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Der Patriot - Lippstädter Zeitung , 01.12.2005 :

(Lippstadt) Der falsche Bruder / Auch eine hervorragende Ellen Schwiers konnte die Schwächen des Stücks "Martha Jellneck" nicht völlig ausgleichen

Lippstadt. Vor einigen Jahren sorgte der Fall des ehemaligen SS-Hauptsturmführers Hans Ernst Schneider für einen handfesten Skandal. Denn nach dem Krieg hatte das ehemalige Mitglied der verbrecherischen SS-Organisation "Ahnenerbe" unter dem Namen Hans Schwerte als Literaturwissenschaftler und späterer Rektor der Technischen Hochschule Aachen Karriere gemacht. Das Stück "Martha Jellneck" mit dem "das ensemble" von Ellen Schwiers am Dienstag in Lippstadt zu Gast war, erzählt eine ähnliche Geschichte. Beate Langmaack hat für die von Kai Wessel verfilmte Vorlage 1988 den "Europäischen Drehbuchpreis" erhalten. Das ist, zumindest angesichts der Bühnenfassung von Knut Koch, gelinde gesagt erstaunlich. Denn so spannend und immer noch aktuell das Thema ist, so sehr hapert es an der Umsetzung.

Die Geschichte kommt nur langsam in Gang, was durchaus konsequent ist, schließlich passiert auch im Leben der 72-jährigen Martha Jellneck nicht viel. Der Prolog zeigt in einer filmisch anmutenden Montage kurzer Szenen den ereignislosen Alltag der alten Dame, die durch ihre Arthrose an die Wohnung gefesselt ist.

Das Ticken der Standuhr signalisiert sowohl die Monotonie als auch das erbarmungslose Voranschreiten der Zeit. Schrilles Klingeln markiert die einzige Abwechslung, wenn der Zivi Thomas das Essen bringt oder die Nachbarin Hanne kommt, um Einkäufe zu erledigen oder den Hund auszuführen.

Alles ändert sich, als Martha durch die Broschüre ihres Menüdienstes einem untergetauchten Kriegsverbrecher auf die Spur kommt, der offenbar die Identität ihres 1944 in Frankreich gefallenen (oder ermordeten?) Halbbruders Franz Laub angenommen hat. Die gebrechliche Frau entwickelt plötzlich ungeahnte Energie, um das Geheimnis aufzuklären.

Hauptdarstellerin und Regisseurin Ellen Schwiers brilliert in der Rolle der Martha Jellneck. Sie verleiht der zwischen tiefster Verzweiflung und eiserner Entschlossenheit hin- und hergerissenen alten Frau durch ihr einfühlsames und nuancenreiches Spiel Größe und Würde.

Das Stück kann da leider nicht mithalten. Den Autoren gelingt es nicht, halbwegs tragfähige Spannungsbögen zu entwickeln. Das Geheimnis um den falschen Franz Laub ist (zumindest in groben Zügen) vergleichsweise schnell gelöst, doch bis es zur Konfrontation kommt, vergehen endlose Szenen, in denen die falschfreundliche Hanne versucht, "Oma Jellneck" die Bude abzuluchsen, Zivi Thomas sich in schönster Naivität ausmalt, wie er im Zweiten Weltkrieg Widerstand geleistet hätte, und der apathische Hund Afra durch die Wohnung getragen wird.

Der grundgute Zivi und vor allem das egozentrische Modepüppchen Hanne sind erbärmlich schlecht geschriebene Klischeefiguren, die in jeder Boulevardkomödie besser aufgehoben wären — und entsprechend etwas zu laut und holzschnittartig von Markus Maria Winkler und Tatjana Pokorny interpretiert werden.

Spannender wird es erst im zweiten Teil, wenn Martha endlich auf den falschen Franz Laub trifft. Co-Regisseur Holger Schwiers hat einen kurzen, aber sehr markanten Auftritt als Nazi-Mörder, der heute den jovialen Umweltfreund gibt. Nach seiner Enttarnung zeigt er schnell sein wahres Gesicht. Wenn der ehemalige SS-Hauptmann die verängstigte Dame beim Kaffee höhnisch fragt: "Auch noch ein Schlückchen? Es wird Ihnen gut tun. Sie sehen blass aus.", läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Am Ende entgeht er seinem Schicksal jedoch nicht: Dass er es ist, und nicht der arme Hund Afra (Mai Tai), der schließlich die Einschläferungsmedizin verabreicht bekommt, ist zumindest für den Zuschauer nicht mehr überraschend.

Nachdem Martha das Essen des Mörders vergiftet hat, raucht sie mit Tomas eine Zigarette. Die alte Dame bekommt einen Hustenanfall. Ihr Lachen geht in hemmungsloses Schluchzen über. Ein bewegender Schluss — dem leider noch ein völlig unnötiger Epilog folgt.

Am Ende bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Ein (zumindest in den Hauptrollen) hervorragend gespieltes Stück, das jedoch das Potenzial seines Themas verschenkt.


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