Mindener Tageblatt ,
17.09.2005 :
"Mit der Thora einen Lebenspfad entwerfen" / Harald Scheurenberg berichtet von der Thora der Petershäger Synagoge und ihrer Bedeutung im jüdischen Glauben
Woher sie gekommen ist und was mit ihr geschah, als die Synagoge in der Goebenstraße im Jahr 1938 während des Novemberpogroms der Nazis geplündet und teilweise zerstört wurde, ist unbekannt, erklärt Harald Scheurenberg, einer von wenigen Juden in der Stadt Petershagen. Nach dem Krieg sei sie plötzlich wieder aufgetaucht. "Sie könnte aus der vorherigen Synagoge stammen, aber selbst die Bemühungen mehrerer Experten konnten die Herkunft nicht klären."
"Die Thora ist für jeden Juden heilig", erklärt er die Bedeutung der Schriftrollen im Judentum. Mit ihr solle der Mensch einen Lebenspfad entwickeln. Sie lehrt, "dass der Mensch da ist, um gut zu tun und fordert, dass er sich an die göttlichen Gebote hält".
Die Thora entspricht dem, was die Christen unter dem alten Testament verstehen. Am Schabbat und an Feiertagen werde sie, berichtet Harald Scheurenberg, im Gottesdienst aus dem Thoraschrein herausgehoben, um aus ihr vorzulesen. Der Schabbat als Gottesdiensttag sei übrigens nicht wie im Christentum der Sonntag, sondern der Samstag. "Für einen Juden ist der Sonntag ein normaler Arbeitstag."
Wie das Testament im Christentum werde bei den Juden die Thora innerhalb eines Jahres komplett gelesen - allerdings nicht auf Deutsch, sondern in hebräischer Sprache. "Jeder gläubige Jude lernt Hebräisch. Die Thora soll von jedem in der Sprache gelesen werden können, in der sie geschrieben wurde." Die Beschäftigung mit dem Wort Gottes sei sehr intensiv und erfordere ständiges Hinterfragen.
Als Beispiel nennt er die Speisegebote, bei denen es nicht darum gehe, welche Lebensmittel ernährungswissenschaftlich oder hygienisch bedenklich sind oder einmal waren. "Vielmehr geht es um den Gehorsam gegenüber Gottes Wort. Darum, dass der Mensch nicht alles für sich beanspruchen darf und nicht im Übermaß leben soll."
Als eine Besonderheit nennt er die herausragende Rolle der Frau. So entscheide sich zum Beispiel an der Religionszugehörigkeit der Mutter und nicht des Vaters, ob jemand Jude sei oder nicht. "Die Frau steht über dem Mann. Er muss viel mehr dienen als sie." Außergewöhnlich ist auch, dass die Thora den Gemeindemitgliedern erlaubt, ihre Rabbiner selbst zu wählen. Allerdings gestalten die Gläubigen mittlerweile in vielen Fällen ihren Gottesdienst ohne Rabbiner. "Zum einen, weil sie die hebräische Sprache sprechen und die religiösen Unterweisungen selbstständig ausführen können. Zum anderen, weil in Deutschland nur etwa 20 Rabbiner auf rund 200 jüdische Gemeinden kommen", berichtet Harald Scheurenberg. "Die Gläubigen arbeiten immer mit der Thora und das vor allem in Gemeinschaft. Es ist wichtig, um den Horizont zu erweitern und den Geist wachzuhalten."
Die Thora der Petershäger Synagoge wird wohl zu gottesdienstlichen Zwecken nicht mehr dienen, da das Gebäude aus jüdischer Sicht kein Gotteshaus mehr ist.
Anders als sein Vater, der die Synagoge vor dem Zweiten Weltkrieg noch besucht hat, geht Harald Scheurenberg mit den übrigen rund 100 Juden des Kreises Minden-Lübbecke in die Mindener Synagoge. So, wie die Petershäger Synagoge jetzt genutzt wird, nämlich als Informations- und Gedenkstätte, ist die jüdische Gemeinde laut Harald Scheurenberg einverstanden.
17./18.09.2005
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