Tageblatt für Enger und Spenge ,
18.08.2005 :
(Enger) "Ich erlebte den Einmarsch zweier Besatzungsmächte" / Die gebürtige Niederschlesierin Dorothea Plaumann erinnert an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 60 Jahren
VonKlaus Frensing
Enger. Dorothea Plaumann erlebte das Kriegsende auf der Flucht. Als elfjährige Schülerin war sie mit ihrer Schwester und ihrer Mutter aus ihrem Heimatdorf zwischen Liegnitz und Glogau in Niederschlesien in Richtung Westen geflohen.
"Zum Kriegsende hatten wir kaum noch Unterricht Auf dem Schulhof waren tiefe Gräben ausgehoben, laufend gab es Fliegeralarm, und wir mussten in den Gräben Schutz suchen. Fast alle Lehrerinnen und Lehrer waren sehr nervös. Das übertrug sich natürlich auch auf uns Schulkinder", erinnert sich die Engeranerin.
Die heran nahende Front war auch der Grund dafür, dass Dorothea Plaumann nicht zum Gymnasium gehen durfte. Die Stadt mit der Realschule lag einfach näher, und es gab fast täglich Tieffliegerbeschuss auf die Züge. "Die Leute erzählten, dass die Flieger so niedrig flogen, dass man die Piloten in der Kanzel sah", erzählt sie.
Auch der Gesangsunterricht auf einem Konservatorium in der 50 Kilometer entfernten Bezirksstadt Liegnitz – sie hatte die Aufnahmeprüfung schon bestanden – wurde ihr aus diesem Grund verboten .
Ende Januar 1945 packte die Familie, verbrannte das obligatorische Hitlerbild und zog bei einem befreundeten Bauern ein, der näher zur Dorfmitte wohnte.
Der große Reisekoffer, der so schwer war, dass ihn nur zwei Personen tragen konnten, wurde, "als wir mal kurz nicht aufgepasst haben", vor der Eingangstür des Bauernhofes gestohlen.
Die deutschen Soldaten zogen eines Nachts heimlich ab, und das Dorf lag plötzlich zwei Tage lang unter pausenlosem Beschuss. Dann kehrte eine nahezu unheimliche Ruhe ein.
"Plötzlich ritten Kosaken laut schreiend in unser Dorf. Darauf kamen russische Soldaten mit Panjewagen. Danach Soldaten zu Fuß. Vier Tage waren wir unter russischer Besetzung", sagt sie, und erzählt von schrecklichen Erlebnissen.
Zwei 13-jährige Mädchen aus dem Haus, eins mit Zöpfen, wurden von zwei Rotarmisten zum Gräben schaufeln abgeholt. Sie kamen heulend wieder. Gräben schaufeln brauchten sie nicht – sie hatten Bratkartoffeln bekommen und sind vergewaltigt worden. Die Frauen haben sich dann nach diesem Vorfall das Gesicht geschwärzt, um alt zu wirken. "Meine Mutter, damals 45 Jahre alt, habe ich vor einer Vergewaltigung bewahrt. Ich habe mich laut schreiend an sie geklammert, als ein Offizier sie abholen wollte. Er bedeutete mir, los zu lassen und drohte meine Mutter zu erschießen und setzte seine Pistole an ihre Schläfe. Ich schrie immer mehr und klammerte meine Hände um ihren Hals. Da setzte er die Pistole ab und ging", erzählt sie.
"Vier Tage später standen plötzlich wieder deutsche Soldaten vor uns. Wir gingen zurück in unser großes Haus am Waldesrand. Rund ums Haus lag das teure Silberbesteck zerbrochen, von allen Daunenbetten war das Inlet aufgeschlitzt und eingekotet. Nach ein paar Tagen zogen sich die deutschen Soldaten wieder zurück." Diesmal nahmen sie die Dorfbewohner in Wehrmachtswagen mit.
Ein riesiges Lager mit Drei-Etagen-Feldbetten und verstopften Toiletten war acht Tage lang in Großenhain bei Dresden die erste Station der Flucht. Anschließend wohnten die Flüchtlinge 14 Tage bei einer Sängerin. "Sie war selbst bettelarm. Wir hungerten noch mehr. Wenn sie zu einer Beerdigung zum Singen ging, liefen wir Kinder in die Küche, holten aus dem Mülleimer die Kartoffelschalen und pellten den Rest heraus. Wir stammten aus einem sehr wohlhabenden Haus und kannten keinen Hunger; das war eine sehr bittere Zeit für uns", denkt Dorothea Plaumann zurück .
Im Februar 1945 erlebte sie den Luftangriff auf Dresden. "Der Himmel war mit 'Christbäumen' übersät. Es war in unserem zwölf Kilometer entfernten Großenhain taghell. Wir hörten auch den Beschuss und rochen den Rauch. Alles rannte aus dem Luftschutzbunker und wollte sich das schreckliche Schauspiel ansehen. Total übermüdet und tief eingeschlafen gab es bald wieder Fliegeralarm. Wieder in den Keller. Wir erlebten den zweiten Großangriff auf Dresden", schildert die Augenzeugin diese unvergessliche Nacht.
In einem Viehwaggon ging ein Sammeltransporter nach Oberfranken in Bayern, in ein Dorf in der Nähe von Bamberg. Die Menschen dort waren sehr arm. Die Flüchtlingsfamilie gewann an Ansehen, als sie eine Nerzjacke, eine Pelzjacke und Mako-Brokatdamast-Bettwäsche auf die Leine hingen. Statt ihrer zwei kleinen Zimmer bekam sie nach kurzer Zeit ein Häuschen zugeteilt.
"Das Essen holten wir uns aus dem Wald. Dort gab es riesige Felder mit Blaubeersträuchern. Jeden Tag gab es Blaubeeren. Mit meiner Freundin ging ich einige Male zu Bauern, um zu betteln, nach einem Trum (Stück) Brot oder einem Ei, bis uns ein Bauer mit einem großen Hund vom Hof jagte. Ich kam lange Zeit nicht über den Vorfall hinweg", erzählt Dorothea Plaumann.
Eines Tages hängten die Dorfbewohner weiße Laken aus den Fenstern, und die Amerikaner fuhren mit ihren Jeeps, kaugummikauend, durch das Dorf. "Wir Kinder wurden beschenkt und sahen zum ersten Mal einen Farbigen. So erlebten wir den Einmarsch zweier Besatzungsmächte, der Russen und der Amerikaner", sagt die Engeranerin.
Ein Jahr dauerte der Aufenthalt in Oberfranken. Das Flüchtlingsmädchen lernte, wie man ganz schnell Blaubeeren pflückte, Ra-Schwammerl (Pilze am Wiesenrain) suchen und Kühe hüten. Dafür bekam sie beste Vollmilch von den Bauerntöchtern. Auch tauschten die öfters ihr gutes Wurstbrot ein gegen ein Sirupbrot ein.
Das Schulklassenzimmer war mit acht Klassen bestückt. "Ich lernte wieder fast nichts", bedauert Dorothea Plaumann. Mehrere Kinder fehlten öfters. Sie mussten "weiße Ruben ruppen".
"Von 1945 habe ich eine tägliche unangenehme Erinnerung: zwei Überbeine auf dem Fußrücken. Meine Füße wuchsen, mein einziges Paar Schuhe wurden zu klein und spannte mir den Fußspann so ein, dass je ein Überbein entstand", sagt Dorothea Plaumann.
Über den Bruder der Mutter kam die Zusammenführung mit ihrem Vater zustande. Er hatte bei seinem Schwager, der in der Nähe von Berlin lebte, Unterkunft gefunden. Wieder ging es mit einem Sammeltransport in den Kreis Nienburg an der Weser. Dort konnten sie gleich ein Haus beziehen.
Post von ihrer Freundin aus Bamberg bekommt Dorothea Plaumann immer noch, zum Geburtstag und zu Weihnachten, und das schon seit 59 Jahren.
Abschließend sagt sie: "Anscheinend hat die Schulmisere jener Jahre meinen Wissensdurst so beflügelt, das ich mein Leben lang nie aufgehört habe zu lernen und von der Postangestellten bis zur Heilpraktikerin acht Berufe gelernt habe. Seit zweieinhalb Jahre studiere ich Spanisch."
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