Neue Westfälische ,
05.01.2004 :
"Folter nur gelegentlich" / Studienreise von Bielefelder Studenten nach Izmir
Von Matthias Jäger
Bielefeld/Izmir. Mit "Asylrechts- und Menschenrechtsfragen am Beispiel der Türkei" beschäftigte sich eine Tagung an der Universität Bielefeld. Anschließend machte sich eine Gruppe von Bielefelder Jura- und Politikstudenten auf die Reise, um sich selbst ein Bild zu verschaffen. Matthias Jäger, 28 Jahre alt, der in Bielefeld Jura und Mittelamerikanistik studiert, berichtet von der Studienfahrt.
"Menschenrechte? Gibts die da?" Die meisten Bekannten reagieren mit Sarkasmus, wenn sie hören, man fahre nach Izmir, um sich nach eingehender wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Thema (siehe nebenstehenden Artikel: Menschenrechte in der Türkei - eine Tagung) vor Ort einen Eindruck von Menschenrechten und Menschenrechtsarbeit in der Türkei zu verschaffen.
Zu tief sitzt das Bild von einem Staat mit demokratischen Defiziten, einer übermächtigen Armee und einem Polizei- und Justizapparat, in dem Folter und Willkürentscheidungen an der Tagesordnung sind.
Die Türkei tut einiges, um ihr ramponiertes Image in Menschenrechtsfragen aufzupolieren und sich als moderner demokratischer Staat in einem großen Europa zu präsentieren. In Gesprächen mit Vertretern der Izmirer Anwaltskammer, mit Flüchtlingshilfegruppen oder kritischen Universitätsdozenten verhärtet sich jedoch der Eindruck: die Reformpakete, die die türkische Regierung dazu geschnürt hat, und die in der Theorie einen beträchtlichen Fortschritt bedeuten, sind vielfach nicht das Ergebnis von Entwicklungen in der Türkei, sondern des Drucks der EU.
Wann sie daher wirklich umgesetzt und in der letzten ostanatolischen Polizeistube ankommen werden, steht dahin. Die Türkei - das sind nicht nur die drei modernen Millionenstädte Istanbul, Ankara und Izmir und die ägäischen Urlaubsorte, sondern auch der rückständige ländliche Osten. Daran erinnern den Besucher spätestens die bettelnden Kinder auf den Straßen der Städte oder die Inlandsflüchtlinge in den Elendsvierteln, die sich wie Gürtel um die Metropolen legen, was auf Deutsch "über Nacht gebaut" bedeutet.
In den Gecekondus leben Großfamilien aus den kurdischen Siedlungsgebieten Anatoliens unter Plastikplanen und kämpfen im Sommer gegen den Staub, im Winter gegen den Schlamm.
Viele dieser Eindrücke verstören, hat man doch kaum drei Flugstunden zurückgelegt. Es braucht eine Weile einzuordnen, was man hört. Ein Strafrichter legt darauf Wert, dass Folter in türkischen Haftanstalten nicht systematisch, sondern nur in Einzelfällen angewandt wird. Ärzte und Psychologen, die Folteropfer behandeln, berichten von einer kurdischen Mutter, deren Tochter in ihrem Heimatdorf Opfer einer Massenvergewaltigung durch türkische Soldaten wurde.
Menschenrechtsaktivisten werden mit Hunderten von Prozessen überzogen, um sie an ihrer Arbeit zu hindern. Ein Kriegsdienstverweigerer musste für zwei Jahre ins Gefängnis, weil er jede Form von organisierter Gewalt ablehnt; in der Türkei gibt es keinen Zivildienst.
Wenn einer eine Reise tut, können auch diejenigen, die am Reisezielort leben, etwas erleben. Die wenigsten türkischen Gesprächspartner hatten erwartet, bei der angekündigten Reisegruppe aus Deutschland auf eine Generation von Studenten zu treffen, deren Wurzeln nicht nur zwischen Kiel und Konstanz, sondern auch in der Türkei, Marokko, dem Iran, in Russland oder auf Jamaika liegen.
Die religiöse Bindung einzelner Reisteilnehmer warf schon im Vorfeld eine aktuelle Frage auf. Während Deutschland über das Kopftuch einer Lehrerin im Klassenzimmer diskutierte, ist die Lage in der Türkei, in der sich 98 Prozent der Bevölkerung zum Islam bekennen, eindeutig: Frauen mit Kopftuch dürfen in vielen türkischen Universitäten das Universitätsgelände nicht betreten, geschweige denn an Vorlesungen oder Prüfungen teilnehmen, was für alle öffentlichen Gebäude und auch für das Bekleiden öffentlicher Ömter gilt. Würden einige Teilnehmerinnen der Studienreise Schwierigkeiten bekommen?
In dieser Frage erwies sich Izmir als vergleichsweise liberales Pflaster. Die Entscheidung, das Kopftuch-Verbot durchzusetzen, bleibt dort dem einzelnen Hochschullehrer überlassen.
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