www.hiergeblieben.de

Die Glocke , 22.11.2005 :

(Enniger) Professor Walter Nowojski: "Dieses Erbe hat mich nie wieder losgelassen"

Enniger (cj). "Ehrlich hat Victor Klemperer geschrieben. Das macht seine Tagebücher so einmalig", ist Professor Walter Nowojski überzeugt. Minutiös habe Klemperer die Herrschaft der Nationalsozialisten dokumentiert - und weder negative Eindrücke noch positive Erfahrungen verdrängt. Diese Tagebücher haben Professor Nowojski begeistert. In einem faszinierenden und nachdenklich stimmenden Vortrag berichtete der Wissenschaftler am Samstagabend beim 190. Dielenabend in der Pfarrhaustenne in Enniger über das Tagebuch Klemperers.

"Ich konnte den lateinischen Titel LTI nicht verstehen. Darum habe ich mit 17 Jahren zum ersten Mal ein Buch von Victor Klemperer gelesen", sagt Nowojski. Später habe er als Student Klemperers Vorlesungen in Berlin besucht und sei von dem Romanistikprofessor begeistert gewesen. "Klemperer konnte in nur eineinhalb Zeilen seine Leidensgefährten lebendig werden lassen", erklärte Nowojski anerkennend.

Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor Klemperer wegen seiner jüdischen Abstammung die Professur. "Klemperer war bewusst mit den Deutschen in den Ersten Weltkrieg gezogen, bezahlte Kirchensteuern an die Evangelische Kirche, doch die Nazis sahen ihn als Juden an", verdeutlicht Nowojski. Sein einziger Vorteil sei gewesen, dass er mit einer Nicht-Jüdin verheiratet war.

Nach und nach hätten die Nationalsozialisten immer mehr Verbote für Juden erlassen: "Juden durften keine Zeitung mehr lesen, keine Bücher ausleihen und auch kein Papier oder Stifte besitzen", zählte der 75-jährige Nowojski auf. Dennoch habe der Verfolgte seine Eindrücke protokolliert - minutiös und vor allem selbstkritisch. "Victor Klemperer ist derjenige, der in seinem eigenen Tagebuch am negativsten dargestellt ist", bemerkt Professor Nowojski einen großen Unterschied zu anderen Tagebüchern.

Nowojski stammt aus Berlin. 1978 hörte er erstmalig vom Erbe Klemperers, von mehr als 16.000 handgeschriebenen Tagebuchseiten, von unzähligen Einzelschicksalen, die Klemperer in seinen Texten erwähnt. "Dieses Erbe hat mich nie wieder losgelassen", erklärt der Professor. Noch zu DDR-Zeiten begann er, das Tagebuch aufzuarbeiten. Die Arbeit faszinierte ihn so sehr, dass er auch die schwierigsten Hürden meisterte: "Klemperer schreibt beispielsweise: Bolschewismus = Faschismus. Das hätte ich in der DDR niemals veröffentlichen können." Kurz vor seinem Tod habe Klemperer so unleserlich geschrieben, dass Nowojski drei Wochen benötigt habe, um eine Viertelseite Originaltext zu entziffern.

Doch Nowojski arbeitet unermüdlich. Mehrere Tagebücher Klemperers hat er bereits herausgegeben und denkt trotz seiner 75 Jahre noch lange nicht ans Aufhören. Als nächstes möchte er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse über Klemperer veröffentlichen. Nowojski: "Eigentlich ist mein Plan, alle Gefährten von Klemperer aufzuspüren, leichtsinnig. Doch vor allem für jüngere Generationen müssen diese einmaligen Texte einfach veröffentlicht werden."


glocke-online@die-glocke.de

zurück