Mindener Tageblatt ,
28.01.2006 :
(Minden) Einblicke in die Arbeitswelt der NS-Zeit / Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalen veröffentlicht Beitrag am Beispiel der Melitta-Werke
Minden (mt). Für "Drückeberger" war kein Platz, die Löhne waren ab 1933 auf dem Niveau von 1929 eingefroren und wer spurte, durfte an einer Kraft-durch-Freude-Reise teilnehmen: Einblicke in die NS-Arbeitswelt liefert Kristan Kossack mit seinem Beitrag "Betriebsalltag und Unternehmensentwicklung eines NS-Musterbetriebs im Spiegel seiner Werkzeitung" – gemeint sind die Melitta-Werke.
Von Stefan Koch
Eine bis dahin wohl einzigartige Quellensammlung – andernorts bereits mehrfach der Vernichtung anheim gefallen – lag Kossack bei seiner Ausarbeitung vor, die Dr. Rainer Decker, Vorstandsmitglied des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens (Paderborn) für die Veröffentlichung in der Westfälischen Zeitschrift redigierte. Dem mehr als 20 Seiten umfassenden Beitrag stand im Original aus Privatbesitz die Melitta-Werkzeitung in Ausgaben von Dezember 1936 bis 1938 zur Verfügung. Weitere Recherchen führten in das Mindener Kommunalarchiv und das Stadtarchiv Bielefeld. Zugrunde lagen zudem historische Presseveröffentlichungen und Melitta-Betriebsordnungen aus den Jahren 1938 und 1941. So entsteht das Bild eines nationalsozialistischen Betriebs der Vorkriegszeit.
Dessen Wesen wird in der Einstimmung auf die Kriegswirtschaft und in der zunehmenden Gleichschaltung der Bevölkerung begründet – die daraus resultierenden strukturellen Veränderungen in den Melitta-Werken zeichnen die Veröffentlichungen in der Werkzeitung minutiös nach. So kann Kossack dank seiner Vorlage Schlaglichter auf den Sozialcharakter der NS-Zeit werfen.
Mit vergleichsweise niedrigen Grundlöhnen bei gleichzeitiger Bonifizierung des Wohlverhaltens – Gewinnbeteiligung und betriebliche Altersversorgung setzen hier den größten Anreiz – wird Gehorsam erzeugt. Da offenbar auch Abschreckung Not tut, berichtet die Melitta-Werkzeitung von Geldstrafen, Verwarnung und anderen arbeitsrechtlichen Maßnahmen, die sich bis in die "Waschräume" und "Toiletten" erstrecken. "Meckerei" und "Wühlarbeit" sind zu unterlassen.
Wer sich gleichschalten lässt, nicht "beim Juden" kauft (eine Liste zu meidender Adressen des heimischen Einzelhandels ist in der Werkzeitung abgedruckt) hat nichts zu befürchten. Darüber hinaus installieren die Nazis so genannte "Werkscharen", die als formelle Gesinnungspolizei unter der Belegschaft für die gewünschte Weltanschauung sorgt. So berichtet die Werkzeitung den Umständen getreu vom Ordnungsdienst in "kameradschaftlicher" Form.
"Schönheit der Arbeit"
Ganz im Sinne totalitärer Körperkultur und Ästetik der Machthaber liegen die zahlreichen sportlichen und wehrertüchtigenden Angebote, über die die Werkzeitung berichtet. Zudem grassiert auf Betreiben der Geschäftsleitung das Thema "Schönheit der Arbeit" im Betrieb. Dahinter stecken verbesserte Arbeitsbedingungen wie helle Räume, große Fenster und regelmäßige Raumentlüftung – versehen mit sozialer Kontrolle. Die Geschäftsleitung drückt in der Werkzeitung ihren Wunsch aus, dass der Betrieb mindestens so zu erscheinen habe, "wie ein gepflegter Haushalt".
Bei all dem kann Kossack kein eigenes Verdienst der lokalen Verantwortlichen um soziale Fortschritte erkennen und formuliert im Schlusswort: "Aus den untersuchten Werkzeitungen geht hervor, dass die meisten Sozialleistungen der Firma Melitta durch die neue NS-Sozialpolitik bzw. den Musterbetriebswettbewerb angestoßen wurden."
1936 hatte die Deutsche Arbeitsfront – der NS-Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber – den Wettbewerb um die "Goldene Fahne für nationalsozialistische Musterbetriebe" ins Leben gerufen. Erst in den Kriegsjahren 1941, 1942, 1943 konnten die Melittaner die Fahne am Mindener Bahnhof in Empfang nehmen. Das schon frühe Ringen der Geschäftsleitung um die braune Trophäe erklärt Kossack mit der Produktpalette. "Als Produzent von Konsumgütern musste Melitta versuchen, Nachteile bei der Reccourcenzuteilung durch politisches Engagement wettzumachen."
Kristan Kossack, Betriebsalltag und Unternehmensentwicklung eines NS-Musterbetriebs im Spiegel seiner Werkzeitung, in: Westfälische Zeitschrift, Paderborn, 155. Band 2005, S. 352-371, hg. v. Verein für Geschichte und Alterumskunde Westfalens. Die Abhandlung ist im Kommunalarchiv Minden einsehbar.
28./29.01.2006
mt@mt-online.de
|