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WebWecker Bielefeld , 07.01.2004 :

Alltägliche Grausamkeiten aus der Milchkanne

Von Manfred Horn

Zur Eröffnung der Ausstellung "Oneg Schabbat" sprach Ingrid Strobl. Die Wissenschaftlerin und Autorin mehrerer Bücher über den jüdischen Widerstand in der NS-Zeit betonte eben diesen der Menschen im Warschauer Ghetto, der schließlich 1943 in einem Aufstand mündete. Sie berichtete aber auch darüber, dass die meisten Menschen dort "normal auf eine anormale Situation" reagiert hätten. Will sagen: Selbst als der Mehrheit der Ghettobewohner deutlich wurde, dass für sie der Tod durch Verhungern oder durch Transport in Vernichtungslager vorgesehen war, waren die meisten nicht in der Lage, sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen. Jedenfalls keine Grund für Psychologisierung, die oft genug dafür her halten muss, die Juden als Opfervolk, als Lämmer, die sich willenlos zur Schlachtbank führen ließen, zu beschreiben. Die Bedingungen für Widerstand waren schwierig, es gab wenig Waffen, die polnische Untergrundarmee mied in der Regel eine Zusammenarbeit. Die meisten Menschen im Ghetto kannten nur noch ein Ziel: den täglichen Überlebenskampf zu bestehen, Nahrung zu bekommen.

Das ist dennoch Widerstand gab, ist demnach alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein Teil davon ist ein Untergrundarchiv. Die Idee dazu hatte Emanuel Ringelblum. Der Historiker versammelte eine konspirative Gruppe um sich herum. Jeden Samstag, daraus leitet sich auch der Name der Gruppe "Oneg Sabbat", "Freude das Samstags" ab, trafen sich Schriftsteller, Geistliche, Lehrer und Sozialarbeiter, um an einer Chronik des Grauens zu arbeiten. Politisch gehörten sie völlig unterschiedlichen Richtungen an, das Interesse an der Chronik einte sie. Gesammelt wurden zwischen 1940 und 1943 über 25.000 Blätter und 70 Fotos. Die Chronik des Grauens war dabei eine Sammlung des Alltags: Zusammengetragen wurden sowohl amtliche Dokumente wie auch persönliche Dokumente einzelner Ghettobewohner. Ausweise, aber auch Schulaufsätze und Tagebücher gehörten dazu. Auf diese Weise dokumentierte die Gruppe die wirtschaftliche und kulturelle Tätigkeit im Ghetto.

Oneg Schabbat sammelte die Unterlagen selbst, bekam auch vieles zugesteckt. In Anbetracht des Todes vertrauten viele Ghettobewohner der Gruppe ihre persönlichen Unterlagen an. Und manchmal schwärmten Gruppenmitglieder aus, um in der Ghettobevölkerung Fragen zu stellen. Das Forschungsprojekt trug den Namen "Zweieinhalb Jahre (Krieg)". Ein wissenschaftliches Vorhaben unter schwierigsten, illegalen Bedingungen, das Oneg Schabbat nicht mehr Ende bringen konnte.

Oneg Schabbat sammelte auch Nachrichten über umliegende Ghettos in Polen. Als die Deportationen begannen, schlug die Gruppe Alarm und informierte unter anderen die polnische Exilregierung in London. Viele der Oneg Schabbat-Mitglieder nahmen am Aufstand im Ghetto teil, viele überlebten ihn nicht. Oneg Schabbat-Gründer Ringelblum wurde am 7. März 1944 von der deutschen Polizei in seinem Versteck entdeckt und getötet. Von Ringelblums engeren Mitarbeitern überlebten nur drei Personen.

Was aber blieb, war das Archiv. Die Gruppe hatte es gut versteckt. Man mauerte das Material unter anderem in zwei großen Milchkannen im Keller einer Schule ein. Gut zwei Drittel des Archivs konnte so nach dem Krieg geborgen werden. Heute ist das sogenannte "Ringelblum-Archiv" das Herzstück des Archivs des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Inzwischen ist die Sammlung auf der UNESCO-Liste "Memory of the word", ein papiernes Weltkulturerbe.

Die aktuelle Ausstellung kann auf 40 Quadratmetern nur ein Ausschnitt des Materials zeigen. Das aber ist sehenswert: Viele oft alltägliche Zeugnisse sind dokumentiert, die eine Normalität im Ausnahmezustand spiegeln. Auch im Ghetto gab Bekanntmachungen, Dokumente. Die Nazis mussten die Ghettobevölkerung steuern, dazu brauchte man eine funktionierende Öffentlichkeitsarbeit. Auf der anderen Seite die letzten Zeugnisse: Briefe und Fotos von Menschen, die wussten, zumindest aber ahnten, dass ihr Tod bald kommen wird.

Einziges Manko der Ausstellung: Sie wirkt unsystematisch. Eine Einführung in die Gruppe fehlt am Eingang der Ausstellung. Ein Text über die Gruppe Oneg Schabbat findet sich, aber eher am anderen Ende des Raums. Andererseits ist es sicherlich eine schwierige Aufgabe, einen Zettelkasten zu systematisieren. Damit würde ihm auch der Charakter einer Mikro-Geschichte genommen. Die Ausstellung ist auf jeden Fall zu empfehlen.

Die Ausstellung "Oneg Schabbat" ist zu sehen im Saal 3 der Werretalhalle in Löhne. Die Werretalhalle befindet sich im Zentrum, vom Bahnhof aus sind es zwei Minuten Fußweg. Die Ausstellung ist noch bis zum 22. Januar, dienstags bis freitags von 11 bis18 Uhr und samstags von 10 bis 13 Uhr geöffnet. Gruppenbesuche sind möglich, Anmeldung bitte bei Arbeit und Leben im Kreis Herford, Telefon 05732-100603.

Im Rahmen der Ausstellung finden zwei Veranstaltungen statt: Am Dienstag, 13. Januar wird um 18 Uhr der Film "Der SS-Mann Josef Blösche - Leben und Sterben eines Mölders" gezeigt, anschließend kommt es zu einer szenischen Lesung aus dem Stück "Korczak und die Kinder" der Realschule Bünde. Am Donnerstag, 22. Januar, 20 Uhr, singt das Duo David Schwackenberg und Johannes Schäfermeyer Lieder aus den Konzentrationslagern. Ort ist jeweils die Werretalhalle.


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