Tageblatt für Enger und Spenge ,
20.08.2005 :
(Spenge) Zwangsarbeiter sorgten für turbulente Tage / Im letzten Teil der NW-Serie zum Kriegsende vor 60 Jahren erinnert sich Else Omannsiek
Spenge (KF). Leider haben Leo und Jakob nie wieder etwas von sich hören lassen, bedauert Else Omannsiek. Dabei kann sich die rüstige 83jährige Dame auch noch 60 Jahre nach Kriegsende gut an die beiden belgischen Zwangsarbeiter erinnern. Hat sie ihnen doch ihre aufregendsten und spannendsten Tage ihres Lebens zu verdanken.
Leo, von Beruf Bäcker, arbeitete damals in der Bäckerei von Meister Willi Koring in der Poststraße/Ecke Marktstraße. Er war mitten im Krieg Korings zugewiesen worden. Zusammen mit seinem Landsmann und Freund Jakob, der in Enger bei der Kleinbahn tätig war, wohnte Leo in einer Stube unter dem Dach. Das war nicht selbstverständlich.
In der Griesenbruchstraße lag eines von drei Gefangenenlagern in Spenge. "Ich musste jeden Tag einen Bollerwagen voller Brot in die Griesenbruchstraße bringen", erzählt Else Omannsiek. Die Spenger Bäckerfamilie war sehr human. "Bei Korings hatte man Familienanschluss, wer dort arbeitete gehörte auch dazu", sagt die 83-jährige Spengerin.
Sie selbst war 1937 als 15jährige Waise aus Hattingen nach Spenge gekommen. Das Arbeitsamt hatte sie als Hausmädchen mit Familienanschluss an Korings vermittelt. Die beiden jungen Belgier aßen auch mit am großen Tisch. "Aber sobald jemand zur Tür herein kam, schnappten sie sich ihren Teller und verschwanden in der Backstube", erinnert sich Else Omannsiek. Man konnte auch in Spenge nie wissen.
Im März 1945, kurz vor Ostern, wurden alle Gefangenen und Zwangsarbeiter zusammen geholt und begleitet von zwei Hilfspolizisten und einem Gendarm in Richtung Bünde abtransportiert. "Sie sollten wohl weg gebracht werden bevor die Amerikaner kamen", vermutet die Zeitzeugin.
Gendarm Kleinebenne aber kannte Leo und Jakob ganz gut. Kaum hatte die Kolonne Spenge verlassen, raunte er den Beiden zu, zurück zu bleiben und bei einer günstigen Gelegenheit schickte er sie mit der unmissverständlichen Aufforderung "Ab nach Hause!" fort. Das ließen sich die beiden Männer nicht zweimal sagen und verschwanden in der Dunkelheit.
"Mitten in der Nacht klopfte es an meinem Fenster und jemand rief laut 'Mademoiselle Else, Mademoiselle Else, machen Sie schnell die Tür auf, hier sind Leo und Jakob'", erinnert sich Else Omannsiek noch gut an die Geschehnisse jener Nacht. Als das Hausmädchen die bekannten Namen hörte, hüpfte sie nach einer Schrecksekunde aus dem Bett und ließ sie durch die Hintertür schnell ins Haus.
Am nächsten Morgen berichtete sie Korings von den nächtlichen Ereignissen. Die brachten den beiden Flüchtlingen Essen und bis zum Einrücken der Amerikaner wurden sie nicht mehr gesehen. Leo und Jakob blieben die ganze Zeit auf ihren Zimmern. Jedesmal wenn jemand herein kam, schlugen die Herzen im Haus Koring einige Takte schneller. "Aber glücklicherweise hat keiner mehr nachgefragt, wo die beiden stecken", erinnert sich Else Omannsiek an die aufregenden und spannenden Tage Anfang April 1945.
Wenige Tage nach Kriegsende, zogen vier Besatzungssoldaten auf die Koringsche Veranda. Von dieser Wachstube aus hatten sie einen prima Überblick über die Poststraße. Nachts schliefen die vier in der Backstube auf Matratzen. "Die haben sich aber ganz anständig benommen. Wir haben gar nicht gemerkt, das sie Besatzung waren", sagt Else Omannsiek. Vielleicht auch ein Verdienst von Leo. Er konnte sich mit den Soldaten unterhalten und hatte sie von Keller bis zum Dachboden durch das gesamte Haus geführt.
Die beiden Freunde sind erst noch einige Wochen in Spenge geblieben. "Jakob ist zwischendurch nach Hause gefahren, aber noch einmal zurück gekommen. Dabei hat er sich total verfahren, er hat Herford mit Erfurt verwechselt", denkt die Spengerin an die turbulenten Tage nach Kriegsende zurück und schmunzelt ein wenig.
Leo hat auch noch einige Wochen in der Bäckerei gearbeitet, bis er im Frühsommer 1945 wieder in die Heimat zurückkehrte. "Wir haben leider nie wieder von ihnen gehört", bedauert Else Omannsiek.
Zusammen mit Frieda Oswald, der Schwester von Frisör Sonnenschein in der Nachbarschaft, hatte sie sich selbst noch im Mai auf die Reise nach Hattingen zu ihren Geschwistern begeben. Mit allerlei Essbarem voll bepackt fuhren die beiden Frauen mit dem Fahrrad über 170 Kilometer ins südliche Ruhrgebiet. "Damals gab es keine Post und wir hatten mehrere Wochen lang nicht mehr voneinander gehört", erklärt sie die abenteuerliche Tour.
Die Autobahn in Richtung Ruhrgebiet war proppevoll. Soldaten, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren auf den Weg nach Hause, Städter auf dem Weg auf's Land auf der Suche nach Essbarem. Bei allem Chaos sind die beiden Spenger Frauen wohl behalten in Hattingen angekommen. Da Frieda Oswald noch einige Tage bei einer Schwester in Unna blieb, radelte Else Omannsiek allein zurück nach Spenge. "Eine solche Fahrt habe ich später nie wieder unternommen. Aber damals war ich jung und habe nicht lang nachgedacht. Die Zeiten waren einfach turbulent", sagt Else Omannsiek.
20./21.08.2005
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