Lippische Landes-Zeitung ,
23.11.2005 :
Ein Leben im Ausnahmezustand / Bad Salzuflen in den Nachkriegsjahren 1945 bis 1949 - Stadtarchivar Franz Meyer berichtet
Von Hartmut Salzmann
Bad Salzuflen. Trümmerfrauen - es gab sie in Berlin, in Hamburg, auch in Bielefeld. Aber nicht in Bad Salzuflen. Wenig war wiederaufzubauen, weil alliierte Bomber nur vereinzelt Häuser zerstört hatten. Dennoch: Das Leben im Bad Salzuflen der Jahre 1945 bis 1949 war hart. Hunger und Wohnungsnot beherrschten den Alltag. Gestern referierte Stadtarchivar Franz Meyer in der Gelben Schule darüber.
Bewusst sei Bad Salzuflen verschont worden. "Die Alliierten brauchten intakte Städte, um eine Militärregierung zu installieren." Dass einige wenige Gebäude in Schutt und Asche gelegt wurden, sei durch "Notabwürfe" zu erklären. Meyer: "Flugzeuge, die selbst von FLAKs (Flugabwehrkanonen, Anm. d. Red.) getroffen waren, warfen die Bomben ab, um halbwegs sicher zu landen."
Die Besetzung durch die Amerikaner am 5. April 1945 sei "wenig spektakulär" verlaufen. "Without firing a shot" - "ohne einen Schuss abzugeben", notierten die US-Befehlshaber. Mitte Mai wurden die Amerikaner durch die Briten abgelöst - Deutschland war in Besatzungszonen unterteilt worden. Und das heutige NRW fiel ins Hoheitsgebiet der britischen Streitkräfte.
"Bis Kriegsende lebte man in Bad Salzuflen relativ gut. Als die Briten das Kommando übernahmen, bekam die Bevölkerung die Nachwirkungen des NS-Regimes zu spüren", so Meyer. Die britischen Streitkräfte ließen 300 Häuser räumen, um sie als Dienststellen und Wohnstätten zu nutzen. Für die heimische Bevölkerung begann ein "Leben im Ausnahmezustand". Es herrschte enorme Wohnungsnot. Die Zwangsräumungen und der gleichzeitige Zustrom an Vertriebenen führte dazu, dass zwischen Anfang 1945 und Ende 1946 zusätzlicher Wohnraum für 8.000 bis 9.000 Menschen geschaffen werden musste. "Eine schier unlösbare Aufgabe", urteilt Meyer. Schließlich war die Infrastruktur völlig zusammengebrochen.
Nicht nur Wohnraum war knapp, Holz und Kohle ebenso. "Die Lebensmittelversorgung war mehr als bescheiden", erklärt Meyer. Gut 1.000 Kilokalorien enthielten die Erwachsenen-Mahlzeiten dieser Tage. "Es wurde wirklich gehungert."
Die hygienischen Zustände bezeichnet der Historiker als "katastrophal". Ansteckende Krankheiten breiteten sich aus. Die Besatzer gaben sich kompromisslos, waren nicht bereit, das Freibad (heute Bega-Bad) zum Waschen freizugeben. Sterbefälle nahmen zu, die Rate der Selbsttötungen stieg exorbitant. Ganze Stadtteile sperrten die Briten ab und umzäunten sie mit Stacheldraht. "Es gab Checkpoints in Salzuflen."
Zwei Jahre dauerte das "Leben im Ausnahmezustand". Als sich die Beziehungen zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion abkühlten und der Kalte Krieg die weltpolitische Bühne vereiste, taute das frostige Verhältnis zwischen Briten und Salzufler Bevölkerung auf. Erstes Anzeichen dafür: Teile des Bades wurden im Mai 1947 freigegeben.
Wie gingen die Alliierten mit aktiven Nazis um? 1.000 Mitglieder der "Nationalsozialistischen Arbeiter-Partei" (NSDAP) lebten zum Zeitpunkt der Kapitulation in Bad Salzuflen - darunter gut 80 bis 100 Funktionäre. Viele wurden verhaftet. Andere arrangierten sich mit den neuen Machthabern. Meyer nennt das Beispiel Hans Breimann, seit 1928 Bürgermeister und Mitglied der NSDAP. Er habe zwar dafür gesorgt, dass auf Panzersperren verzichtet wurde und die Alliierten Salzuflen kampflos einnehmen konnten. "Es war aber auch seine Polizei, die die organisatorischen Voraussetzungen für die Deportation von 64 jüdischen Bürgern geschaffen hatte."
Trotzdem: Die Alliierten seien auf eine funktionierende Verwaltung angewiesen gewesen. Daher ließen sie Breimann noch bis August 1945 im Amt. Er musste dann zwar den Chefsessel räumen, wurde aber mit einem anderen Posten im Rathaus versorgt.
Ab 1947 bezog Breimann die volle Pension und wohnte bis 1952 in seiner Dienstwohnung. "Ein Opportunist, wie er im Buche steht", urteilt Meyer.
Jüdisches Leben wurde in Bad Salzuflen durch die Deportationen fast vollständig ausgelöscht. Es gab nur wenige, die überlebten: Julius Silberbach kehrte 1948 zurück nach Schötmar und starb hier 1954. Er war Ende der 30er-Jahre nach Uruguay geflohen.
Willy Eichmann aus Schötmar konnte sich vor den Nazis verstecken. Er starb 1955 - der letzte Jude, der auf dem jüdischen Friedhof an der Oerlinghauser Straße begraben wurde.
Das Stadtarchiv sucht Fotos aus der Zeit 1945 bis 1948/1949. Weil damals das Fotografieren verboten war, liegt keine Aufnahme aus der Zeit der britischen Besatzung vor. Stadtarchivar Franz Meyer ist unter (05222) 4839 zu erreichen.
Salzuflen@lz-online.de
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