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Zeitung für den Altkreis Lübbecke / Neue Westfälische , 19.11.2005 :

Letzte Ruhe unter schwarzem Marmor / Mitglieder einer weit verzweigten Sinti-Familie bestatten seit 1917 ihre Toten auf dem Lübbecker Friedhof

Von Silvia Stieneker

Lübbecke. Am Totensonntag gedenken wieder viele Menschen ihrer verstorbenen Angehörigen auf dem Lübbecker Friedhof. Doch nicht nur alt eingesessene Lübbecker, sondern auch etliche Angehörige eines weitverzweigten Sinti-Clans haben dort ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die Gräber mit den prunkvollen Marmorplatten und Fotoplaketten fallen auf. Doch wie sind diese Angehörigen des "fahrenden Volkes" eigentlich nach Lübbecke gekommen?

Es begann im Jahr 1917, mit dem Tod von Meisel Schmidt. Schmidt war ein reicher Sinto, der in Lübbecke unter dem Namen "Zigeunerfürst" bekannt war. Jahr für Jahr bezog er Winterquartier im Bereich der Kreuzung Mindener Straße/Heuweg. Hier lagerte die Familie Schmidt mit Pferd und Wagen – von den Lübbeckern argwöhnisch bestaunt, aber doch toleriert.

Als Schmidt starb, wurde er in Lübbecke bestattet, so wie viele andere aus seiner Familie später auch. Meisel Schmidts Grab an einem der Hauptwege an der Westseite des Friedhofs zeugt von seinem Reichtum: Eine glänzende schwarze Marmorplatte bedeckt die steinerne Grabstätte, und ein großer schwarzer Obelisk krönt das elegante Ensemble. Obelisken fand man damals besonders schick, konnte man so doch seinen Wohlstand auch über den Tod hinaus demonstrieren.

Grabplakette als Zeichen der Liebe und Lebenslust

Gleich nebenan liegt das Ehepaar Loni und Feigeli Blum, das ebenfalls zu Meisel Schmidts Großfamilie gehörte. Loni starb 1990, ihr Mann Feigeli 2000. Eine kleine Plakette zeigt das Paar im Tangoschritt – ein Beweis ihrer Liebe und ein Zeichen der Lebenslust.

Auch die Familien Weiß und Drollmann, deren Gräber ähnlich aussehen, gehörten zum Sinti-Clan Schmidt. Dass Meisel Schmidts Angehörige in Lübbecke eine Grabstätte kaufen konnten, war 1917 etwas Besonderes, denn in vielen Städten waren die nicht sesshaften Sinti nicht gerne gesehen, und es gab viele Vorurteile.

Die Familie von Meisel Schmidt war katholisch, aber die Riten der Sinti im Zusammenhang mit dem Tod weisen kulturelle Eigenheiten auf: So werden Sinti nicht direkt in der Erde bestattet, sondern immer in steinernen Gruften. Bei einer Sinti-Bestattung kommen oft Hunderte Menschen zusammen. Die Beerdigungsgäste verleihen ihrer Trauer laut schreiend und weinend Ausdruck.

"Die spielen so Herz zerreißende Geigenmusik, die drückt richtig auf die Tränendrüse", berichtet der katholische Pfarrer Werner Rüsche, der schon einige Sinti-Beerdigungen durchgeführt hat. Der pompöse Blumenschmuck der Gräber sei immer überwältigend. Die Trauernden bewerfen den Sarg mit Erdklumpen. All diese Rituale stoßen oft auf Unverständnis und Ablehnung. Nicht so in Lübbecke.

"Es ist eine Besonderheit dieser Stadt, dass die Menschen immer sehr tolerant waren", sagt Stadtheimatpfleger Günther Niedringhaus. "Diese Familie wusste das zu schätzen." In der NS-Zeit wurden die Sinti-Gräber – anders als in vielen Städten – nicht zerstört.

Auch heute noch werden manche Mitglieder des Clans in Lübbecke bestattet, obwohl die Familie inzwischen über ganz Deutschland verstreut lebt. Zu Allerheiligen treffen sich die Angehörigen auf dem Lübbecker Friedhof.

Sie legen Blumen nieder, zünden Kerzen an und trinken einen Schluck auf das Wohl der Verstorbenen. So sind die Nachfahren des "Zigeunerfürsten" immer noch mit der Stadt Lübbecke verbunden.

19./20.11.2005
lok-red.luebbecke@neue-westfaelische.de

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