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Löhner Nachrichten / Neue Westfälische , 24.11.2005 :

(Löhne) Hunger in Ostpreußen / Günter Berg und seine Familie wurden aus Königsberg vertrieben

Von Dirk Windmöller

Löhne. Die Nachkriegszeit in Löhne hat für Günter Berg eine ganz besondere Bedeutung. Für ihn war es der Beginn eines neuen Lebens ohne Hunger und Terror: Der damals Zwölfjährige war mit seiner Familie nach Kriegsende aus Königsberg geflohen.

"Endlich haben wir Ruhe, habe ich gedacht", erinnert sich der 71-Jährige. Traumatisiert von Krieg und Flucht war Berg 1948 mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in Löhne gelandet.

Zu lange war Bergs Mutter mit ihren Kindern in Königsberg geblieben. "Wir haben den richtigen Zeitpunkt verpasst", sagt Berg. Anfang 1945, als Königsberg schon in Schutt und Asche lag, wurden sie aufs Land evakuiert. Unmittelbar darauf gerieten die Bergs in russische Gefangenschaft.

"Wir wurden Tag für Tag von russischen Reitern hinter der Front hergetrieben. In einer Nacht begannen die Vergewaltigungen. Manche Frau wurde zehnmal geholt", erinnert sich Berg mit Tränen in den Augen. Seine Mutter sei verschont worden, weil sie mit drei kleinen Kindern unterwegs war.

Menschenunwürdig sei die Versorgung mit Lebensmitteln gewesen. "Wir mussten Kartoffelschalen, Katzen und andere Tiere essen. Mein Großvater ist trotzdem verhungert. Seinen Gesichtsausdruck auf dem Totenbett werde ich nie vergessen."

Schließlich wurden die Bergs und viele andere Deutsche in einen Zug verladen und Richtung Westen gebracht. "In jedem Waggon gab es Tote, die Menschen schrien wie irre und sangen fromme Lieder. Als der Zug in Warschau entriegelt wurde, rannten die extrem durstigen Menschen zur Lok, die mit Wasser befüllt wurde. Es brach Panik aus. Viele Menschen wurden tot getreten." Der Transport endete bei Luckenwalde auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone. Dort verbesserte sich die Lage der Flüchtlinge.

"Mein Vater war in englische Kriegsgefangenschaft gekommen und in einer Zigarrenfabrik in Kirchlengern untergebracht." Lange habe er nicht gewusst, ob seine Familie noch am Leben war. Als sein Vater erfuhr, dass die Familie lebte, habe er sich nach Luckenwalde aufgemacht. "Er bestach einen russischen Posten und wir wurden zur Zonengrenze gebracht. Wir wurden an einem Schlagbaum abgeladen und mussten schnell Richtung Westen laufen", sagt Berg.

Der Vater brachte seine Familie nach Ostscheid. Dort lebten schon seit einigen Monaten Oma, Tante und drei Cousins. "Wir alle hausten zunächst in zwei kleinen Zimmern in Westscheid. Dann wurde uns von der Stadt Löhne eine Unterkunft zugewiesen. Es war ein Schaf- oder Ziegenstall. Die Küche war ein schmaler Raum mit Handpumpe, der auch von der Hausbesitzerin genutzt wurde."

Mit dieser Frau habe es ständig Streit gegeben. Sie habe sich bereits gegen den Einzug mit Händen und Füßen gewehrt. "Bei jeder Gelegenheit ging die Frau auf meine Mutter mit einem Messer oder einem Stock los, wir Kinder haben oft Schlimmeres verhindern können, indem wir auf sie einschlugen oder um Hilfe schrien", sagt Berg. Zweimal sie die Hauswirtin zu Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt worden. Sehr hilfsbereit hätten sich in diesen Situationen die Nachbarn verhalten. "Die haben uns immer unterstützt."

Nach diesem schwierigen Start in Löhne hörten die Bergs, dass in der alten Ostscheider Schule eine Wohnung frei wurde. "Obwohl wir es nicht durften, sind wir bei Nacht und Nebel dort eingezogen und ließen uns nicht mehr vertreiben", sagt Berg.

Rund 7.000 Flüchtlinge hatte der Zweite Weltkrieg nach Löhne gebracht. "Es hat lange gedauert, bis wir hier richtig integriert waren. Anfangs waren wir eine Gruppe für uns", sagt Berg. Bergs Frau Franziska, die aus Rumänien vertrieben wurde, hat Verständnis dafür. "Das war natürlich auch nicht einfach für die Einheimischen, für die Vertriebenen Platz zu machen."

Als Interessenvertretung habe sich in Löhne der Stadtverband des Bundes der Vertriebenen 1949 gegründet. Berg hat diesen Verband als Nachfolger seines Vaters 23 Jahre lang geleitet. Jetzt löst er sich wegen rückläufiger Mitgliederzahlen auf.

Längst sind die Eingliederungsprobleme der ersten Jahre Geschichte. "Für mich gab es nie große Schwierigkeiten. Ob im Sportverein oder im Beruf", sagt Berg, der bei Vahrenhorst Kfz-Mechaniker gelernt hat. Später war er als Kraftfahrer und Fuhrparkleiter tätig.

Königsberg hat Berg bisher nicht wieder besucht. "Das habe ich mir für die nächsten zwei Jahre aber fest vorgenommen."

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lok-red.loehne@neue-westfaelische.de

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