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Bielefelder Tageblatt (BW) , 09.09.2005 :

(Bielefeld) Verlassen von der ganzen Welt / Mirjam Pressler las aus Hetty E. Verolmes Biografie "Wir Kinder aus Bergen-Belsen"

Von Maria Frickenstein

Bielefeld. Sie lebten in Amsterdam. Anne Frank und Hetty Esther Werkendam kannten sich nicht. Doch sie teilten das Schicksal vieler jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Anne Frank war 15 Jahre, als sie im Konzentrationslager Bergen-Belsen unter katastrophalen Lebensbedingungen an Thyphus starb. 15 Jahre war auch Hetty E. Werkendam (spätere Verolme). Doch wie durch ein Wunder konnte sie gemeinsam mit mehr als 40 Kindern in Bergen-Belsen überleben.

Am 15. April 1945 kamen die britischen Soldaten. Sie befreiten die Inhaftierten und so auch die Kinder, die im Kinderhaus bis auf ein Mädchen alle überlebten. Hetty kehrte mit ihren Brüdern nach Amsterdam zurück und durfte sich freuen: Auch ihre Eltern hatten überlebt. Die Briten baten Hetty um ein Interview, das die BBC in die ganze Welt ausstrahlte.

Auf Wunsch der Soldaten begann das 15-jährige Mädchen gleich nach der Befreiung mit der Aufzeichnung ihrer Geschichte. Aber erst 55 Jahre danach sollte ihre Autobiografie "Wir Kinder von Bergen-Belsen" in Australien erscheinen. Nach dem frühen Tod ihres Mannes fand Verolme hier mit ihrer Tochter in den fünfziger Jahren ein neues Zuhause.

Wieder einmal scherte sich der Buchladen Eulenspiegel nicht um Bestseller-Listen und lud die Übersetzerin dieser wichtigen Erinnerungen ein. Mirjam Pressler, Schriftstellerin, vielfache Übersetzerin aus dem Hebräischen und Niederländischen, zudem Trägerin des "Deutschen Bücherpreises" 2004, las im Historischen Museum parallel zur Anne-Frank-Ausstellung aus der Autobiografie.

Zudem gab Pressler zahlreiche Informationen über das 60 Kilometer nordöstlich von Hannover in der Lüneburger Heide gelegene Konzentrationslager. "Bergen-Belsen war seit 1942 ein jüdisches Austauschlager", erklärt Pressler. Hier lebten ausländische Juden in Baracken unter menschenunwürdigen Umständen und wurden bei Bedarf gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.

Bergen-Belsen bestand aus streng getrennten Teillagern. In dem größten, dem Sternlager, lebte Hetty 14 Monate im Kinderhaus mit den anderen Kindern zwischen zehn Monaten und sechzehn Jahren. Ihre Mütter und Väter hatte die SS abtransportiert. Wie die von der ganzen Welt verlassenen Kinder überleben konnten, ist bis heute nicht gänzlich zu erklären. "Sie bekamen kein regelmäßiges Essen, mussten nicht zum Appell, fielen scheinbar aus aller Ordnung heraus", so Mirjam Pressler. Verolme schildert den Massen-Transport in das Durchgangslager Westerbork und nach Bergen-Belsen.

Während Hetty mit den hungernden und schreienden Kindern nach einer nächtlichen Irrfahrt in einem Schuppen haust, singen SS-Männer in der benachbarten Baracke Nikolauslieder. Von jetzt auf gleich ist die Kindheit verloren. Selbst die Kleinsten ahnen die Gefahr und alle akzeptieren Hetty als einzige Vertrauensperson und Ersatzmutter.

Verolmes Autobiografie schildert die enorme Solidarität der Kinder untereinander und erzählt von dem Kindlichen in all der Hölle. Hetty besinnt sich ihrerseits auf ihre wichtige Rolle, versorgt die Kinder wie eine Erwachsene und holt sie immer wieder durch geistige Beschäftigung aus der wachsenden Lethargie. Weil sie älter ist, wird sie zum Schrecken aller kurzfristig von ihren jüngeren Brüdern und den anderen Kindern getrennt. Später stehen den Kindern noch Schwester Luba und einige Helferinnen zur Seite.

Betty E. Verolme: "Wir Kinder von Bergen-Belsen". Beltz Verlag, 341 Seiten, 22,90 Euro.


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