Bielefelder Tageblatt (BW) ,
18.08.2005 :
(Bielefeld) Als Jugendliche in der NS-Zeit / Sigrid Lichtenberger schreibt über ihre Vergangenheit
Von Damaris Lehmann
Bielefeld. Die Nazi-Zeit wollte Sigrid Lichtenberger in ihrer Autobiografie "Mein Ich im Gefüge der Zeit – Jung sein in den Jahren 1923 bis 1945" nicht erklären. "Vielmehr bin ich der Frage nachgegangen, was ich als Kind und Jugendliche eigentlich mitbekommen habe", sagt die 82-Jährige. Offen schreibt sie auf 162 Seiten über ihre damaligen Erfahrungen und Gefühle.
Zehn Jahre lang hat die Bielefelder Autorin immer wieder daran geschrieben, jetzt ist es im Pendragon-Verlag erschienen. "Ich bin meinem eigenen Leben nachgegangen und habe versucht zu klären, wie man damals gelebt hat", sagt Lichtenberger, die bereits Bücher mit Lyrik und Prosa veröffentlicht hat.
Bei Hitlers Machtergreifung noch ein Kind, erlebte sie die Schulzeit in ihrer Geburtsstadt Leipzig während der nationalsozialistischen Herrschaft. In ihrer Umgebung wurde über die politische Situation nicht gesprochen. "Außerdem waren sich meine Eltern nicht einig", erzählt sie. "Mein Vater war für das Vaterland, er dachte national, wenn auch nicht nationalsozialistisch. Meine Mutter war kritischer."
Diesen Zwiespalt spürte sie, als sie von einer jüdischen Schulfreundin eingeladen wurde und die Mutter ihr schließlich nur erlaubte, hinzugehen, wenn sie vor ihrem Vater wieder zu Hause wäre. Sie verstand nicht, was so schlimm daran sein sollte, dass ihre Freundin Anni Jüdin war.
"Ich wollte einfach nur mitmachen"
Sie sah Anni als ein Mädchen wie jedes andere. Sigrid Lichtenberger war Kind, dachte als Kind und schreibt aus der damaligen Sicht. Sie erzählt von kleinen Momentaufnahmen und von ihrer Zeit bei der Hitler-Jugend. "Ich wollte einfach nur mitmachen, zu den anderen gehören", sagt sie heute. Nach dem Abitur kam der Arbeitsdienst. Sie empfand es als Abenteuer, es war spannend, etwas anderes zu erleben. Jede Woche schickte sie in dieser Zeit ihren Eltern einen Brief, persönliche Dokumente, die ihr geholfen haben, sich viele Einzelheiten wieder in Erinnerung zu rufen.
"Wir waren nicht zur Kritik erzogen"
Über manches wundert sich Sigrid Lichtenberger heute. "Selbstverwirklichung kannte man ja gar nicht wie im heutigen Sinne", erzählt Lichtenberger, die seit 52 Jahren in Bielefeld lebt, "trotzdem schrieb ich meinen Eltern nach Hause, sie sollten mir meine Gedichte schicken, ohne sie könnte ich nicht glücklich sein".
Seit ihrem 14. Lebensjahr verfasst sie Lyrik, das Schreiben spielte für sie immer eine große Rolle. "Die Gedichte waren eine Gegenwelt zum Nationalsozialismus", sagt sie, "da zeigte sich der wirkliche Mensch, nicht der angepasste, im Gleichschritt marschierende". Politisch waren ihre Texte aber nicht, sondern sie beschäftigten sich mit dem Persönlichen. Das Kleine war wichtig, am Großen wurde oft vorbei gelebt.
"Im Nachhinein frage ich mich, ob ich im Großen etwas hätte machen können", sagt sie, "aber mein Leben ist so verlaufen, dass ich nicht vor die Frage gestellt wurde, hilfst du oder nicht? Es war schon viel, wenn man von jemandem wusste, dass er die politischen Ereignisse als falsch ansah." Heute kann sie nicht verstehen, dass auch in engeren Beziehungen so wenig vom Krieg und den Kämpfen gesprochen wurde. "Manchmal war die Ahnung da, dass das, was da passiert, nicht richtig ist", erinnert sich Sigrid Lichtenberger, "aber wir waren nicht zur Kritik erzogen, es wurde so wenig hinterfragt."
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