes Reich". Der Ostdeutsche versteckte seine Gesinnung dabei nicht. Er prügelte mit rechten Kameraden in der Frankfurter Innenstadt auf Passanten ein und lief mit Totenkopf und Hakenkreuz auf Helm und Kampf-Jacke durch Paris.

Unter dem Dach der VSBD hatten sich mehrere Rechtsextremisten zu kleinen Terror-Zellen zusammengefunden, um den bewaffneten Kampf gegen den Staat zu führen. Eine dieser Zellen wurde angeleitet von dem 1931 geborenen Wolfgang Koch, einem arbeitslosen Portier und mehrfach unter anderem wegen Brandstiftung und unerlaubten Waffenbesitzes vorbestraften VSBD-Mitglied aus Frankfurt am Main. Schubert und Kexel hatten sich dieser Gruppe angeschlossen.

Koch fand sofort Gefallen an dem DDR-Flüchtling. Der Quelle, die der Verfassungsschutz Anfang der 80er-Jahre in die Gruppe eingeschleust hatte, sagte er, Schubert sei seine "rechte Hand und Adjutant" gewesen. Mehrfach seien sie zusammen in die Schweiz und nach Frankreich gefahren und hätten dabei auch Waffen und Geld über die Grenzen geschmuggelt. Die Gruppe Koch nutzte als Rückzugsraum Wohnungen in Paris, die Mitgliedern der rechtsextremen Organisation Faisceaux Nationalistes Européens (FNE) gehörten. In einer davon, gelegen in der Rue de Douai, hatte die Terror-Zelle ein "Sicherheitsbüro" eingerichtet und Unterlagen mit konkreten Anschlagsplänen versteckt.

Es gab eine Todesliste, auf der auch die Namen Baum und Galinski standen

Wie der deutsche Verfassungsschutz den Schweizer Ermittlern mitteilte, hatte ihre Quelle diese Unterlagen einsehen können. Demnach war von der Terror-Zelle spätestens 1979 eine so genannte Todesliste mit potenziellen Attentatszielen erarbeitet worden. Darauf standen etwa der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) sowie seine Länder-Kollegen aus Hessen und Bayern - Ekkehard Gries (FDP) und Gerold Tandler (CSU) - sowie Heinz Galinski, damals Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und mehrere Staatsanwälte und Richter aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Die Gruppe hatte die Lebensumstände der potenziellen Opfer bereits penibel ausgekundschaftet. In den Unterlagen fanden sich Angaben über Wohnorte, Fahrzeuge und Gewohnheiten der betroffenen Personen, aber auch Grundriss-Skizzen von Wohnungen und Büros sowie Karten mit Arbeitswegen der Zielpersonen und Schulwegen ihrer Kinder.

Zusammen mit einem anderen Gruppenmitglied sollte Schubert im September 1980 den ersten Mordanschlag verüben, und zwar auf den hessischen FDP-Politiker Gries. Durch einen Verkehrsstau schlug die Aktion allerdings fehl, berichtete der Verfassungsschutz-Agent. Als das Mordkommando am ausgewählten Tatort eintraf, sei der Innenminister bereits weg gewesen.

Um die Jahreswende 1980 / 81 herum plante die Gruppe Koch einen zweiten Anlauf. Vorher aber sollte noch eine Bank überfallen werden, um mit der Beute Waffen zur beschaffen. Den Job übernahm Frank Schubert. Am 15. Oktober 1980 raubte er eine Sparkasse im hessischen Zwingenberg bei Bensheim an der Bergstraße aus. Anschließend ging er in den Untergrund, suchte Wohnung und Arbeitsstelle nicht mehr auf und kampierte stattdessen in einem Zelt im Odenwald und im Taunus.

Allerdings unternahm er in dieser Zeit gemeinsam mit seinem Anführer Koch mehrere Reisen in die Schweiz. Mindestens viermal besuchten die beiden den Schweizer Rechtsextremisten und Waffenhändler Marcel R. in dessen Wohnort Ossingen (Kanton Zürich). Bei einem der Besuche übergab R. einen Karabiner Mod. 98 mit Zielfernrohr. Zuvor hatte die Gruppe schriftlich bei R. noch weitere Waffen bestellt, darunter einen Karabiner der Marke TOZ, Kaliber 22, und eine Pistole Kaliber 7.65 mit Schalldämpfer. Der Quelle des Verfassungsschutzes erzählte Koch später, R. habe der Gruppe mehrere Waffen beschafft, die von Schubert wasserdicht verpackt und in einem See im Kanton Aargau versenkt worden seien. Er, Koch, habe daher eine Taucherausrüstung für Schubert besorgt, damit er die Waffen später bergen und nach Deutschland schmuggeln könne.

Schubert schwamm durch den Rhein in die Schweiz

Kurz vor Weihnachten 1980 machte sich Schubert auf den Weg in die Schweiz, um für den geplanten Anschlag auf Innenminister Gries das Waffenversteck zu heben. Die Reise unternahm er aber nicht allein. Am 20. Dezember traf er sich an der Bergstraße mit einem anderen Mitglied der Gruppe Koch, Walter Kexel. Der hatte zuvor in Frankfurt einen VW Jetta angemietet. In den Kofferraum des Autos packten sie eine Reisetasche und einen Rucksack mit dem von Koch beschafften Taucheranzug sowie ein kleines, noch zusammengefaltetes Schlauchboot samt Blasebalg. Dann ging es zur Schweizer Grenze an den Rhein. Schubert stieg aus, zog den Taucheranzug an und schwamm durch den Fluss an das Schweizer Ufer. Kexel passierte ganz legal die Grenze und sammelte seinen Freund an einem vorher verabredeten Treffpunkt wieder ein.

Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Ossingen, zu Marcel R. Offenbar nahmen sie dort eine Pistole entgegen, die sie vorher bei dem Waffenhändler bestellt hatten. Wie und wo die beiden die nächsten Tage verbrachten, bleibt unklar. Fest steht, dass der Schmuggel der Waffen durch den Rhein nach Deutschland für den 24. Dezember geplant war. Gegen 14.30 Uhr an diesem Tag war Schubert offenbar gerade dabei, die Waffen am Rheinufer nahe dem Schweizer Dorf Koblenz im Kanton Aargau in ein Schlauchboot zu verstauen. Dabei überraschte ihn der Schweizer Grenzwachtgefreite Josef Arnold. Schubert feuerte sofort und tötete den 38-Jährigen mit zwei Schüssen in Kopf und Oberkörper.

Etwa eine Viertelstunde später fuhren zwei weitere Grenzposten, der 31-jährige Walter Wehrli und der zwei Jahre jüngere Josef Weibel, mit dem Auto zum Rheinuferweg, weil sie Arnold nicht mehr über Funk erreichten. Am Dorfrand von Koblenz fiel ihnen ein Fußgänger auf. Es war Schubert. Als er den Polizeiwagen bemerkte, eröffnete der Rechtsterrorist sofort das Feuer. Wehrli, der am Steuer saß, wurde tödlich getroffen. Sein Begleiter Weibel konnte aus dem Auto springen und, von drei Schüssen in die Beine getroffen, sich einen Abhang hinunterrollen. Schubert zerrte den tödlich getroffenen Wehrli aus dem Auto und raste mit dem Fahrzeug davon.

Auf der Beerdigung des rechten Attentäters gab es "Sieg Heil"-Rufe

Zwei Stunden später wurde das Fluchtfahrzeug mit der zerschossenen Heckscheibe gefunden - im Wald bei Böttstein, keine sieben Kilometer vom Tatort entfernt. Rund 200 Polizisten riegelten das Gebiet ab. Als Schubert im Dorf Böttstein auf zwei Polizisten traf, schoss er wieder sofort auf die Beamten, traf einen von ihnen in die Schulter. Dann versteckte er sich in einem Gebüsch im nahen Schlosspark. Als ein weiterer Schuss fiel, stürmten herbeigerufene Einsatzkräfte das Versteck. Dort fanden sie die Leiche Schuberts mit einem Kopfschuss von eigener Hand.

Auf Schuberts Beerdigung, organisiert von VSBD und der ultrarechten, im Jahr 2011 verbotenen Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene (HNG), beschwor der Trauerredner unter "Sieg Heil"-Rufen den Kampfeswillen der rechten Kameraden: "Wir müssen bereit sein, zu sterben, zu retten die Ehr’", rief er laut einem Zeugen auf der nur für Gesinnungsfreunde zugelassenen Trauerfeier am 12. Januar 1981 auf dem Waldfriedhof Frankfurt-Oberrad. Einige Jahre danach noch wurden regelmäßig am 24. Dezember Blumen an dem Ort niedergelegt, an dem sich Schubert das Leben genommen hatte.

Die Gruppe Koch machte weiter. Den Platz von Schubert übernahm der Schweizer Neonazi Marcel R., der vorher schon der Waffenlieferant der Terror-Zelle war. Kexel, der mit Schubert zusammen in die Schweiz gefahren war, gründete zusammen mit seinem Freund Odfried Hepp, einem früheren Mitglied der nazistischen "Wehrsportgruppe Hoffmann", eine neue Organisation, die einen nationalrevolutionären Befreiungskampf verkündete und fortan Anschläge auf in Deutschland stationierten US-Streitkräfte verübte.

Im Februar 1983 wurde die Hepp-Kexel-Gruppe zerschlagen, fünf Mitglieder wurden zu langen Haftstrafen verurteilt. Kexel brachte sich in der Nacht nach dem Urteil im Gefängnis um. Zwar wurden auch mehrere Mitglieder der Gruppe Koch - darunter der Anführer Wolfgang Koch - verhaftet. Die Vorbereitung terroristischer Straftaten wurden ihnen jedoch nicht zur Last gelegt. Was vermutlich daran lag, dass der Verfassungsschutz die Informationen seiner in die Gruppe eingeschleusten Quelle (und möglicher weiterer V-Leute in deren Umfeld) als nicht gerichtsverwertbar einstufte. Koch kam jedenfalls schon bald wieder auf freien Fuß.

Bildunterschrift: Skinhead-Treffen in Hagen, 1986 (Symbolbild).

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Der Tagesspiegel Online, 25.07.2021:

"Jüdisches Leben ist keine Provokation" / 300 Menschen demonstrieren in Neukölln gegen Antisemitismus

25.07.2021 - 22.37 Uhr

Im Vorfeld hatten die Veranstalterinnen vor möglichen Zwischenfällen gewarnt. Doch es blieb ruhig. Die Polizei war mit mehreren Mannschaftswagen vor Ort.

Von Christoph Kluge

Etwa 300 Menschen haben am Sonntagabend vor dem Rathaus Neukölln gegen Antisemitismus demonstriert. Ein Bündnis mehrerer Organisationen hatte dazu aufgerufen. Auch nachdem es zu regnen begonnen hatte, blieben die meisten. Das Motto "Jüdisches Leben ist keine Provokation!" bezog sich auf einen Vorfall im Mai.

Am Rande einer pro-palästinensischen Demonstration am Hermannplatz waren drei jüdische Menschen bedroht worden. Ein Polizist soll ihnen daraufhin geraten haben, jüdische Symbole wie den Davidstern nicht offen zu tragen, weil das als Provokation empfunden werden könne.

Lars Umanski, Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, hat die Kundgebung mitorganisiert. Im Vorfeld seien die Veranstalterinnen gefragt worden, warum sie ausgerechnet in Neukölln demonstrieren wollten, sagt er dem Tagesspiegel. "Macht die Kundgebung irgendwo anders", hätten Kritikerinnen, Kritiker gesagt. Doch gerade daran zeige sich, dass es ein Problem gebe.

"Wie kann es sein, dass mir als Jude in Deutschland, im Jahre 2021 geraten wird, nicht nach Neukölln zu gehen?", fragte Umanski. Wenn er eine Kippa, einen Davidstern oder andere offensichtliche jüdische Symbole trage, müsse er hier Angst haben. Angriffe gebe es auch zum Beispiel in Marzahn oder anderen Stadtteilen, das sei bekannt. Doch dass es auch in Neukölln Juden-Feindlichkeit gebe, werde in der Öffentlichkeit allzu oft nicht als Problem wahrgenommen.

Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) hielt einen Redebeitrag und sagte: Es dürfe nicht als normal gelten, wenn Menschen auf Grund eines Davidsterns angegriffen würden. "Ich bin überzeugt davon, dass der Kampf gegen Antisemitismus immer ein Kampf für die Demokratie ist." Sein Bezirk brauche aber mehr Ressourcen, um den Antisemitismus langfristig zu bekämpfen, etwa durch Bildungsprogramme in den Schulen, sagte Hikel.

Erst am Samstagabend war es zu israelfeindlichen Vorfällen gekommen. 3.000 Menschen waren im Rahmen des "Internationalist Queer Pride for Liberation" vom Neuköllner Hermannplatz nach Kreuzberg gezogen. Die Demonstration war von linken Gruppen organisiert worden, das Motto an den Christopher Street Day angelehnt.

Doch inhaltlich ging es vielen Teilnehmenden vor allem um den Nahost-Konflikt. Einige riefen Parolen wie "Kindermörder Israel", bedrängten Journalistinnen, Journalisten und beschimpften sie als "Zionisten-Presse".

Israel-Feindlichkeit bei Demo am Samstag

Bei der Kundgebung am Sonntag thematisierten mehrere Rednerinnen, Redner diese Veranstaltung. Sie sei beispielhaft für die Problemlage, sagte Sigmount Königsberg von der Jüdischen Gemeinde Berlin. "Wenn moderne Antisemiten sagen, sie würden die Zionisten hassen, dann meinen sie die Juden", sagte er.

André Wartmann, der Antisemitismus-Beauftragte des Bezirks Lichtenberg, pflichtete ihm bei. Wenn auf Demos wie am Samstag Sprechchöre gerufen würden wie "From the River to the Sea, Palestine Will Be Free" oder "Kindermörder Israel" dann sei das "Antisemitismus, getarnt als Israel-Kritik. Das darf nicht unwidersprochen bleiben."

Michaela Engelmeier, Generalsekretärin der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, warnte vor der Kampagne "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS), die den Staat Israel durch Boykott-Aufrufe international isolieren will. BDS gehörte zu den Initiatoren der Pride-Demo am Samstag. Einem Bericht der "Welt am Sonntag" zufolge wird die Bewegung inzwischen von den Verfassungsschutzämtern mehrerer Bundesländer beobachtet. Das sei gerechtfertigt, sagte Engelmeier denn BDS sei "zutiefst antisemitisch".

Auch Lars Umanski vom JSUD hielt eine Rede. Er sprach Gruppen wie BDS direkt an und ging auf deren Vorwurf ein, Kritik an Israel sei in Deutschland tabu. Umanski sagte: "Ihr dürft die israelische Politik kritisieren, ihr dürft rassistische Strukturen kritisieren. Aber die Grenze ist überschritten, wenn das Existenzrecht Israels, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, negiert wird. Und mehr noch, wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland für die Politik des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden."

Im Vergleich zum Mai sei es zwar im Moment ruhig in Berlin. Doch spätestens, wenn der Konflikt im Nahen Osten wieder eskaliere, werde es auch wieder mehr Angriffe auf Juden in Deutschland geben. "Und die Eskalation wird kommen. Leider."

Bildunterschrift: Eine Israel-Fahne ist bei einer Kundgebung gegen Antisemitismus vor dem Rathaus von Berlin-Neukölln zu sehen.

Bildunterschrift: Mitveranstalter Lars Umanski.

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Der Tagesspiegel Online, 25.07.2021:

Protest am Sonntagnachmittag / Bündnis demonstriert gegen antisemitische Gewalt

25.07.2021 - 14.33 Uhr

"Jüdisches Leben ist keine Provokation!" lautet das Motto der Demo. Vertreter aus Politik und Wissenschaft sollen sprechen, auch ein Rapper tritt auf.

Von Christoph Kluge

Unter dem Motto "Jüdisches Leben ist keine Provokation!" ruft das Bündnis gegen Antisemitismus Neukölln für Sonntag zu einer Kundgebung auf. Die Veranstaltung beginnt um 17 Uhr am Rathaus Neukölln und soll etwa drei Stunden dauern.

Angekündigt sind Redebeiträge unter anderem von Yaki Lopez, dem Leiter Öffentlichkeitsarbeit der Israelischen Botschaft, sowie von dem Antisemitismus-Beauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount A. Königsberg.

Auch Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) und der Grünen-Politiker Volker Beck sollen sprechen, außerdem der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi sowie der Rapper und Aktivist Ben Salomo und zahlreiche weitere Persönlichkeiten.

Das aufrufende Bündnis ist nach eigenen Angaben ein Zusammenschluss aus Vertreterinnen und Vertretern des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), dem Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) sowie der Gruppe Ehrlos Statt Wehrlos, die sich gegen Angriffe auf queere Menschen engagiert.

"Wir denken, dass das ein wichtiges Zeichen gegen Antisemitismus sein wird", sagte Mitorganisator Jörg Rensmann vom MFFB dem Tagesspiegel. Er halte es für möglich, dass die Veranstaltung Ziel von antisemitischen Angriffen werden könnte. Doch er gehe davon aus, dass es seitens der Behörden einen "erheblichen Sicherheitsaufwand" geben werde, sagte Rensmann.

Im vergangenen Jahr erfasste die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) insgesamt 1.004 antisemitische Vorfälle in der Bundeshauptstadt, darunter 17 Angriffe auf Menschen, 43 gezielte Sachbeschädigungen und 51 Bedrohungen. Dem RIAS-Jahresbericht zufolge ereigneten sich jeden Tag durchschnittlich drei antisemitische Vorfälle.

Der "politisch-weltanschauliche Hintergrund" ist demnach nur in etwa der Hälfte der Vorfälle bekannt. Jene Vorfälle, die Täterinnen-Gruppen, Täter-Gruppen zugeordnet werden konnten, hätten größtenteils einen rechtsextremistischen Hintergrund gehabt (271 Fälle).

In Neukölln falle hingegen seit Jahren das "Milieu des antiisraelischen Aktivismus" durch Vorfälle auf. Dazu zählt RIAS sowohl islamistische Gruppen als auch säkulare palästinensische Gruppen und die Boykott-Kampagne BDS. 2019 sei jeder zehnte Vorfall dieser Gruppe zugeordnet worden. 2020 sei die Zahl nur auf Grund der Pandemie niedriger gewesen.

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Westdeutscher Rundfunk Köln, 25.07.2021:

Nazi-Affäre der AfD: NRW-Landesvize zitierte "Führer" und prahlte mit Kontakten in Dortmunder Neonazi-Szene

25.07.2021 - 11.25 Uhr

Von Cosima Gill und Wigbert Löer

Der AfD-Politiker Matthias Helferich steht unter Druck, am Montag soll er sich im Bundesvorstand zu Chat-Aussagen äußern. Dem WDR liegt nun eine Erklärung seines damaligen Chat-Partners vor - die Helferich nicht gefallen dürfte.

Es sind Vorwürfe, die auch Parteifreunde aufregen: Der stellvertretende AfD-Landesvorsitzende Matthias Helferich soll 2017 ein Foto von sich selbst im Facebook-Messenger eingestellt und darunter "das freundliche gesicht des ns" geschrieben haben. Die Abkürzung "ns" steht für Nationalsozialismus. Auf WDR-Anfrage bestritt Helferich nicht, dass die Chat-Einträge von ihm stammen, wollte das aber auch nicht bestätigen.

Neue Recherchen des WDR zeigen nun, mit wem Helferich damals kommunizierte. Der Parteifreund heißt Markus Mohr. Das geht aus einem Dokument hervor, das Mohr diese Woche an ein Mitglied des AfD-Bundesvorstands richtete und das dem WDR vorliegt. Die siebenseitige Erklärung kursiert bereits unter hochrangigen AfD-Politikern.

Mohr, 37, trat der AfD bereits 2013 bei und ist einer ihrer erfahrensten Kommunalpolitiker in Nordrhein-Westfalen. Seit 2014 sitzt er im Rat der Stadt Aachen. In der Affäre Helferich ist Mohr eine Art interner Ankläger und zugleich wichtiger Zeuge. In seiner Erklärung an den Bundesvorstand zitiert er einzelne Aussagen, die er Helferich zuschreibt und als Screenshot zeigt - und bezeichnet sie als "gerichtsfest dokumentiert". Er selbst, schreibt Mohr weiter, habe sich die "Gesinnungsäußerungen von Herrn Helferich nie zu eigen gemacht". Eine "Bagatellisierung" der Aussagen "als bloße Witzelei" lehne er ab.

Ein Funktionär sagt, die Causa Helferich könne die AfD "nachhaltig schädigen"

Der Dortmunder AfD-Politiker Matthias Helferich gilt als Shootingstar seiner Partei und belegt Platz sieben der Landeliste für die Bundestagswahl. Er hat sehr gute Chancen, die AfD ab Herbst in Berlin zu vertreten. Als der WDR vor zwei Wochen die Angelegenheit öffentlich machte, reagierte der zweite Vize-Vorsitzende der NRW-AfD, Michael Schild, tags drauf mit einer E-Mail an die AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla und Jörg Meuthen. Die Veröffentlichungen in Sachen Helferich hätten das Potential, die AfD in NRW - und damit die AfD insgesamt - "nachhaltig zu schädigen, wenn nicht sogar zu vernichten", schrieb Schild.

An diesem Montag, 26.07.2021, beschäftigt sich nun der Bundesvorstand der AfD mit der Affäre. Helferich soll dann auch selbst Stellung beziehen zu den Aussagen, die ihm von Mohr zugeschrieben werden, etwa dass er im Chat geäußert haben soll: "ich wollte den "demokratischen Freisler" beim landeskongress geben". Der Richter Roland Freisler verantwortete als Vorsitzender des Volksgerichtshofs in der NS-Zeit tausende Todesurteile.

Bürgerliches Image nur zum Schein

An einer anderen Stelle des Chats äußerte Mohr - so zeigen es die Screenshots in seiner Erklärung -, Helferich verkörpere ein "bürgerliches Image". Dem widersprach Helferich. "ne, ist ja nur schein", schrieb er. Helferich kündigte an, sein bürgerliches Image zu nutzen, um andere "anzugreifen". Dann nahm er Bezug auf den "Führer". Helferich wörtlich: "markus, der führer schreibt: "Jahrelang mussten mir den Frieden predigen, um den Krieg vorzubereiten"". Als Führer ließ sich Adolf Hitler bezeichnen.

"Die AfD lebt von Köpfen wie dir!", schreibt der Partei-Nachwuchs über Helferich

Der WDR schickte Helferich Fragen auch zu diesen Äußerungen. Helferich ließ sie unbeantwortet ließ, kündigte aber an, nach der Sitzung des Bundesvorstands für Fragen zur Verfügung zu stehen.

Zuletzt fand Matthias Helferich, der als enger Vertrauter des Landesvorsitzenden Rüdiger Lucassen gilt, in der NRW-AfD auch Unterstützer. Der Partei-Nachwuchs "Junge Alternative" bekannte sich zu Helferich und stellte öffentlich fest: "Die AfD lebt von Köpfen wie dir!". An anderer Stelle heißt es, der "kommunikative Gesamtzusammenhang" sei relevant, um damit "Ironie und Ernst, Galgenhumor und grobe Verfehlung voneinander unterscheiden zu können".

Zu der Feststellung, sein bürgerliches Image sei "nur schein", passt, dass Matthias Helferich in dem Chat laut Screenshots von seinen Kontakten in die rechtsextreme Szene im Dortmund Stadtteil Dorstfeld berichtete. Mit Blick auf ein Internet-Portal der Neonazis dort, das "Dortmunder Echo", äußerte Helferich demnach im Sommer 2017: "sie werden wohl, falls die npd in dortmund nicht antritt, dazu aufrufen mich zu wählen", und schrieb: "kenne die jungs ja aus dorstfeld".

Er habe eine interne Klärung ermöglichen wollen, schreibt der frühere Chat-Partner

Der damalige Chat-Partner Markus Mohr ordnet den Gesamtzusammenhang in dem Dokument an den AfD-Bundesvorstand ein. Helferichs Aussagen bezeichnet er als "auffallend deplatzierte Einsprengsel". Er schildert beispielhaft die Kontexte mehrerer Aussagen mit NS-Bezug und stellt fest, dass die vorgelegten Aussagen aus dem Zusammenhang "nicht satirisch oder humorvoll gedeutet werden können".

Mohr äußert zudem, dass er sich mit der Causa Helferich zuerst in persönlichen Gesprächen an den AfD-Vorsitzenden Chrupalla und das Bundesvorstandsmitglied Joana Cotor gewendet habe, dann auch schriftlich an Jörg Meuthen. Er habe "alles getan, um eine vertrauliche interne Klärung zu ermöglichen". Dem WDR gegenüber wollte er sich zu den Chat-Aussagen Matthias Helferichs nicht äußern.

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