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Bielefelder Tageblatt (BW) , 08.09.2005 :

"Wir saßen alle in einem Boot" / Zeitzeugen berichten auf Einladung der Kolpingfamilie über Kriegsende in Jöllenbeck

Von Sylvia Tetmeyer

Jöllenbeck. Was ist aus den alten Nazis geworden? War die Bevölkerung am Ende kriegsmüde? Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich nach den Vorträgen von Günter Tiemann (74) und Walter Schlüter (73). Die Kolpingfamilie hatte die Zeitzeugen in das Graf-von-Galen-Haus eingeladen. Thema war das Kriegsende in Jöllenbeck.

"In der letzten Kriegszeit war die Luft ständig voll von Flugzeugen", erinnert sich Walter Schlüter. "Am Belzweg hat uns einmal ein Tiefflieger entdeckt und auf uns geballert. Da haben wir uns seitlich in die Büsche geschlagen."

Ereignisse wie diese hätten die Kindheit geprägt. Dabei sei die Versorgungssituation bis Ende des Krieges erträglich gewesen ("Wir konnten alle noch satt werden in Jöllenbeck"). Günter Tiemann berichtet, dass die Gebrüder Wertheimer die einzigen Juden im Ort waren. "Sie mussten 1936 unter Druck ihre Weberei veräußern. Ein Bruder ist ausgewandert, der andere hat sich das Leben genommen", so der ehemalige Jöllenbecker Bezirksvorsteher. Die rund 25 Zuhörer erfuhren einiges über Rektor Angermann, der später entnazifiziert wurde und über die Schließung mehrerer Volksschulen. "Wir waren 75 Kinder in einer Klasse", sagt Tiemann.

Genau erinnert er sich an die letzten Kriegstage. Um Jöllenbeck zu verteidigen, seien zwei Panzersperren aufgebaut worden. Eine befand sich auf Höhe der Bäckerei Brinkmann (heute Bäckerei Nitschke). "Hans Brinkmann war ein cleverer Bursche. Er hat ein großes weißes Bettlaken an einer Stange befestigt und aus dem Fenster gehängt. Da waren die Amerikaner aber noch 300 Meter entfernt." Alles in allem habe der Bäckermeister großes Glück gehabt, dass er nicht an Ort und Stelle erschossen worden sei.

Dafür wurde er im Keller des Amtsgebäudes eingekerkert. Wenig später tönte es von dort: "Willi hol mich hier raus!" Was der Angesprochene Willi Böckstiegel auch tat. Mit einer Brechstange befreite er den Inhaftierten aus seiner misslichen Lage.

"Es gab damals immer noch Leute, die an den Endsieg glaubten", sagt der langjährige SPD-Kommunalpolitiker. Ein Lehrer habe versucht, mit der Panzerfaust gegen die vorrückenden Kettenfahrzeuge vorzugehen: "Er wurde im selben Moment durchlöchert." Drei Tage und Nächte seien die Panzer durch Jöllenbeck gerollt. Dabei kam es zu einigen Bränden. "Es durfte zuerst nicht gelöscht werden", berichtet Stadt- und Ortsheimatpfleger Hans Klöne. Denn die Feuerwehr trug noch Uniformen mit dem Nazi-Emblem.

"War die Bevölkerung am Ende kriegsmüde oder haben einige bis zum Schluss noch an den Sieg geglaubt?", will ein Zuhörer wissen. Aus Sicht der beiden Zeitzeugen war die Kriegsmüdigkeit das vorherrschende Gefühl. "Ab 1944 war ja nachts nicht mehr an Schlaf zu denken, weil es rund um die Uhr Fliegeralarm gab", erzählt Walter Schlüter.

Eine Opposition zu den Nazis habe jedoch nur die Kirche gebildet. "Pfarrer Kläßmann befand sich ständig auf einer Gratwanderung", sagt Günter Tiemann, der den Mut des Theologen bis heute bewundert.

"Wie ist die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien gelaufen?", "Wurde das eher totgeschwiegen?" Dies Fragen beschäftigen einige Gäste. Hier erzählen die Jöllenbecker Zeitzeugen, dass es praktisch keine Aufarbeitung gegeben habe, damit es nicht zu Brüchen in den Familien komme. "Das Überleben war in diesem Moment wichtiger. Wir saßen alle in einem Boot", so Hans Klöne.


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