www.hiergeblieben.de

Der Patriot - Lippstädter Zeitung , 12.09.2005 :

"Wir haben etwas verloren" / Eine Radtour aus Anlass des Tages des offenen Denkmals führte zu einigen der letzten Spuren jüdischen Lebens in Lippstadt

Lippstadt. Das einstige Zentrum jüdischen Lebens in Lippstadt befindet sich hinter einem Bauzaun. Er umstellt heute jene freie Parzelle an der Kreuzung von Stiftstraße und David-Gans-Straße, von der aus man auf die Westmauer des zurückliegenden Synagogengebäudes blicken kann. Vor der früher reich geschmückten Fassade sind inzwischen vier Garagen und ein Wohntrakt errichtet worden. Eine Bronzetafel erinnert an die Pogromnacht des Jahres 1938, rechts daneben droht ein Schild auf einem blank polierten Tor mit Eisenzinken widerrechtlich Parkenden kostenpflichtiges Abschleppen an.

"Auf jüdischen Spuren" zu wandern, ist mühselig, denn sie sind selten und versteckt. Nur gut, wenn man Hans Christoph Fennenkötter dabei hat. Er führte nämlich gestern Mittag unter diesem Motto gut drei Dutzend Bürger zielsicher zu vier bedeutenden Stationen jüdischer Tradition in Lippstadt. Anlass war der Tag des offenen Denkmals, zu dem der Vorsitzende des Heimatbundes gemeinsam mit Denkmalpfleger Dieter Mathmann eine entsprechende Radtour vorbereitet hatte.

Selbst dem erfahrenen Heimatforscher Fennenkötter bescherte die Tour noch neue Erkenntnisse. Bei der Planung hatten Mathmann und er erstmals jenes kleine Bauwerk im Garten der Synagoge in Augenschein genommen, das bislang als Gartenhäuschen angesehen wurde. Dabei fanden die beiden heraus: Tatsächlich handelt es sich um den ehemaligen Umkleideraum für Rabbiner samt Waschgelegenheit und zwei Toiletten, die auch von der Gemeinde genutzt werden konnten. "Ich denke, dass das jetzt auch unter Denkmalschutz steht", erklärte Fennenkötter auf die Frage einer Teilnehmerin. "Auf jeden Fall", sekundierte Mathmann prompt. Er will das Haus nun noch gründlich dokumentieren.

Der Denkmal-Tag ermöglichte den Bürgern den seltenen Anblick der Synagogen-Rückseite. Die ansonsten verborgene Ostmauer war früher die wichtigste: An ihr befand sich der Thora-Schrein, der stets gen Jerusalem gerichtet ist.

"Die Einweihung 1852 war ein riesiges Spektakel", berichtete Fennenkötter. Man habe eigens einen fortschrittlichen Oberrabbiner aus Magdeburg geladen. "Die Lippstädter Gemeinde war eine sehr assimilierte, sehr liberale Gemeinde." Damals gab es hier gut 200 jüdische Familien. Kaum ein Jahrhundert später war fast alles vernichtet. In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 brannte die Synagoge aus, SA und SS hinderten die Feuerwehr daran, mehr als nur die Nachbargebäude zu löschen. Heute wird die alte Synagoge als Lagerraum genutzt.
Zwei Lippstädter ließen infolge der Pogrome ihr Leben: Die Brüder Ludwig und Max Levy wurden, wie Fennenkötter erzählte, zunächst ins KZ Sachsenhausen deportiert, wo sie quälenden Stehappellen ausgesetzt waren. Am Jahresende seien sie in ihre Heimat entlassen worden – mit der Maßgabe, das Land möglichst schnell zu verlassen. Dazu kam es nicht mehr: Binnen weniger Tage verstarben beide Brüder. Erst vor wenigen Jahren habe Max Levys Tochter Ursula einen Grabstein aufstellen können. "Und der steht genau hinter Ihnen", sagte Fennenkötter, als die Tour an ihrer dritten Station, dem Jüdischen Friedhof an der Lipperoder Straße, angekommen war. Geschichte war plötzlich gegenwärtig.

Fennenkötter kann sehr eindringlich erzählen. Er kennt sich aus im Judentum und er weiß es den Menschen näher zu bringen – ob er nun am Erinnerungszeichen vor der Marienkirche, der ersten Station, über den großen Gelehrten David Gans spricht oder am Jüdischen Friedhof in Lipperode, der letzten Station, über die Komplexität der hebräischen Sprache. "Die Erinnerung", sagt Fennenkötter, "ist für die Juden sehr wichtig". Doch nicht nur für sie: "Wir haben ja etwas verloren: eine Jahrtausende alte Tradition."


Redaktion@DerPatriot.de

zurück