Tageblatt für Enger und Spenge ,
16.08.2005 :
"Der 8. Mai 1945 war Niederlage statt Befreiung" / Der pensionierte Engeraner Lehrer Dieter Prasse erinnert sich an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren / Nachtrag zur NW-Serie
Von Klaus Frensing
Enger. Am 8. Mai 1945 endete offiziell in ganz Europa der Zweite Weltkrieg. In einer Serie hat die NW Enger/Spenge in den Wochen danach zahlreiche Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, die sich noch ganz persönlich an diese Tage und Wochen vor 60 Jahren erinnern können. Einige Folgen dieser Serie sind erst jetzt fertig geworden. Daher wollen wir sie unseren Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten, zumal die Serie insgesamt sehr gut in der Leserschaft angenommen worden ist. Heute erinnert sich der pensionierte Engeraner Lehrer Dieter Prasse:
"Den 8. Mai 1945 habe ich in Nord-Böhmen erlebt", sagt Dieter Prasse. Der gebürtige Ostpreuße hatte bis dahin schon eine kleine Odyssee erlebt. In Masuren aufgewachsen, flüchtete er damals – 14 Jahre jung – zusammen mit seiner Schwester und seinen Eltern am 18. Oktober 1944 vor der immer näher rückenden Roten Armee nach Schlesien zu den Großeltern.
Aber auch in Schlesien konnte die Familie nicht lange bleiben. Genau drei Monate nach ihrer ersten Flucht, am 18. Januar 1945, machten sich die sechs Prasses und die Großeltern bei eisigen Temperaturen mit Pferd und Wagen auf den Weg in Richtung Westen. "Bei 25 Grad minus über das Waldenburger Bergland", erinnert sich Dieter Prasse.
Die Kälte, der Hunger und die schreckliche Angst vor Tieffliegerangriffen waren ihre ständigen Begleiter auf dem langen und beschwerlichen Weg, der sie bis zum Dörfchen Koslau (Kreis Buchau) in Nordböhmen führte, wenige Kilometer vor der Grenze zu Bayern. Hier im Sudetenland blieben Prasses bis zum 9. Juni.
Zuerst besetzten die amerikanischen Truppen den Ort. "Sie schlugen ihr Lager am Ortseingang auf", sagt Dieter Prasse. Da er als einziger am Ort Englisch sprechen konnte, machte sich der 14-Jährige in vielen Dingen nützlich.
Die Rote Armee war aber nur wenige Kilometer entfernt und eines Tages waren die Amerikaner weg – und die Russen da. Vorher hatten Prasses bereits versucht, über die bayerische Grenze zu gelangen. "Die Amerikaner ließen aber keinen herüber", erinnert sich Dieter Prasse.
Anfang Juni wurde die Familie Prasse dann ausgewiesen. "Es hieß, alle Deutschen, die nicht von hier kamen, müssen raus! Als Flüchtlinge gehörten wir zu den ersten Deutschen, die Böhmen verlassen mussten."
Prasses hatten dennoch Glück im Unglück: "Das Verfolgen und das Morden fing wenig später mit der Vertreibung der Sudetendeutschen an." Mit drei Kinderwagen marschierte die ganze Familie los in Richtung Freiberg (Sachsen) und dann auf Görlitz zu. "Wir wollten wieder zurück nach Schlesien", sagt Prasse. "Unterwegs wurden wir öfter gefilzt und geplündert. Am schlimmsten aber war der Hunger. Meine Schwester und ich gingen betteln oder tauschen."
Unterwegs traf der kleine Treck Leute, die dringend davon abrieten, weiter nach Osten zu gehen. Prasses entschlossen sich, nach Neuruppin zu marschieren, wo ein Großonkel Förster war.
"Unterwegs haben wir viele schreckliche Dinge gesehen. Wir sind aber immer unversehrt davon gekommen. Ein Ereignis muss ich aber auch heute noch schildern. Auf unserem Weg in Richtung Berlin mussten wir im Spreewald ein Waldstück durchqueren. Schon vorher hatten Einheimische uns gewarnt, dass zwei 'Flintenweiber', Angehörige der Roten Armee, Durchziehende ausrauben. Mitten im Wald sahen wir dann, wie eine Frau ausgeraubt wurde. Mein Großvater, ein aufbrausender Mensch, ging auf die beiden Soldatinnen los, als sie seinen Wagen anfassten. Da legten sie das Gewehr auf ihn an. Nur das beherzte Eingreifen meines Vaters rettete die Situation, und wir konnten doch noch unversehrt weiter ziehen."
Am 9. Juli kamen Prasses in Langen (Kreis Neuruppin) an. Der Großonkel war ausgeplündert, die Großtante vergewaltigt worden. "Wir haben dort bei Bauern gewohnt. Eine neue Hungerzeit begann. Das ganze Leben drehte sich darum, Nahrung und Heizmaterial zu besorgen. Ähren lesen, Kartoffeln stoppeln oder einfach, wenn die aufgerodeten Kartoffeln über Nacht blank auf dem Acker liegen blieben, sie zu klauen", erzählt Dieter Prasse. "Mit Angeln und Fallen stellen wurde der Fleischbedarf gedeckt."
Dazu kam der politische Druck. Dieter Prasse hatte 1951 sein Abitur gemacht. Ein Studium an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin wurde ihm ohne Angabe von Gründen verweigert, sagt er. Er ging heimlich nach West-Berlin und machte dort seinen amtlich geprüften Dolmetscher. Kam dann aber nach Ostberlin zur Dolmetscherausbildung für Russisch. Als er für die kasernierte Volks-Polizei vorgeschlagen wurde, stand für ihn fest: "Ich haue ab!"
Am 2. März 1953 traf Familie Prasse in West-Berlin ein. Sein Vater entschied dann, nach Bielefeld zu gehen. "Dort ist Industrie und eine schöne Landschaft!" Über verschiedene Ausweichlager trafen Prasses 1954 im Lager in Vilsendorf ein. In Sennestadt bekamen sie eine Wohnung.
Dieter Prasse arbeitete als Dolmetscher und als Angestellter im Personalbüro bei einer englischen Einheit bis 1957. Da sein Ost-Abitur nicht anerkannt wurde, hatte er seine Reifeprüfung in Dortmund noch einmal abgelegt.
Bis 1960 studierte er an der damaligen Pädagogischen Hochschule Bielefeld und fing am 1. September 1960 seine dreijährige Referendariatszeit in Pödinghausen an. 1968 wechselte er dann an die Hauptschule Enger, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1993 tätig war.
Auch wenn Dieter Prasse durch den Krieg und die Nachkriegszeit einige Jahre verloren hat, zieht er eine positive Bilanz der schweren Jahre: "Bei allem Unglück wir haben Glück gehabt. Aus unserer Familie sind alle unversehrt geblieben. Und ich wollte immer Landlehrer werden", sagt der pensionierte Pädagoge, der die Natur so sehr liebt und den persönlichen Kontakt zu den Menschen schätzt.
Ein Urteil im Rückblick: Befreiung – ja oder nein? "Für die KZ-Häftlinge war der 8. Mai 1945 ganz sicher eine echte Befreiung. Wir haben es nicht so empfunden", sagt Dieter Prasse heute. "Wenn ich meine ganze Geschichte betrachte, habe ich den 8. Mai 1945 nie als Befreiung angesehen. Die Heimat verloren, Schul- und Spielkameraden und Verwandte verschleppt, verschollen und ermordet. Wir hatten damals den Eindruck einer Niederlage, des besiegt seins – aber mit dem Impuls, wieder neu anzufangen. Das hat einen beflügelt", sagt Dieter Prasse rückblickend. "Das Heimweh aber bleibt."
Bildunterschrift: Erinnerungen: Dieter Prasse hat nach einer jahrelangen Odyssee in der Folge des Zweiten Weltkrieges im ostwestfälischen Enger eine neue Heimat gefunden. Trotz alledem denkt er oft voller Heimweh an seine alte Heimat Ostpreußen zurück
lok-red.enger@neue-westfaelische.de
|