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Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische , 24.11.2005 :

(Paderborn) "Oft waren wir schockiert" / Zeitzeugen-Projekt ehemaliger Theodorianer liegt als Buch vor

Von Kathrin Schamoni

Paderborn. Sie sind 19 und 20 Jahre jung. Gerade das Abi in der Tasche, eingetaucht ins Studenten-Leben. Und Autoren sind sie auch schon: Dominik Gehling, Volker Gehling, Jonas Hofmann, Holger Nickel und Christopher Rüther haben ein Stück Geschichte ihrer Heimatstadt aufgearbeitet und veröffentlicht.

Es geht um die Zeit des Nationalsozialismus. Die ehemaligen Schüler des Theodorianums haben Paderborner Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen, Gefühlen und Erinnerungen der Jahre 1933 bis 1948 befragt. Herausgekommen ist ein Buch, das "die Atmosphäre der Jahre einfängt, die persönliche Geschichte der Menschen". Die Vorstellung des Werkes fand vor großem Publikum im Rathaussaal statt.

Vor über fünf Jahren wurde die Idee geboren. Jonas Hofmann nahm an einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Wewelsburg-Niederhagen teil. Durch die Erzählungen ehemaliger Häftlinge entstand der Wunsch, ein Buch zu veröffentlichen, in dem Paderborner Zeitzeugen zu Wort kommen – "vor allem aus dem Grund, weil es schon in wenigen Jahren so gut wie keine Zeitzeugen mehr geben wird", sagt der 19-Jährige. "Bemerkenswert ist, dass das kein vorgegebenes Projekt der Schule war, sondern die Jungs in Eigeninitiative auf Spurensuche gingen", so Rolf-Dieter Müller, der Chef des Stadtarchivs.

22 Zeitzeugen – im Alter zwischen 70 und 98 Jahren – haben die Jungautoren befragt, die meisten von ihnen sind in Paderborn geboren, alle stehen in irgendeiner Beziehung zur Stadt. Elf der Interview-Partner waren bei der Präsentation anwesend. Jonas Hofmann stellte sie alle namentlich vor, begrüßte jeden persönlich mit Handschlag.

"Oft waren wir schockiert und betroffen von den Geschichten. Manchmal haben wir mit den Leuten auch herzlich gelacht", erzählt Volker Gehling. "Sie waren schließlich Jugendliche damals – so wie wir heute." Freundschaftlich klopfte Altbürgermeister Willi Lüke den Jungs auf die Schulter. Er ist einer der Zeitzeugen, der über Familie, Schule, Freizeit – das Leben vor, während und nach dem Krieg im Buch Auskunft gibt.

Vier Zeitzeugen sind Juden, ihnen ist ein besonderes Kapitel gewidmet. Zum Beispiel dem 95-jährigen Walter Steinitz, der heute in Israel lebt. Als er seinen drei Jahre älteren Bruder Kurt 2001 in Paderborn besuchte, nutzten die jungen Autoren ihre Chance für ein Interview. Kurt und Walter Steinitz waren in der NS-Zeit Insassen des Arbeitslagers am Grünen Weg, bevor sie ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden.

"Alle der Zeitzeugen sind Opfer – allein durch ihre innere Distanz zum Nationalsozialismus", stellt Rolf-Dieter Müller heraus. Eine Tätergruppe haben die fünf ehemaligen Theodorianer nicht befragt. Müller: "Es ist nicht einfach, Menschen zu finden, die sich bekennen."

Die größte Arbeit sei die Aufarbeitung der Interviews und deren Einordnung in chronologische Abschnitte gewesen. Kommentiert haben die Autoren nichts. "Anfangs war ich etwas skeptisch", gibt Michael Werner vom herausgebenden Paderborner Schöningh-Verlag zu, "denn wie zuverlässig sind Erinnerungen?" Doch nach ersten Gesprächen mit den Jungs sei er schnell vom Projekt überzeugt gewesen – davon, dass es nicht um historische Fakten, sondern um menschliche Schicksale ging.

Doris Frintrop-Bechthold, Direktorin des Theodorianum, bekundete gegenüber ihren ehemaligen Schülern Freude, Dankbarkeit und Stolz.

Nebenbei: Dominik Gehling, Volker Gehling, Jonas Hofmann, Holger Nickel und Christopher Rüther sind mittlerweile alle Studenten, in Fächern von Medizin bis Maschinenbau, in Städten von Jena bis München. In Paderborn ist keiner geblieben. Und Geschichte studieren sie auch nicht, wie man hätte vermuten können.

" ... das müssen Sie mir alles aufschreiben" – Paderborner Zeitzeugen berichten 1933 - 1948, Schöningh-Verlag 2005, 16,90 Euro.


lok-red.paderborn@neue-westfaelische.de

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