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Westfalen-Blatt / Zeitung für Werther , 12.01.2018 :

Ohne Zorn die Heimatstadt besucht

Zeitzeuge des Nazi-Terrors: Kurt W. Weinberg ist mit 93 Jahren in London gestorben

Werther (WB). Aus London erreicht Werther die traurige Nachricht, dass Kurt W. Weinberg am Dienstag, 9. Januar, im Kreise seiner Familie im Alter von 93 Jahren friedlich eingeschlafen ist.

Er ist vielen Wertheranern von seinen Besuchen in Werther bekannt, den Älteren auch aus der Zeit Anfang der fünfziger Jahre, als er die Zigarrenfabrik seines Vaters im Haus Werther betrieb. Grundschüler erinnern sich an seine fröhlichen und anregenden Besuche in der Grundschule im Jahr 2010 während der Ausstellung zur Reichspogromnacht.

In den vergangenen zehn Jahren hat Weinberg die Aktivitäten des Arbeitskreises "Spuren jüdischen Lebens in Werther" mit seinen Erfahrungen und Erinnerungen bereichert und dabei viele neue Freunde gewonnen. "Alle waren immer wieder davon beeindruckt, dass er ohne Zorn und gänzlich unvoreingenommen mit den heutigen Generationen zusammenarbeiten konnte, auch wenn seine Lebensgeschichte unter der nationalsozialistischen Diktatur ihm zu einer anderen Einstellung Anlass gegeben hätte", schreibt Ute Dausendschön-Gay vom Arbeitskreis.

Kurt Wilhelm Weinberg kam 1924 als zweiter Sohn des Zigarrenfabrikanten Julius Weinberg und dessen Ehefrau Elsa im Haus Werther, dem "Schloß", zur Welt. Sein Bruder Bernd wurde 1922 geboren, 1928 kamen seine Zwillingsschwestern Eva und Resi dazu. Kurt besuchte die Schulen in Werther, bevor er 1936, wie sein Bruder Bernd, nach Frankfurt zur jüdischen Schule gehen musste, da er am Besuch einer öffentlichen Schule durch die Anwendung der Rassengesetze gehindert wurde.

Wie seine Geschwister konnte er im Mai 1939 Deutschland - getrennt von Eltern und Geschwistern - mit einem Kindertransport nach England verlassen. Er erlebte dort große Hilfsbereitschaft und besuchte eine englische Schule, an der er nach dem Krieg seinen Abschluss erwarb. Nach seiner Tätigkeit als Radiotechniker in London lebte er bis 1954 für einige Jahre teilweise wieder in Werther, wo er das väterliche Geschäft betrieb, das vor dem Krieg zwangsverkauft werden musste.

Nach dem Verkauf des väterlichen Geschäftes machte sich Kurt W. Weinberg als Zigarrenhändler in London selbstständig, wo er mit seiner Frau und den vier Töchtern seine Eltern Julius und Elsa Weinberg bis zu ihrem Tode betreute. Kurt und Charlotte Weinberg gründeten 1967 die Stiftung "Nansen Village", die ausländischen Studierenden mit ihren Familien bezahlbaren Wohnraum bot und einen sozialen Rahmen für ihren Aufenthalt schaffte. Die Motivation für ihr Lebenswerk waren die guten Erfahrungen, die Kurt nach seiner erzwungenen Emigration nach England machen konnte.

Zu seinem 90. Geburtstag im Jahr 2014 eröffnete der Arbeitskreis "Spuren jüdischen Lebens in Werther" ihm zu Ehren im Rathaus die Ausstellung "Das Lebenswerk Nansen-Village". Auf den Plakaten mit teils bislang unveröffentlichten Fotos zeichnete diese das Lebenswerk Weinbergs nach. Wegen ihres hohen Alters war es dem Ehepaar nicht mehr möglich, nach Werther zu kommen. Die Präsentation des Arbeitskreises zur Reichspogromnacht in Werther hatte Weinberg 2010 noch persönlich mit eröffnet.

Bildunterschrift: Mit Kurt Weinberg (rechts) begrüßte Bürgermeisterin Marion Weike vor acht Jahren Fred Alexander (links) einen zweiten Zeitzeugen der
Juden-Verfolgung in Werther.

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Westfalen-Blatt / Zeitung für Werther, 21.09.2010:

Nach 72 Jahren wieder in einer Runde

Wertheraner und jüdische Emigranten berichten, wie sie die Reichspogromnacht erlebten

Von Eische Loose

Werther (WB). Als Kinder haben sie in den selben Straßen gespielt, sind zur selben Schule gegangen. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich ihre Welt von heute auf morgen. 72 Jahre nach der Reichspogromnacht treffen sie sich wieder: Wertheraner, die ihr Leben hier verbrachten und die, die ihre Heimat als Kinder verlassen mussten, weil sie Juden sind.

Am Mikrofon und im vorab aufgezeichneten Interview schildern acht Wertheraner Zeitzeugen, wie sie den wachsenden Antisemitismus in Werther und die Reichspogromnacht am 9. November 1938 erlebten. Die 240 Besucher im evangelischen Gemeindehaus waren von den Erzählungen tief betroffen und nachhaltig beeindruckt.

"Wie können wir dieses Wissen an die jüngere Generation vermitteln?" Diese Frage stellten gleich mehrere Zuschauer nach den beeindruckenden Berichten der Zeitzeugen über die damaligen Geschehnisse. Eine Frage, die, wiewohl berechtigt, ein wenig rhetorisch erschien. Hatte doch niemand unter 30 Jahren zu dieser Veranstaltung am Sonntag in den übervollen Gemeindesaal gefunden. Im Gegenteil, mindestens ein Drittel der Besucher hätte ebenso gut wie der aus den USA angereiste Kurt-Wilhelm Weinberg, wie Hanna Wibbing, Margret Janssen, Anita Elvira Tullis, Rolf Schwarze, Heinrich Ellerbrake, Reinhard Hoppe und Paul-Heinz Wöhrmann in der ersten Reihe der Zeitzeugen sitzen können. Da beruhigt es nur, zu wissen, dass das Ehepaar Weinberg und Fred Alexander in dieser Woche noch mehrere Schulklassen in Werther und Borgholzhausen besuchen werden, um dort von ihren Erlebnissen zu berichten.

Vielfach begleitete zustimmendes Nicken die Erzählungen darüber, wie gut integriert und geachtet die Familien Weinberg und Sachs in Werther gewesen seien. Wilhelm Ellerbrake fügte sogar einen längeren Bericht über die Umstände der Verhaftungen an. Immer wieder wurde dabei die relative Verständnislosigkeit und scheinbare Hilflosigkeit angesichts der damaligen politischen Verhältnisse deutlich.

So sprach beispielsweise Rolf Schwarze darüber, mit welch naiver Verblüffung sein jüdischer Schulfreund Bernd Weinberg nicht verstand, warum er nicht beim Deutschen Jungvolk mitmachen durfte. Schließlich war er zuvor ein Hitlerjunge gewesen.

Auf ähnliche Weise habe er damals nicht begriffen, warum er sich als Neunjähriger eine Tracht Prügel einhandelte, als er seinem Vater erzählte, wie er mit gleichaltrigen Jungen im verlassenen "Judenhaus" gewesen sei, um dort Möbel und Fenster zu zerschlagen. "Wir hielten uns doch für Helden", sagte Schwarze.

Wilhelm Ellerbrake hingegen bekannte, lange nicht verstanden zu haben, warum Alfred Weinberg sich hartnäckig weigerte, auszuwandern. "Dann ging ich später mit meinem Vater in das verlassene Haus und fand auf dem frisch gemachten Bett die Uniform aus dem Ersten Weltkrieg", erzählte er und fügt deutlich erschüttert hinzu: "Da begriff ich: Alfred war zu sehr Deutscher. Er hatte uns Deutschen vertraut."

Andere Zeitzeugen erinnerten sich, dass ihre Formen des Widerstandes aus Angst subtil blieben. Für Margret Janssen, die damals schon in Bielefeld wohnte, bestand er beispielsweise schlicht darin, nicht zum "Zugucken" zur brennenden Synagoge zu fahren.

Bei so viel erfreulicher Offenheit war es jedoch schade, dass die einzige konkrete Frage unbeantwortet blieb: Scheinbar konnte oder wollte niemand über die Art und Weise sprechen, wie das damalige System funktionieren konnte, ob es Bespitzelungen gab oder Blockwarte, wie in Großstädten. Schade, läge doch gerade hier eine Erklärung, warum trotz des allgemeinen offensichtlichen Unrechtsverständnisses häufig nichts geschah.

Wer die Aufführung der Zeitzeugen-Interviews verpasst hat, kann diese in einer Endlos-Schleife auch in der Wanderausstellung im Haus Werther ansehen.

Die Ausstellung

Die Wanderausstellung "9.11.1938 - Reichspogromnacht in OWL" und die lokale Ergänzungsausstellung "Spuren jüdischen Lebens in Werther" sind bis Sonntag, 10. Oktober, im Haus Werther zu sehen. Öffnungszeiten sind dienstags bis freitags 15 bis 18 Uhr, samstags 14 bis 16 Uhr und sonntags 11 bis 13 Uhr.

www.stadt-werther.de

Bildunterschrift: Erfreuliche Offenheit (von links): Rolf Schwarze, Anita Elvira Tullis, Hanna Wibbing, Margret Janssen, Paul-Heinz Wöhrmann, Kurt-Wilhelm Weinberg, Fred Alexander und Heinrich Ellerbrake berichteten aus erster Hand von der Zeit vor und um den 9. November 1938.

Bildunterschrift: Bericht aus zweiter Reihe: Wilhelm Ellerbrake (stehend) berichtete als weiterer Zeitzeuge.


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