www.hiergeblieben.de

13 Artikel , 25.09.2020 :

Pressespiegel überregional

_______________________________________________


Übersicht:


Blick nach Rechts, 25.09.2020:
Rechtslastiges Demonstrationsritual

Deutsche Welle, 25.09.2020:
NS-Völkermord an Sinti und Roma in Europa / Auschwitz-Überlebende Zilli Schmidt (96): "Kinder, ihr müsst sehr stark sein"

Der Tagesspiegel Online, 25.09.2020:
Oktoberfest-Attentat vor 40 Jahren / "Es war wie beim NSU"

Jüdische Allgemeine Online, 25.09.2020:
"Combat 18" / Neonazi-Gruppe bleibt verboten

Sächsische Zeitung Online, 25.09.2020:
Rassismus: Leipziger Polizist suspendiert

Westdeutscher Rundfunk Köln, 25.09.2020:
Rechtsextreme Chat-Gruppen: SPD-Politiker fordert Aus für Essens Polizeichef

MiGAZIN, 25.09.2020:
Nordrhein-Westfalen / 100 Rechtsextremismus-Verdachtsfälle in Polizei seit 2017

Westfalen-Blatt, 25.09.2020:
100 Verdachtsfälle bei der Polizei / Rechtsextremismus: Innenminister berichtet über neue Vorwürfe

Neue Westfälische, 25.09.2020:
Noch mehr rechte Polizisten

Rheinische Post Online, 25.09.2020:
Bei Corona-Demos: Debatte um Verbot von Reichsflaggen verschärft sich

Der Tagesspiegel Online, 25.09.2020:
Möglicher Kalbitz-Nachfolger / Verfassungsschutz sieht Verbindung von AfD-Mann Berndt zu Neonazi

Jüdische Allgemeine Online, 25.09.2020:
Thüringen / "Für Überlebende von Auschwitz klingt das wie Hohn in den Ohren"

Blick nach Rechts, 25.09.2020:
Weiterer Aderlass in der AfD

_______________________________________________


Blick nach Rechts, 25.09.2020:

Rechtslastiges Demonstrationsritual

Am 26. Oktober, dem österreichischen Nationalfeiertag, findet in der Hauptstadt Wien ein so genannter "Marsch der Patrioten" statt. Aufmarschiert wird in Folge zum dritten Mal.

Maßgeblicher Veranstalter des "Marschs der Patrioten", der in Folge zum dritten Mal stattfindet, ist die Gruppierung "Okzident - Verein zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit" mit Sitz in Wien. Besitzerin des Hauses in der Fuhrmannsgasse ist die "Österreichische Landsmannschaft" (ÖLM). Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), seit 1983 eine Stiftung, die gemeinsam von der Republik Österreich, der Stadt Wien und dem Verein Dokumentationsarchiv getragen wird, stuft die ÖLM "als … eine rechtsextreme Organisation mit vordergründig humanitärer Ausrichtung, die vor allem im publizistischen Bereich beträchtliche Aktivitäten setzt und auf Grund ihrer ideologisch-kulturellen Tätigkeit eine wichtige integrative Funktion für das deutschnationale und rechtsextreme Lager erfüllt", ein.

Vereinsvorsitzender von "Okzident" ist Georg Imanuel Nagel. Der ehemalige Sprecher von Pegida Wien und Gelegenheitsautor der FPÖ-nahen Publikation "Zur Zeit", steht seit August 2019 (bis August 2023) als Obmann (Vorsitzender) dem Verein "Okzident" vor. Schlagzeilen lieferte "Okzident" zuletzt im Februar 2019. Gemeinsam mit der "Identitären Bewegung" rief man zu einem Flashmob vor dem österreichischen Justizministerium auf. Es nahmen etwa 30 Personen daran teil. Nagel ist ebenso Autor für die extrem rechte Monatszeitschrift "Der Eckart". In seinen Artikeln hetzt Nagel gegen die "immer korruptere BRD-Regierung" und beklagt den "alltäglichen Multikulti-Terror".

"Aufrechte Patrioten stehen für ihre Rechte auf"

Treffpunkt des diesjährigen "Marschs der Patrioten" ist der Michaelerplatz im 1. Wiener Bezirk. Im Demonstrationsaufruf heißt es: "Gerade in diesen Zeiten, wo die Regierung mit immer härteren Zwangsmaßnahmen die Freiheit der Bürger einschränkt, müssen wir noch mehr als sonst ein starkes Zeichen dafür setzen, dass es in diesem Land noch aufrechte Patrioten gibt, die sich nicht alles gefallen lassen und die gewillt sind, für ihre Rechte aufzustehen."

Als Redner sind für den 26. Oktober neben Nagel unter anderem Eric Graziani ("Patriotic Opposition Europe", Berlin), Inge Rauscher ("Initiative Heimat & Umwelt") und Georg Zakrajsek (Bürgerrechtsaktivist, Blogger auf "querschuesse.at") angekündigt. Im vergangenen Jahr hatten rund 120 Personen am "Marsch der Patrioten" teilgenommen. (am).

Bildunterschrift: Rechtslastiger Aufzug am österreichischen Nationalfeiertag (Screenshot).

_______________________________________________


Deutsche Welle, 25.09.2020:

NS-Völkermord an Sinti und Roma in Europa / Auschwitz-Überlebende Zilli Schmidt (96): "Kinder, ihr müsst sehr stark sein"

Sagen, "was mit den Sinti passiert ist", das hat sich Zilli Schmidt vorgenommen. Bei einer Lesung in Mannheim warnt die Jahrhundertzeugin vor neuen Nazis. Vielen im Publikum spricht sie aus dem Herzen.

Über die Schwelle in den großen Saal lässt sich Zilli Schmidt helfen, dann stützt sich die zierliche 96-Jährige nur noch auf ihren Stock. "Dein Besuch ist ein Geschenk", sagen viele, die sie begrüßen und sich später bei ihr bedanken. "Es geht um deine Geschichte, die unsere Geschichte ist", betont Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma in Baden-Württemberg.

Wegen der Corona-Krise fiel im April die Buchvorstellung in Berlin aus. An ihrem Wohnort Mannheim ist Zilli Schmidt nun - mit Maske - ins Kulturhaus RomnoKher gekommen. Zilli Schmidt, die Auschwitz überlebte und ihre Liebsten dort verlor.

Die lange Lesung aus den bewegenden Erinnerungen Schmidts übernimmt Schauspielerin Carmen Yasemin Zehentmeier. "Ich habe Angst, dass ich weinen muss", sagt sie der Deutschen Welle. Sie habe nicht gewusst, wie grausam die Minderheit der Sinti und Roma im Nationalsozialismus verfolgt wurde.

Sie liest aus Schmidts Buch: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt. Erinnerungen einer deutschen Sinteza": von glücklichen Kindertagen, dann von Haft, Hunger, Schüssen auf kleine Kinder, Massenmord. Schweigen und Schlucken im Publikum. Zilli Schmidt hört konzentriert zu, sie nickt, seufzt, schüttelt traurig den Kopf.

"Hat keiner mehr gelebt"

Im Gespräch mit der Deutschen Welle erklärt sie mit fester Stimme "meine Aufgabe": Sagen, was die Nazis mit den Sinti gemacht haben. "Die sind alle vergast worden, meine ganze Familie, meine ganzen Menschen." Nach dem Krieg habe man nur gehört: "Die Juden sind vergast worden. Und unsere Sinti leben alle noch?" Sie macht eine Pause: "Hat keiner mehr gelebt."

Am 2. August 2018 sprach sie zum ersten Mal öffentlich über ihr Leben - bei der Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und Roma Europas am Mahnmal in Berlin: "Ich habe für meine Menschen gesprochen." Viele junge Menschen waren da, das freut sie besonders: "Die Jugend ist ja nicht aufgeklärt worden, die haben das in den Schulen nicht gebracht."

"Wenn ich träum`, bin ich wieder in Auschwitz"

Das Erinnern sei nicht leicht, sagt sie: "Ich muss oft weinen, aber ich zeig es nicht, schluck es runter. Es ist nicht einfach, meine Zeit zu erzählen und wie meine Menschen vergast worden sind. Ich habe ein Kind dabei gehabt. Nein, nein." Die Erinnerungen quälen sie: "Wenn ich träum`, bin ich wieder in Auschwitz." Nachts läuft sie durch die Wohnung, dann weint sie, nimmt Antidepressiva, seit vielen Jahren.

Ihre Tochter Gretel, "mein liebes Mädchen", wäre jetzt 80 Jahre alt. Zilli Schmidt, geborene Reichmann, könnte Enkel- und Urenkelkinder haben. Aber Gretel, ihr Mädchen, "ist nicht großgeworden". Im Lager sieht die Kleine die Schornsteine der Verbrennungsöfen: "Mama, da hinten werden wieder die Menschen verbrannt." Zilli widerspricht ihrer Tochter: "Nein, da backen sie doch nur Brot."

Gretel stirbt mit vier Jahren und drei Monaten - ermordet am 2. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, ebenso wie Zillis Eltern und ihre Schwester Guki mit sechs Kindern, als die SS das so genannte "Zigeunerfamilienlager" auflöst. Allein in dieser Nacht ermordet die SS etwa 4.300 schreiende und weinende Menschen, ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma, dem Porajmos.

Wie andere junge arbeitsfähige KZ-Häftlinge wird Zilli Schmidt, damals 20, vor der Mordnacht abtransportiert. Ihr Vater will Gretel retten, behält sie bei sich. Als sie vom Zug zu ihrer Familie laufen will, zwingt SS-Arzt Josef Mengele die junge Mutter mit einer Ohrfeige zurück in den Waggon: "Er hat mein Leben gerettet, aber er hat mir damit keinen Gefallen getan." Im KZ Ravensbrück erfährt sie, was mit ihrer Familie geschehen ist. Sie fällt um und schreit.

"Eine glückliche Familie"

Als Cäcilie Reichmann ist sie 1924 in Thüringen geboren in eine Schausteller-Familie, die mit einem Wanderkino und Musik die Menschen unterhält. "Wir waren eine glückliche Familie", heißt es im Buch. Den Wohnwagen, mit dem die Reichmanns im Sommer unterwegs sind, hat ihr Vater selbst gebaut, "ein richtiges Schmuckkästchen", der Ofen bemalt mit goldenen Vogelmotiven, Meißener Porzellan im Schrank. Ihr Bruder handelt mit Geigen, Mutter und Schwestern gehen von Tür zu Tür und verkaufen feinste Spitzen.

Die Nesthäkchen Zilli und ihr kleiner Bruder Hesso besuchen unterwegs die Schule, im Winter monatelang am gleichen Ort - in Thüringen und Bayern. Die Lehrer setzen sie in die letzte Reihe. Manchmal werden sie von Mitschülern verfolgt. "Zigeuner, Zigeuner", wiederholt Zilli Schmidt 90 Jahre später den Schimpfgesang. Als Kind wehrt sie sich handfest - mit ihrem hölzernen Griffelkasten.

"Wir waren Wehrmachtsangehörige"

Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, sagt ihr Vater: "Die bringen nur die Verbrecher weg." Er fühlt sich sicher, sie haben ja nichts verbrochen. 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Zillis großer Bruder Stifto dient in der Wehrmacht, in Russland, in Frankreich: "Wir waren Wehrmachtsangehörige." Der NS-Staat schaut nicht auf Wohlverhalten, er treibt die rassistische Verfolgung der Minderheit voran.

Verwandte sind schon ins KZ Buchenwald verschleppt, da reist Familie Reichmann quer durch Deutschland bis nach Frankreich, um den Behörden zu entgehen - vergeblich. In Straßburg wird Zilli Reichmann zusammen mit ihren Cousinen festgenommen. "Straftat: Zigeunerin", notiert die Polizei, nachzulesen im reich dokumentierten und illustrierten Buch, das die Stiftung Denkmal herausgegeben hat.

"Gott hat mir geholfen"

Zilli Reichmann wird durch mehrere Gefängnisse geschleust, dann gelingt ihr im Lager Lety im deutschen "Protektorat Böhmen und Mähren", heute Tschechien, die Flucht. Doch sie wird erneut festgenommen.

Im März 1943 tätowiert ihr ein Häftling in Auschwitz die Nummer Z1959 auf den Arm. Sie landet als erste der Reichmanns in Auschwitz-Birkenau im "Zigeunerfamilienlager": Hunger, Durst, Krankheiten, Gewalt, Tote. Um den Kindern und anderen zu helfen, habe sie "geklaut wie ein Rabe", Kartoffeln in der Küche, Stiefel in der Kleiderkammer, sie riskiert ihr Leben.

Zweimal steht ihr Name auf der Liste für die Gaskammer, zweimal kommt sie davon, berichtet sie im Buch und mit eigener Stimme in einem Film von Hamze Bytyci, der in Mannheim gezeigt wird. Sie übersteht drei Tage Stehbunker: kein Wasser, kein Essen, keine Toilette. "Als ich drin war, hab ich gedacht, ihr könnt mir den Buckel runterrutschen. Wenn ich rauskomme, klaue ich weiter." Einmal schießt ein Wachtposten auf sie, die Kugel verfehlt sie knapp.

Später kann sie mit ihrer Cousine Tilla noch einmal fliehen aus einem KZ-Außenlager. Sie überlebt den Krieg. "Gott hat mir geholfen, ich allein hätte es nicht überstanden", sagt Zilli Schmidt. "Ich bin nicht umsonst noch hier." Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen.

Nach dem Krieg leidet Zilli Reichmann unter Depressionen, sie nimmt Medikamente, baut sich ein neues Leben auf. Später kommen die Schuldgefühle, überlebt zu haben, während die Liebsten ermordet wurden. Mit ihrem Mann Toni Schmidt, auch er ein KZ-Überlebender, beantragt sie in München "Wiedergutmachung" für die Haft in den Konzentrationslagern.

Nach vielen Jahren Papierkrieg erhält Zilli Schmidt nur wenig Geld: "Aber ich war froh, dass ich das gehabt hab. Nach dem Lager waren wir ganz arme Menschen." Erst 1982 erkennt die Bundesrepublik Deutschland die rassistische Verfolgung an.

Warnung vor neuen Nazis

Zilli Schmidt hat fast ein Jahrhundert Erfahrungen mit Ausgrenzung und Verfolgung als deutsche Sinteza. Was macht ihr Sorgen? "Liebe Kinder, ihr müsst sehr stark sein", sagt sie beschwörend: "Wir leben in einer schlechten Zeit. Die Hitlers sind am Werk, die sind nicht totzukriegen." Die 96-Jährige betont: "Ich will informiert werden, was in der Welt zugeht. Deswegen sehe ich das alles im Fernsehen - dass sogar in der Polizei Nazis sind." Sie hat Angst vor neuen Nazis: "Wenn sie wissen, wo ich wohne, dass sie mich umbringen."

Romeo Franz, erster deutscher Sinto im Europaparlament, führt Zilli Schmidt nach der Lesung aus dem Saal, sie kennen sich gut. Er ist gut 40 Jahre jünger, auch in seiner Familie gibt es Auschwitz-Opfer, auch er wurde auf dem Schulweg als "dreckiger Zigeuner" beschimpft und geschlagen. Romeo Franz kennt die Ängste Zilli Schmidts vor Antiziganismus und Rechtsnationalismus: "Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich dagegen einsetze."

Vernetzung und Stärkung der Minderheit

Nach der Lesung stehen draußen im Hof drei junge Frauen zusammen. Sie gehören zur Minderheit der Sinti und Roma, kannten sich bisher nur aus den Sozialen Medien. Was Zilli Schmidt erzählt, berührt sie sehr. Sie nutzen die gleichen Koseworte für ihre Kinder, sie kennen aus ihren Familien die Erleichterung bei der Geburt eines Kindes mit heller Haut, von der auch die 96-Jährige spricht: "Die kommen besser durchs Leben als wir schwarzen."

Christina Schumacher ist russische Roma, geboren in Sibirien, sie kam mit ihren Eltern nach Deutschland. Verena Lehmanns Großmutter war in Auschwitz, konnte kaum darüber reden. Enkelin Verena sprach am 2. August 2020 am Mahnmal für die Ermordeten in Berlin: "Wir Kinder wussten früh, was ein KZ ist und was Nazis sind. Vor Hitler hatte ich besonders Angst." Und das viele Jahre nach dem Krieg, nach dem Tod des Diktators - das Trauma der Verfolgung und die Ängste werden vererbt, sagt sie.

Viele Sinti und Roma outen sich nicht aus Sorge vor Ablehnung. Victoria Groß arbeitet als Erzieherin. Als eine Bekannte gegen den Einzug einer Sinti-Familie protestiert, erzählt sie ihr, dass sie zur Minderheit gehört: "Das machte die Runde." Jetzt werde ihre Tochter nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen: "Sie hat geweint." Die Zehnjährige fragt: "Warum hast du das gesagt?" Victoria Gross sagt, verstecken sei keine Lösung. Sie setzt auf Vernetzung in der Minderheit, um sich gegenseitig zu stärken, und auf Aufklärung, darum engagiert sie sich in der Jugendarbeit.

"Ich erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache"

Wie hat es Zilli Schmidt geschafft, nicht zu verbittern und in Deutschland nur Nazis zu sehen? "Es sind nicht alle Nazis, sind viele gute Menschen."

Sie sei ein guter Menschenkenner, sagt sie, das musste sie bei ihren schlechten Erfahrungen sein: "Ich guck dir ins Gesicht - wenn du die Maske runter nimmst. Dann sehe ich, ob du ein guter Mensch bist oder ein böser." Sie muss lachen unter ihrer eigenen Corona-Schutz-Maske: "Ist ja schön, dass man noch mal lachen kann."

Ihren Lesern im Buch gibt Zilli Schmidt ein Versprechen: "Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn."

Bildunterschrift: Sagen, was mit den Sinti passiert ist: Zilli Schmidt (96) kam trotz Corona-Pandemie zur Lesung ihres Buchs in Mannheim.

Bildunterschrift: 2. August 2018 am Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma: "Heute habe ich meine ganze Familie verloren."

Bildunterschrift: Das "Kostbarste", das Zilli Schmidt besitzt: ein Foto ihrer Tochter Gretel (rechts), die in Auschwitz ermordet wurde.

Bildunterschrift: Glückliche Kindheit: Zilli Reichmann (links) mit ihrem Cousin Willi und ihrer Cousine Bluma.

Bildunterschrift: Vor dem Horror der Konzentrationslager: Zilli Reichmann (rechts) mit Cousine Tilla (1939 / 1940 in Prag).

Bildunterschrift: Zilli Schmidt hat Romeo Franz das Versprechen abgenommen, gegen neue Nazis zu kämpfen.

Bildunterschrift: Vernetzen gegen Antiziganismus: Verena Lehmann, Victoria Groß und Christina Schumacher (v. l. n. r.).

_______________________________________________


Der Tagesspiegel Online, 25.09.2020:

Oktoberfest-Attentat vor 40 Jahren / "Es war wie beim NSU"

25.09.2020 - 21.37 Uhr

Vor 40 Jahren wurde das Oktoberfest-Attentat verübt. Heute ist klar: Es war ein rechtsextremer Terrorakt. Die Hintergründe sind aber nach wie vor unklar.

Von Patrick Guyton

Am 26. September 1980 um 22.19 Uhr explodierte am Haupteingang des Münchner Oktoberfestes eine in einem Papierkorb deponierte Bombe. 13 Menschen kamen ums Leben, 213 wurden verletzt. Vor 40 Jahren war das, es war der schwerste Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik.

Der Attentäter war rasch ausgemacht: Der 21 Jahre alte Geologie-Student Gundolf Köhler aus Donaueschingen in Baden-Württemberg hatte den Sprengsatz gezündet und kam dabei selbst ums Leben. Von einem rechtsterroristischen Anschlag war damals noch nicht die Rede. Und ziemlich lang sollte das auch so bleiben.

Jetzt sitzt der Journalist Ulrich Chaussy in einem Münchner Biergarten, tippt auf eine alte Ausgabe seines Buches "Oktoberfest - Ein Attentat" von 1985 und sagt: "Da stand schon ziemlich viel drin." Der 68-jährige Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks ist einer der beiden hartnäckigsten Rechercheure, die immer an dem Fall drangeblieben sind.

Der andere ist der Rechtsanwalt Werner Dietrich, er vertritt Opfer des Anschlags. Erstmals bekam es Chaussy 1982 mit dem Thema zu tun, als er Dietrich interviewte. Beide waren darüber irritiert, wie schnell die Generalbundesanwaltschaft sich auf Köhler als Einzeltäter festgelegt hatte. "Die Mechanismen des Wegschauens und Verdrängens waren damals voll ausgeprägt", sagt Chaussy heute, "es war wie beim NSU".

Die Haltung der Ermittler: Köhler sei ein frustrierter Einzeltäter gewesen. Bei einer Prüfung war er durchgefallen, bei Frauen konnte er nicht landen. Und so fuhr er in seinem Ford Consul mit der Bombe nach München, um sich umzubringen und dabei möglichst viele andere Menschen mit in den Tod zu reißen.

Dass Köhler bei der neonazistischen "Wehrsportgruppe Hoffmann" mitgemacht hatte, war den Ermittlern nicht entgangen - laut deren Bericht war aber kein Zusammenhang zum Anschlag herzustellen gewesen. War er lebensmüde? Kurz zuvor hatte er Geld in einen Bausparvertrag eingezahlt und Musiker gefunden, die mit ihm eine Band gründeten.

Aber was war das Motiv?

Chaussy meint: "Köhler war nicht sozial isoliert, er hatte ein geselliges Leben." Der Autor staunte, als ihm die Ermittlungsakten zugespielt wurden. Laut Zeugen war Köhlers Auto in München gesehen worden - mit mehreren Insassen. Im Aschenbecher des Wagens wurden mehr als 40 Zigarettenstummel entdeckt von sechs unterschiedlichen Marken.

Der Zeuge Frank Lauterjung sagte, er habe Köhler am Tatort 30 Minuten vor der Explosion mit zwei Männern diskutieren sehen. Eine Zeugin beschrieb, wie Köhler und ein weiterer Mann sich direkt vor der Explosion gestritten hätten. Chaussy erinnert sich: "Die nächsten 20 Jahre ging in diesem Fall dann gar nichts voran."

Die BRD 1980: Der schlimmste RAF-Terror war überstanden. Kurz vor der Bundestagswahl spaltete der Unions-Kanzlerkandidat Franz Josef Strauß (CSU) das Land. Im europäischen Ausland und in Deutschland organisierten sich rechtsextreme Terroristen. Doch speziell im CSU-dominierten Bayern stand der Feind immer links.

Hilfsfonds für Opfer

Was aber war das Motiv von Gundolf Köhler und möglichen weiteren Tätern? "Dieser Anschlag ist ganz schwer lesbar" sagt Chaussy. Er weiß es auch nicht. Vielleicht sollte Chaos gestiftet werden, um eine Rechts-Diktatur einzuführen. "Eventuell war der Anschlag so nicht geplant", meint Chaussy. "Ich bin mir sicher, dass Köhler nicht sterben wollte."

Die erst Ende 2014 wieder aufgenommenen Ermittlungen wurden im Juli 2020 beendet mit dem Ergebnis, Köhler habe aus einer "rechtsextremistischen Motivation heraus gehandelt". Mittäter wurden keine entdeckt, das hatte Chaussy auch nicht mehr erwartet.

Er wünscht sich aber einen Untersuchungsausschuss im Landtag oder Bundestag mit dem Ziel, "die Systematik der damaligen Vertuschung aufzudecken". In dieser Woche erst haben sich Bund, Freistaat und die Stadt München auf einen Hilfsfonds für die Verletzten und Hinterbliebenen in Höhe von 1,2 Millionen Euro geeinigt.

Bildunterschrift: Ein Sarg wird am 26.09.1980 vom verwüsteten Tatort beim Oktoberfest in München fortgetragen.

_______________________________________________


Jüdische Allgemeine Online, 25.09.2020:

"Combat 18" / Neonazi-Gruppe bleibt verboten

25.09.2020 - 14.27 Uhr

Bundesverwaltungsgericht in Leipzig lehnt Klage der rechtsextremen Vereinigung gegen Verfügung ab

Das Verbot der rechtsextremen Vereinigung "Combat 18 Deutschland" bleibt in Kraft. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig lehnte laut einer Mitteilung vom Freitag einen dagegen gerichteten Antrag ab.

Die Neonazi-Gruppe wollte erreichen, dass ihre Klage gegen die Verbotsverfügung zunächst aufschiebende Wirkung hat und die Gruppierung vorerst weiter aktiv bleiben kann. Dies lehnte das Gericht ab. Das Bundesinnenministerium hatte die Vereinigung im Dezember 2019 verboten (BVerwG 6 VR 1.20).

Strafgesetze

Begründet wurde das Verbot damit, dass Zwecke und Tätigkeit der Gruppierung den Strafgesetzen zuwiderliefen und sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richteten. Die Vereinigung identifiziere sich mit nationalsozialistischen Zielen und der Bereitschaft zum rücksichtslosen gewaltsamen Vorgehen.

"Combat 18 Deutschland" klagte dagegen und beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Das Bundesverwaltungsgericht folgte dem nicht. Dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verbotsverfügung gebühre Vorrang vor dem Interesse der Antragstellerin, hieß es. Dies ergebe sich auch daraus, dass die Klage gegen die Verbotsverfügung voraussichtlich ohne Erfolg bleiben werde. Einen Termin dafür gibt es noch nicht.

Der Zahlencode 18 steht in der rechtsextremen Szene für die Anfangsbuchstaben von Adolf Hitler. Die deutsche Vereinigung ist ein Ableger einer 1992 in Großbritannien entstandenen rechtsextremen Gruppe. Mit dem Verbot dürfen auch Symbole des Vereins nicht mehr verwendet werden, darunter ein Drachen als Logo. (epd)

Bildunterschrift: Mitglied der neonazistischen Gruppe "Combat 18".

_______________________________________________


Sächsische Zeitung Online, 25.09.2020:

Rassismus: Leipziger Polizist suspendiert

25.09.2020 - 17.53 Uhr

Der Leipziger soll sich in einem Chat rechtsextremistisch geäußert haben. Er muss nun auch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.

Von Maximilian Helm

Wegen des Verdachts auf menschenfeindliche Äußerungen ist ein Polizeivollzugsbeamter der Direktion Leipzig mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert worden. Das teilte die Leipziger Polizei am Freitag mit.

Der Beamte steht im dringenden Verdacht, als Teilnehmer in einer Chat-Korrespondenz rechtsextremistische und rassistische Äußerungen vorgenommen zu haben. Am Donnerstag sei die Polizeidirektion vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg über einen derartigen Chat-Verlauf unterrichtet worden. Daraufhin sei ein Verbot des Führens seiner Dienstgeschäfte angeordnet worden.

Strafrechtliche Konsequenzen für Leipziger Polizist

Polizeipräsident Torsten Schultze nach dem Bekanntwerden der Suspendierung: "Ich bin sehr enttäuscht. Unsere Aufgabe ist der Schutz der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung. Rechtsextremistisches Gedankengut hat in unserer Polizei nichts zu suchen. Dessen Existenz darf daher nicht klein geredet werden und wird in unseren Reihen nicht toleriert."

Der tatverdächtige Polizist muss nun auf Grund seiner Äußerungen sowohl mit straf- als auch mit dienst- / disziplinarrechtlichen Konsequenzen rechnen. Die weiteren Ermittlungen sollen durch die Soko Rex des Landeskriminalamtes Sachsen geführt, hieß es in der Mitteilung weiter.

Bildunterschrift: Auf Grund rassistischer Äußerungen ist ein Leipziger Polizist aus dem Dienst entfernt worden.

_______________________________________________


Westdeutscher Rundfunk Köln, 25.09.2020:

Rechtsextreme Chat-Gruppen: SPD-Politiker fordert Aus für Essens Polizeichef

25.09.2020 - 17.00 Uhr

Im Fall der rechtsextremen Umtriebe bei der Essener Polizei wächst der Druck auf Polizeipräsident Richter. Aus der SPD-Fraktion wird seine Abberufung gefordert. Doch Innenminister Reul hält zu Richter.

Erste Stimmen in der SPD-Fraktion im Landtag fordern die Absetzung des in die Kritik geratenen Essener Polizeipräsidenten Frank Richter. Innenminister Herbert Reul (CDU) wäre gut beraten, eine Personalentscheidung zu treffen, die zu einem "Neuanfang" bei der Polizei in Essen führe, sagte der SPD-Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel dem WDR. Richter sei als Polizeipräsident "nicht zu halten", so der Politiker aus dem Ruhrgebiet.

Eine Sprecherin des Innenministers teilte mit: "Der Minister sieht keinen Grund, warum Polizeipräsident Richter sein Amt nicht weiter ausüben sollte." Innenminister Reul ergänzte in einem WDR-Interview am Freitagnachmittag, dass er sich "darum kümmern" werde, wenn man ihm schreibe und dem Polizeipräsidenten "einen Fehler nachweisen" könne. Er versprach "systematische Aufklärung" und warnte davor, Polizisten unter einen "Generalverdacht" zu stellen.

Polizeipräsident Richter steht als Behördenleiter wegen mutmaßlich rechtsextremistischen Chat-Gruppen rund um die Essener Polizei und eine Polizeiwache in Mülheim an der Ruhr in der Kritik. Erst am Donnerstag sei ein weiterer Beamter des Polizeipräsidiums Essen vom Dienst suspendiert worden.

Broschüre mit "rassistischer Komponente"?

Hinzu kommen neue Vorwürfe wegen einer Essener Polizei-Broschüre zum Thema Clans. Die Kriminologin Dorothee Dienstbühl hatte sie im Auftrag des Polizeipräsidiums Essens verfasst und steht mit Richter gemeinsam im Vorwort. In dem 20-seitigem Heft heißt es, dass sich Clans immer im Krieg befänden, Frauen in den Familien nicht nach "(beruflicher) Selbstverwirklichung" strebten, sondern "den Luxus der Familien stärker" auslebten.

Verweise auf Studien gibt es für die Aussagen in der Broschüre nicht, über die zuerst die "Welt" berichtet hatte. Nach WDR-Informationen stand das Heft auch zum Download über den Server des Landeskriminalamtes zur Verfügung.

Der SPD-Politiker Yüksel sprach von einem "Sammelsurium von Stereotypen" und kritisierte eine "rassistische Komponente". Es sei erschreckend, dass in der Broschüre gesagt werde, man solle keinen Unterschied zwischen kriminellen und nicht kriminellen Clan-Mitgliedern machen. Die Polizei Essen weist die Rassismus-Vorwürfe zu der Broschüre gegenüber dem WDR zurück und will das Heft weiterhin intern verwenden. Es handele sich "um eine wissenschaftliche Ausarbeitung", die dazu diene, die "Entstehung und das Handeln arabischer Familien zu verstehen".

Nach der wachsenden Kritik an der Broschüre reagierte die Essener Polizei am Freitagnachmittag, in dem sie das Heft im Netz veröffentlichte. In einer Presseerklärung betonte die Polizei zudem, das Heft sei ohne Quellenverweise erstellt worden, da es "lediglich als Handlungsempfehlung verstanden werden soll".

Kritik am früheren Gewerkschafts-Chef

Ausgerechnet Richters Ehefrau ist in der Essener Behörde seit einigen Monaten als Extremismus-Beauftragte tätig, um eine Radikalisierung von Polizisten zu verhindern. Zwar kam dieser Vorschlag aus der Essener Behörde selbst und ist formal korrekt abgewickelt worden - dennoch sorgte die Personalie auch in Düsseldorfer Regierungskreisen hinter vorgehaltener Hand für Kopfschütteln.

Richter hatte sich "zutiefst bestürzt über das unentschuldbare Fehlverhalten" von Polizisten in seiner Behörde gezeigt. "Wer Dienstgeheimnisse verrate oder rechtes Gedankengut verbreite, habe in der Polizei nichts zu suchen", so der Essener Polizeipräsident.

2012 war Richter, zu der Zeit noch Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, vom damaligen NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) zum Polizeipräsident von Hagen gemacht worden. 2015 wurde der als SPD-nah geltende Richter dann Polizeichef in seiner Heimatstadt Essen.

Bildunterschrift: SPD-Landtagsabgeordneter Serdar Yüksel.

_______________________________________________


MiGAZIN, 25.09.2020:

Nordrhein-Westfalen / 100 Rechtsextremismus-Verdachtsfälle in Polizei seit 2017

25.09.2020 - 05.20 Uhr

Seit 2017 gab es in der nordrhein-westfälischen Polizei 100 rechtsextreme Verdachtsfälle. Innenminister Reul sieht kein strukturelles Problem. Die Mehrheit der Polizisten stünde "auf der richtigen Seite".

Zwischen 2017 und Mitte September dieses Jahres hat es 100 Verdachtsfälle wegen rechtsextremistischer Gesinnung in der nordrhein-westfälischen Polizei gegeben. Gegen acht Polizeibeamte seien Ermittlungen eingeleitet worden, weil sie Beziehungen zur Reichsbürger-Ideologie haben sollen, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Donnerstag im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtages. Zudem gibt oder gab es 84 Disziplinarverfahren gegen Beamte wegen Hinweis auf eine rechtsextreme Gesinnung.

Laut Reul sind 29 Verfahren gegen Beamtinnen und Beamte mit mutmaßlich rechter Gesinnung bereits abgeschlossen. Dabei wurden acht disziplinar- beziehungsweise arbeitsrechtliche Maßnahmen verhängt. 21 Verfahren endeten ohne Konsequenzen für die Beschäftigten. Von den 71 noch laufenden Verfahren gegen Polizisten entfallen 31 auf die mutmaßlich rechtsextremistischen Chat-Gruppen rund um die Essener Polizei und die Polizeiwache in Mülheim.

Reul: Auch Verdächtige mit Migrationshintergrund

Nach Angaben des Innenministers hat sich die Zahl der Beschuldigten im Fall der rechtsextremen Chat-Gruppen mittlerweile von 30 auf 31 erhöht. Die Polizistinnen und Polizisten sollen in privaten WhatsApp-Chat-Gruppen extremistische und menschenverachtende Nachrichten ausgetauscht haben. Einige der Beteiligten hätten den Austausch der Nachrichten als "große Gedankenlosigkeit" bezeichnet, sagte Reul.

Immerhin seien unter den unter Verdacht stehenden Beamten auch Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichwohl gelte: "Wer nicht auf dem Boden unserer Verfassung steht, hat in der nordrhein-westfälischen Polizei nichts zu suchen."

Reul sieht kein strukturelles Problem

Der Minister wies darauf hin, dass die Mehrheit der Polizisten in NRW "auf der richtigen Seite" stehe und es kein "strukturelles Problem" mit Rechtsextremismus in der Polizei gebe. Zudem habe er sich in einer persönlichen Mail an die 56.000 Polizisten in NRW gewandt und seine Unterstützung für alle Beamte bekundet, die für die Verfassung einstünden.

Überdies begrüßte Reul die "Selbstreinigungskräfte", die nach dem Bekanntwerden der rechtsextremen Chat-Gruppen eingesetzt hätten. Seit der vergangenen Woche seien schon 16 Hinweise zu rassistischen und extremistischen Vorfällen in der Polizei eingegangen. Die meisten Hinweise seien von Seiten der Polizei gekommen. (epd/mig)

Bildunterschrift: Polizeipräsidium Köln, Nordrhein-Westfalen.

_______________________________________________


Westfalen-Blatt, 25.09.2020:

100 Verdachtsfälle bei der Polizei / Rechtsextremismus: Innenminister berichtet über neue Vorwürfe

Von Hilmar Riemenschneider

Düsseldorf (WB). Die Polizei ist in NRW mit deutlich mehr Verdachtsfällen von Rechts­extremisten konfrontiert, als bisher bekannt war. Vom 1. Januar 2017 bis zum 21. September dieses Jahres habe es insgesamt 100 Verdachtsfälle bei der Polizei gegeben, berichtete Innenminister Herbert Reul (CDU) am Donnerstag im Innenausschuss des Landtags. Weitere vier Fälle gab es demnach im Innenministerium. Von den eingeleiteten Disziplinarverfahren seien 29 bereits abgeschlossen, 71 liefen aktuell noch. In acht Verfahren ging es demnach um Reichsbürger-Ideologien, in 84 um Rechtsextremismus, acht Fälle betrafen Tarifbeschäftigte. In diesen Zahlen enthalten sind Reul zufolge auch die inzwischen 31 Polizistinnen und Polizisten, die sich in fünf rechtsextremen Chat-Gruppen ausgetauscht haben.

Enthalten seien auch 16 neue Hinweise auf rassistisches Verhalten von Beamten, die seit den Razzien gegen die Chat-Gruppen in der vergangenen Woche bei den Polizeibehörden eingegangen seien. Viele davon kämen aus dem Kollegenkreis.

Der Fall der bei der Polizei in Mülheim entdeckten rechtsextremen Chat-Gruppen beschäftigt bei der Polizei inzwischen rund 150 Beamte, die gegen ihre Kollegen ermitteln, wie Reul berichtete. Alle 31 betroffenen Beamten seien suspendiert. Anders als die zuerst ermittelten 30 Chat-Teilnehmer aus einer Dienstgruppe der Polizei Mülheim habe die neu hinzugekommene Person keinen Bezug dazu. Damit erreicht der Fall möglicherweise weitere Polizeikreise.

Bei den Durchsuchungen in Wohnungen und Polizeidienststellen seien vergangene Woche rund 250 Datenträger sichergestellt worden, darunter Mobiltelefone, Laptops, Tablets und mobile Speicher, erläuterte Reul. Bislang seien davon neun Terabyte an Daten gesichert, allerdings noch nicht analysiert worden. Das erfordere nun "leider" Geduld: Auf jedem konfiszierten Mobiltelefon finde sich "eine Vielzahl von Chats" mit vielen weiteren Teilnehmern. Nun müsse untersucht werden, wo möglicherweise strafrechtlich oder disziplinarrechtlich relevante Äußerungen gefallen seien.

Reul berichtete auch von einem neuen Fall aus dem Polizeipräsidium Köln: Dort seien die Beamten im Zuge von Ermittlungen wegen Rassismus-Vorwürfen gegen einen Kollegen auf ein Portal namens "net4cops" gestoßen. Gut 770 Beschäftigte von Sicherheitsbehörden aus ganz Deutschland hätten sich dort ausgetauscht. Neun Nutzer seien dabei durch rechtsgerichtete Beiträge aufgefallen, davon fünf Polizeibeamte aus NRW. Die Plattform sei geschlossen.

"Mir macht Sorgen: Wie verändere ich die Einstellung von denen? Die ist nicht bei allen richtig", sagte Reul. Er stelle sich die Frage, warum alle bisher getroffenen Maßnahmen nicht ausreichend wirken. Ein strukturelles Problem sehe er aber nicht.

Seine Fragen müsse der Minister unabhängigen Wissenschaftlern stellen, forderte der SPD-Innenpolitiker Hartmut Ganzke, der Reuls Vorgehen zugleich lobte: "Wir haben an der Art und Weise nichts zu bekritteln."

Auch seine Grünen-Kollegin Verena Schäffer pochte gestern auf eine wissenschaftliche Untersuchung von rechtsextremen Vorfällen in der Polizei. Sie zeigte sich erschüttert über die von Reul genannte Zahl von Verdachtsfällen. Zugleich kritisierte sie den Essener Polizeipräsidenten Frank Richter, er hätte nach Vorwürfen gegen einzelne Beamte das Problem erkennen können.

_______________________________________________


Neue Westfälische, 25.09.2020:

Noch mehr rechte Polizisten

Auch auf der Plattform "Net4Cops" posten Beamte rechte Parolen / Insgesamt laufen zur Zeit 71 einschlägige Disziplinarverfahren, berichtet NRW-Innenminister Reul

Lothar Schmalen

Düsseldorf. Bei der Polizei in NRW ist eine weitere Gruppe von Polizeibediensteten aufgeflogen, die im Internet mit rechten Parolen unterwegs waren. Auf der Internet-Plattform "Net4Cops" seien neben einem Bediensteten der Polizei Köln vier weitere NRW-Polizisten mit "rechtsgerichteten Äußerungen" aufgefallen, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) im Innenausschuss des Landtags.

"Net4Cops" ist ein geschlossenes Forum für Bedienstete von Sicherheitsbehörden. Dort seien 770 Sicherheitskräfte aus ganz Deutschland angemeldet, informierte Reul. Genutzt werden könne es nur mit einer dienstlichen Mail-Adresse. Unter den 770 Nutzern der Plattform waren offenbar neun, die sich mit rechten Äußerungen hervorgetan haben, die fünf aus NRW und vier weitere Polizisten aus anderen Bundesländern oder von Bundesbehörden, zum Teil auch schon pensionierte Beamte. Inhaltlich sei es bei den rechten Einträgen um die Themen "kriminelle Ausländer", "Islamkritik", "Lügenpresse" und "Überfremdung" gegangen.

Nach einer ersten Bewertung der Staatsanwaltschaft Köln seien die rechtsgerichteten Einträge zwar strafrechtlich nicht relevant, so Reul, aber durchaus disziplinarrechtlich. Gegen den Kölner Polizeibediensteten sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden, weil er sich mutmaßlich verfassungsfeindlich und rechtspopulistisch geäußert habe, so Reul. Die Internet-Plattform ist vom Administrator inzwischen geschlossen worden.

Aufgefallen waren die rechtsgerichteten Äußerungen bei "Net4Cops" durch den Hinweis eines Kölner Polizeibediensteten. Die Kölner Polizei leitete daraufhin verdeckte disziplinarische Ermittlungen gegen einen ihrer Beamten ein - und wurde fündig.

Seit Beginn 2017 gab es bei der Polizei und im NRW-Innenministerium insgesamt 104 Verdachtsfälle wegen rechtsextremistischer Umtriebe, 100 bei der Polizei, vier im Ministerium. Zur Zeit laufen noch 71 Disziplinarverfahren, darunter 31 im Komplex der rechtsextremistischen Chat-Gruppen bei der Polizei Essen - das ist einer mehr als bislang angegeben.

Die Zahlen teilte Innenminister Reul auf Anfrage der Grünen mit. Von den 29 abgeschlossenen Disziplinarverfahren bei der Polizei endeten acht mit Disziplinarstrafen. Nur ein Beamter konnte aus dem Dienst entfernt werden. 21 wurden ohne Ergebnis eingestellt, weil der Verdacht sich nicht bestätigte oder weil es aus sonstigen Gründen nicht mehr möglich gewesen sei, eine disziplinar- oder arbeitsrechtliche Maßnahme zu verhängen.

Nachdem bei der Polizei Essen Chat-Gruppen aufgefallen waren, in denen mindestens 31 Beamte untereinander rechtsextreme Propaganda verbreitet hatten, hatte Reul alle 56.000 NRW-Polizisten aufgefordert, Hinweise auf rechtsradikale Umtriebe in der Polizei zu geben. Inzwischen seien 16 Hinweise eingetroffen, denen jetzt nachgegangen werde.

"Lagebild" statt "Studie"

Auch im Innenausschuss stritten Innenminister Reul, CDU und FDP und AfD auf der einen und SPD und Grüne auf der anderen Seite, ob es eine unabhängige wissenschaftliche Studie über Rechtsextremismus bei der Polizei geben muss. SPD und Grüne sind dafür.

Innenminister Reul setzt dagegen auf ein Lagebild "Rechtsextremismus bei der Polizei", das der von ihm eingesetzte Sonderbeauftragte für rechtsextreme Tendenzen bei der Polizei, der bisherige Vize-Chef des NRW-Verfassungsschutzes Uwe Reichel-Offermann, erarbeiten soll. Auch dafür soll externer wissenschaftlicher Sachverstand hinzugezogen werden, so Reul.

Bildunterschrift: Bei der NRW-Polizei sind seit 2017 insgesamt 100 Mitarbeiter unter Rassismus- oder Rechtsextremismus-Verdacht geraten.

_______________________________________________


Rheinische Post Online, 25.09.2020:

Bei Corona-Demos: Debatte um Verbot von Reichsflaggen verschärft sich

25.09.2020 - 18.19 Uhr

Berlin Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen werden häufig auf Kundgebungen gegen die Corona-Beschränkungen geschwenkt. Die Rufe nach einem Verbot mehren sich. Aber würde das helfen?

Bilder von aufgebrachten Demonstranten, die vor dem Reichstagsgebäude schwarz-weiß-rote Fahnen schwenken, haben die Republik schockiert und gingen um die Welt. Auch in Stuttgart wehten Reichsfahnen und Reichskriegsflaggen auf Kundgebungen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Unter denen, die diese Fahnen besitzen, sind viele Reichsbürger, die das System der Bundesrepublik nicht anerkennen, und auch Rechtsradikale.

Die Bremer Innenbehörde hat vergangene Woche beschlossen, die Flaggen aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Laut dem Bremer Erlass "stellt ihre Verwendung in der Öffentlichkeit regelmäßig eine nachhaltige Beeinträchtigung der Voraussetzungen für ein geordnetes staatsbürgerliches Zusammenleben und damit eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar". Die Polizei im Bundesland Bremen kann die Flaggen nun konfiszieren und die Eigentümer mit einem Bußgeld von bis zu 1.000 Euro zur Kasse bitten. Ähnliche Überlegungen gibt es in Thüringen. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hält ein Verbot für "angemessen".

Die Amadeu Antonio Stiftung, die sich dem Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus verschrieben hat, findet die Flagge zwar auch problematisch. Nach Einschätzung ihrer Experten wird sie gerne von Neonazis als "Ersatzflagge" für die bundesweit verbotene Reichskriegsflagge des NS-Regimes mit Hakenkreuz benutzt. Sprecherin Simone Rafael meint jedoch: "Verbote zeigen Grenzen, was gut ist, lösen aber keine Probleme."

Sie rechnet damit, dass die "rechtsalternative Szene" sich dann eine neue Flagge suchen oder einfach mit der schwarz-rot-goldenen Deutschlandfahne marschieren würde. Daher sei es wichtiger, herauszufinden: "Warum folgen die Menschen diesen wahnhaften Erzählungen, Deutschland sei besetzt und nicht souverän?" Und: "Wie holen wir die Menschen zurück, damit ein Gespräch wieder möglich ist?"

Unter der schwarz-weiß-roten Fahne sammeln sich Gegner der Demokratie

Die schwarz-weiß-rote Reichsfahne war zwischen 1871 und 1919 die Flagge des Deutschen Reichs, ab 1892 auch offizielle Nationalflagge des Kaiserreichs. Die Nationalsozialisten übernahmen die Farben ab 1933 wieder. Dazwischen - in der Zeit der Weimarer Republik - waren die Farben des Deutschen Reichs Schwarz-Rot-Gold. Unter der schwarz-weiß-roten Fahne sammelten sich zu jener Zeit die rechten Gegner der Demokratie, erklärt der Marburger Historiker Eckart Conze. Dabei habe es sich sowohl um Anhänger des autoritären Kaiserreichs als auch Verfechter eines neuen "Führerstaats" gehandelt. In deren Tradition stellten sich auch heutige Rechtsradikale, glaubt Conze.

Die Reichskriegsflagge war die Fahne der Streitkräfte des Deutschen Reiches. Es gibt sie in verschiedenen Variationen. Sie zeigt stets das Eiserne Kreuz, das wichtigste Symbol des preußischen Militärs. Ab 1935 gab es die Reichskriegsflagge außerdem mit Hakenkreuz in der Mitte. Diese Variante ist in Deutschland bundesweit verboten.

Conze, der an der Universität Marburg Neuere und Neueste Geschichte lehrt, spricht sich für eine Einschränkung des Gebrauchs der Fahnen aus. Er sagt: "Im öffentlichen Raum haben sie nichts zu suchen, weil sie für eine radikale Ablehnung und Bekämpfung unserer freiheitlichen Demokratie und ihrer Werte stehen."

Seit den 90er Jahren hat es immer wieder Diskussionen um ein Verbot vor allem der Reichskriegsflagge gegeben. Sie kann laut Verfassungsschutz in bestimmten Fällen sichergestellt werden, zum Beispiel, "wenn die Flagge Kristallisationspunkt einer konkret drohenden Gefahr ist". "Diese Praxis ließe sich sicher auf die schwarz-weiß-rote Reichsfahne ausweiten", schlägt der Historiker vor. Doch auch er weist auf die Grenzen möglicher Einschränkungen hin: "Man darf sich nichts vormachen: Rechtsradikale und rechtspopulistische Gegner unserer Demokratie werden andere Symbole finden, unter denen sie sich versammeln können."

Wenn Rechtsextreme die Reichskriegsflagge zeigten, sei dies Ausdruck einer Glorifizierung der deutschen Streitkräfte sowohl des Kaiserreichs als auch des Dritten Reiches. Die Träger verharmlosten beide Weltkriege und relativierten deutsche Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges.

Mathias Middelberg, innenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, hat kein Problem mit der Flagge an sich, findet es aber "unerträglich, wenn historische Flaggen aus der Kaiserzeit zu antidemokratischen, extremistischen Zwecken missbraucht werden". Ein generelles Verbot dürfte seiner Ansicht nach aber schwierig werden: "Da die Flaggen für sich genommen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stehen."

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) steht Gesetzesverschärfungen mit dem Ziel, das Zeigen der Flagge einzuschränken, aufgeschlossen gegenüber. Er setzt sich für eine bundesweit einheitliche Regelung ein und will das Thema bei der nächsten Innenministerkonferenz von Bund und Ländern besprechen.

Die AfD hält nichts von einem Verbot. Der Innenpolitiker und Bundestagsabgeordnete Martin Hess sieht sich durch die aktuelle Debatte zu den Fahnen in seinem Gefühl bestätigt, "dass gegen Regierungskritiker mit unnötiger Repression vorgegangen wird, während Linksextremisten das Demonstrationsrecht oftmals ungehindert für massive Gewalttaten missbrauchen."

Der FDP-Innenpolitiker Benjamin Strasser hält aus anderen Gründen wenig von Flaggen-Verboten. "Das Problem sind doch nicht die Flaggen, sondern diejenigen, die sie tragen", sagt er. Die Sicherheitsbehörden bräuchten eine bessere Analysefähigkeit, um Radikalisierung und Mobilisierung zu erkennen. Nur so könne verhindert werden, dass sich "Neonazis in Wolf-im-Schafspelz-Manier als besorgte Bürger" ausgäben und mit ihren Botschaften "ganz normale Menschen" erreichten.

Ute Vogt, innenpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, hält die jetzt schon bestehende Möglichkeit, die Fahne unter Berufung auf das Versammlungsrecht einzuziehen, für ausreichend. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus sei nur zu gewinnen "mit klarer Haltung für Menschlichkeit und Demokratie".

Bildunterschrift: Ein Mann hält eine Reichsflagge bei einem Protest gegen die Corona-Maßnahme.

_______________________________________________


Der Tagesspiegel Online, 25.09.2020:

Möglicher Kalbitz-Nachfolger / Verfassungsschutz sieht Verbindung von AfD-Mann Berndt zu Neonazi

25.09.2020 - 23.23 Uhr

Der Verein "Zukunft Heimat" soll von einem Neonazi-Netzwerk unterwandert sein. Das erfuhr der "Spiegel" aus einem Vermerk des Brandenburger Verfassungsschutzes.

Der Brandenburger AfD-Landtagsabgeordnete Christoph Berndt, der für eine Wahl zum Fraktionschef bereitsteht, hat nach Einschätzung des Verfassungsschutzes Verbindungen zu einem Neonazi. Der "Spiegel" schreibt unter Berufung auf einen 112-seitigen Vermerk der Landesbehörde, Berndt nutze sein Mandat und die Funktion bei einem islamfeindlichen Verein offensiv zur Verbreitung seiner extremistischen Agenda.

Der Landtagsabgeordnete ist Vorsitzender von "Zukunft Heimat". Der Verein organisiert Demonstrationen gegen den Zuzug von Flüchtlingen und anderen Ausländern und wird vom Verfassungsschutz Brandenburg als rechtsextremistisch eingestuft.

Der Verein wird dem "Spiegel" zufolge von Neonazis der "Spreelichter" unterwandert. Insbesondere der ehemalige Kopf der "Spreelichter" sei offensichtlich im Hintergrund für den Verein tätig und nehme Einfluss auf diesen, schreibt das Nachrichtenmagazin. Das Innenministerium hatte die "Widerstandsbewegung in Südbrandenburg", die auch als "Spreelichter" bekannt war, 2012 wegen verfassungsfeindlicher Aktivitäten verboten. Verstrickungen zwischen beiden Gruppierungen sind schon länger bekannt.

Berndt weist die Vorwürfe zurück. In einer früheren Erklärung von ihm heißt es: "Nur weil ich Menschen kenne, bin ich noch lange nicht deren Werkzeug." Der Abgeordnete verwahrte sich gegen den Vorwurf, Rechtsextremist oder Neonazi zu sein. "Nichts in meinem Auftreten und meinen Reden - auf der Straße oder im Parlament - begründet die Bewertung "gesichert rechtsextrem"."

Wahl eines Kalbitz-Nachfolgers am Dienstag noch offen

Der Brandenburger Verfassungsschutz hatte den AfD-Landesverband im Juni zu einem rechtsextremistischen Verdachtsfall erklärt. Verfassungsschutzchef Jörg Müller sagte damals, der unter neonationalsozialistischem Einfluss stehende Verein "Zukunft Heimat" sei ein Beispiel dafür, dass es bei der Brandenburger AfD ein strukturelles Zusammenwirken mit extremistischen Bestrebungen gebe.

Nach dem Rückzug des bisherigen Fraktionschefs Andreas Kalbitz ist die Spitze der Landtagsfraktion vakant. Ob ein Nachfolger am kommenden Dienstag gewählt wird, war zuletzt offen. Der AfD-Bundesvorstand hatte Kalbitz auf Grund früherer Kontakte ins rechtsextreme Milieu die Mitgliedschaft aberkannt. Ein Eil-Antrag von Kalbitz gegen den Rauswurf vor dem Landgericht Berlin war im August erfolglos.

Kurz davor hatte er sich vom Fraktionsvorsitz zurückgezogen, den er eigentlich nur bis zur Entscheidung des Gerichts ruhen lassen wollte. Hintergrund ist ein Krankenhausaufenthalt des Parlamentarischen Geschäftsführers Dennis Hohloch, der nach eigenen Angaben mit einem Milzriss in die Klinik gekommen war. Kalbitz hatte ihn zuvor im Landtag nach Angaben aus der Partei unbeabsichtigt heftig berührt. Der frühere Landeschef sprach von einem "Missgeschick". Laut "Spiegel" wird auch Hohloch in dem Vermerk des Verfassungsschutzes erwähnt - er habe Kontakt zur rechtsextremen Identitären Bewegung.

Bildunterschrift: Extremistische Agenda? Der mögliche Kalbitz-Nachfolger in Brandenburgs AfD-Fraktion, Christoph Berndt.

_______________________________________________


Jüdische Allgemeine Online, 25.09.2020:

Thüringen / "Für Überlebende von Auschwitz klingt das wie Hohn in den Ohren"

25.09.2020 - 09.45 Uhr

AfD-Politiker führt Geraer Stadtrat - Kritik von Auschwitz Komitee

Das Internationale Auschwitz Komitee hat die Wahl eines AfD-Politikers an die Spitze des Geraer Stadtrates scharf kritisiert. "Für die Menschen in Gera und für Geras Wirkung nach außen ist dies ein verheerendes Signal", erklärte der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner, am Freitag. Die Wahl des AfD-Repräsentanten Reinhard Etzrodt müsse "Überlebenden von Auschwitz wie Hohn in den Ohren klingen".

Wenn Stadtverordnete einen Vertreter der AfD zu ihrem obersten Repräsentanten wählten, sei das "ein Zusammenbruch an Glaubwürdigkeit und eine Destabilisierung der Demokratie", sagte der Exekutiv-Vizepräsident. Es sei für Überlebende des Holocausts "schlichtweg unvorstellbar".

Reaktionen

In seiner Sitzung am Donnerstagabend hatte der Geraer Stadtrat Etzrodt zum Vorsitzenden gewählt. Der Arzt im Ruhestand erhielt 23 von 40 Stimmen. Die AfD selbst verfügt nur über 12 Plätze in dem Kommunalparlament. Der Wahlausgang sorgte noch am Abend für heftige Reaktionen.

Unter anderem erhob die Linke-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow schwere Vorwürfe gegen die CDU und schrieb auf Twitter: "Wie kann eine demokratische Partei, die sie sein wollen, immer wieder Handlanger einer extrem rechten Partei sein?"

Ähnlich äußerten sich Vertreter der SPD. CDU-Landeschef Christian Hirte wies dies zurück: "Die CDU hat sich in der Fraktion klar darauf verständigt, den AfD-Kandidaten nicht zu wählen." Genau so sei dies auch erfolgt. (dpa)

_______________________________________________


Blick nach Rechts, 25.09.2020:

Weiterer Aderlass in der AfD

Von Horst Freires

Der bundesweite Erosionsprozess der AfD setzt sich fort: Nur wenige Tage nach dem Auseinanderbrechen der Fraktion im niedersächsischen Landtag ist jetzt auch der Fraktionsstatus der Partei im Kieler Landtag Geschichte.

Während der laufenden Plenarsitzung hat der AfD-Abgeordnete Frank Andreas Brodehl am heutigen Freitag am Ende seines Redebeitrags zum Thema Ganztagsschulen seinen Rückzug aus der Fraktion erklärt. Der bisherige Fraktionschef Jörg Nobis und seine Mitstreiter Volker Schnurrbusch beziehungsweise Claus Schaffer sind von dem Schritt vollkommen überrascht worden. Nun bildet man nämlich mit nur noch drei Abgeordneten keine Fraktion mehr, denn dafür sind mindestens vier Parlamentarier erforderlich. Im Dezember 2018 wurde Doris von Sayn-Wittgenstein wegen ihrer Nähe zum geschichtsrevisionistischen Verein "Gedächtnisstätte e.V.", der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, aus der schleswig-holsteinischen AfD-Fraktion ausgeschlossen.

"Verwendung von Nazi-Vokabular" beklagt

Brodehl will sein Landtagsmandat aber behalten. Der 49-Jährige hat mit sofortiger Wirkung auch seinen Parteiaustritt erklärt. Er begründet diesen mit der kontinuierlichen Entwicklung des Landesverbandes hin zu einer völkisch-nationalen Ausrichtung - getragen vom Landesvorstand und von der Mehrzahl der Kreisvorstände. Zudem beklagt er in einer persönlichen Erklärung via Facebook eine zunehmende Radikalisierung innerhalb der AfD zwischen Nord- und Ostsee. Die innerhalb der AfD bis dato als gemäßigt geltende Kieler Fraktion hat mit dem bisherigen Fraktionsgeschäftsführer Schnurrbusch allerdings laut Brodehl auch einen Vertreter einer völkischen Strömung.

Brodehl beklagt sich über den salonfähig gewordenen Sprach-Jargon innerhalb der AfD, der von keiner verantwortlichen Stelle in der Partei sanktioniert werde und nennt beispielhaft "die Verwendung von Nazi-Vokabular wie "Endsieg" oder "Krieg des Systems gegen das eigene Volk" in Mitglieder-Mails" und er prangert ebenso "die öffentliche Verächtlichmachung gewählter Bundes- und Landespolitiker durch ein Vorstandsmitglied als "Renegaten, Verräter und Agenten", die "ausgeschwitzt" werden müssten" an. Auch sei es laut Brodehl zuletzt zur "Bewerbung von NPD-Materialien durch einen Kreisverband" gekommen. Auf einer jüngsten Zusammenkunft der Kreissprecher sei, so Brodehl, der Parteiausschluss von Andreas Kalbitz als Führungsfigur des ehemaligen "Flügels" mehrheitlich scharf kritisiert worden. Der Partei-Abtrünnige spricht zudem vom Ausleben ewiggestrigen Gedankenguts in der AfD, was als "sozialer Patriotismus" getarnt werde.

Ausgeschlossene Ex-Vorsitzende kommuniziert in die Landespartei hinein

Die rechte Verortung des Landesverbandes war bereits im Vorjahr erkennbar, als Doris von Sayn-Wittgenstein trotz laufendem Ausschlussverfahrens gegen sie als Landesvorsitzende wiedergewählt wurde. Ihr endgültiger Rauswurf aus der AfD hat seither eine Vakanz im Landesvorstand zur Folge. Schon längst hätte es eigentlich Nachwahlen auf einem Landesparteitag geben sollen, doch der Termin wurde zuletzt wegen Corona immer weiter aufgeschoben. Der Vorstand verfügt seit November 2019 nach dem Rücktritt von Roland Kaden (Kreis Dithmarschen) als einer von zwei Stellvertretern nur noch über sieben Mitglieder und damit über eine laut Satzung personelle Mindestbesetzung.

Doris von Sayn-Wittgenstein nutzt als Parteiausgeschlossene unterdessen immer noch die Kommunikation in die Landespartei hinein, verschickt Statements und Briefe. Damit steuert sie ganz bewusst auch den internen Richtungsstreit in der AfD und ist sich zahlreicher Verbündeter im Landesverband gewiss. Erst am 2. Mai wurde über eine Mitglieder-Mail des Landesvorstands kommentarlos ein Schreiben Sayn-Wittgensteins an alle über 1.000 Parteimitglieder verschickt.

SPD-Politiker Stegner: "Ein guter Tag für unsere Demokratie"

Brodehl war für die AfD Sprecher im Kreisverband Ostholstein und Kopf im Landesfachausschuss Bildung. Die AfD verliert nun ihren Sitz im Ältestenrat des Kieler Landtags und muss sich auf erheblich gekürzte Zuwendungen für ihre Parlamentsarbeit einstellen. Neben Niedersachsen und Schleswig-Holstein war zuvor auch die Fraktion in der Bremer Bürgerschaft geplatzt.

Der schleswig-holsteinische SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Stegner sprach angesichts des Zerbrechens der AfD-Fraktion von einem "guten Tag für unsere Demokratie" und verwies auf die Plenardebatte im Landtag, wo kurze Zeit vor Brodehls Austrittsverkündung zum Thema Flüchtlinge debattiert wurde und "Nobis eine echte Nazi-Rede gehalten" habe, für die "nur noch die Uniform und ein Hakenkreuz gefehlt" hätten.

_______________________________________________


zurück