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Neue Westfälische , 13.03.2006 :

Auf den Spuren des "Stalag 326" / Der Bielefelder Historiker Carsten Seichter hat jahrelang über das Kriegsgefangenenlager in Stukenbrock geforscht

Von Hubertus Gärtner

Bielefeld. Das Gedenken darf nicht still bleiben. Es muss immer wieder Menschen geben, die ihre Stimme erheben und die ihre wissenschaftliche Kraft in die Erforschung der Gräuel des Faschismus investieren. Der Bielefelder Historiker Carsten Seichter (41) gehört zu ihnen. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenenlager in Stukenbrock.

Nun legt Seichter ein neues Buch vor. Es heißt "Nach der Befreiung", erscheint im PapyRossa Verlag und thematisiert vor allem die Nachkriegs- und Rezeptionsgeschichte des so genannten "Stalag 326". Dieses Lager in der Eselheide bei Stukenbrock war "temporär das größte Kriegsgefangenenlager im Dritten Reich", betont Seichter. Etwa 300.000 Menschen wurden hier in der Zeit von 1941 bis 1945 fürchterlich drangsaliert. Viele von ihnen überlebten die Zwangsarbeit, systematische Aushungerung sowie entsprechende Folgekrankheiten nicht.

Genaue Angaben über die Zahl der Toten gibt es nicht. Seichter schätzt ihre Zahl auf mindestens 60.000, andere Quellen sprechen von 15.000 Opfern. Unmittelbar nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatten die Nazis die ersten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion in Viehwaggons nach Hövelhof transportiert. Von dort wurden sie zu Fuß zum "Stalag 326" getrieben, wo sie in Erdlöchern unter freiem Himmel hausen mussten. Das "Stalag 326" war einerseits Durchgangslager für die Stahlindustrie und den Ruhrbergbau, aber viele sowjetische Kriegsgefangene wurden von hier aus auch zur Zwangsarbeit in Betriebe und Bauernhöfe der Region gebracht. Als am 2. April 1945 amerikanische Truppen das Lager befreiten, fanden sie noch 8.610 abgemagerte und zum Teil schwer erkrankte Gefangene vor, die nach Augenzeugenberichten "wie Tiere im Dreck gehalten" worden waren.

"Die Nachbefreiungszeit weist immer noch einige Lücken auf"

Der Bielefelder Historiker Carsten Seichter hat nun zahlreiche, bislang noch unbekannte Quellen gesichtet. Seichter suchte beispielsweise im Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf, im Bundesarchiv in Koblenz sowie im Public Record Office in London nach Spuren, die das Bild vom "Stalag 326" vervollständigen können. "Vor allem die unmittelbare Nachbefreiungszeit weist immer noch einige Lücken auf", sagt Seichter. Bekannt ist, dass das "Stalag 326" vom 1. Oktober 1946 bis zum 31. Dezember 1947 ein Internierungslager für "Hauptbeschuldigte bis minder Belastete" des Nazi-Regimes wurde. 8.885 Männer seien in dieser Zeit interniert gewesen; sie hätten "allesamt ihre Unschuld beteuert", sagt Seichter.

Bereits im Jahr 1988 hatten die beiden Autoren Volker Pieper und Michael Siedenhans ein Buch mit dem Titel "Die Vergessenen von Stukenbrock" über das "Stalag 326" geschrieben. Seichter schlägt nun ein noch völlig unbekanntes Kapitel auf, indem er auch die Rezeptionsgeschichte untersucht. Etwa in der Mitte der sechziger Jahre bildete sich in Lippe aus einem Kreis politisch engagierter evangelischer Christen eine Initiative, die sich die Erinnerung an das sowjetische Kriegsgefangenenlager in Stukenbrock zum Ziel gesetzt hatte. Gemeinsam mit anderen hatten Personen aus dieser Initiative zum 1. September 1967 den ersten "Antikriegstag" in Stukenbrock angemeldet. In Geheimdienst-Akten, die bislang unter Verschluss waren, entdeckte Seichter, dass sowohl die Organisatoren als auch die Veranstaltung vom Verfassungsschutz "umfassend observiert" worden sind. Die Akten "lesen sich, wie in einem Spionageroman", sagt Seichter. Die Erinnerung an das "Stalag 326" habe die regionale Politik über Jahre hinweg "polarisiert". Seit 1970 heißt die Initiative offiziell "Blumen für Stukenbrock". Ihre Idee ist es, jedes Jahr zum Antikriegstag auf den Gräbern in Stukenbrock eine Rose niederzulegen.


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